Barbara Perras-Emmer
Im Städtischen Kindergarten Parsberg werden seit sieben Jahren Dreijährige in allen Gruppen ( zur Zeit 3 Langzeit- und 1 Ganztagsgruppe mit teilweiser Wechselbelegung) betreut. Die Aufnahme erfolgt nicht nur bei der Neugruppenbildung im September, sondern auch während des Jahres am 3. Geburtstag des Kindes bzw. bei Bedarf jetzt noch früher. Die Anmeldungen für die Aufnahme während des Jahres liegen in der Regel bereits im Juli für das kommende Kindergartenjahr vor. Wir können seit Jahren Erfahrungen mit Kindern sammeln, die unseren Kindergarten vier Jahre lang besuchen und auch während der ersten und zweiten Klasse eine Unterbringung benötigen. Für behinderte, auffällige und entwicklungsverzögerte Kinder bieten wir Einzelintegration nach dem Bundessozialhilfegesetz an.
"Soziale Lernprozesse werden in altersgleichen Gruppen und in alters- und leistungsgleichen Gruppen eher vermieden, während unterschiedlich alte und erfahrene Kinder in ihrem Helfen und Helfenlassen wie von selbst in ihrer Sozialentwicklung gefördert werden (Nur wer hilft wird selbständig)" (Haberl 1995, S.11).
"'Selbst wenn wir tausend Kinder und einen Schulpalast hätten, würde ich meinen, es sei immer ratsam, Kinder eines Altersunterschiedes von drei Jahren beisammen zu haben,' sagt Maria Montessori und weist auf eine ganze Reihe von Bereicherungen der pädagogischen Palette hin: Die altersspezifischen Auffälligkeiten, mit denen sich Gleichaltrige gegenseitig induzieren, werden gedämpft. Der Anregungsreichtum, der das Lernen voneinander fördert, wird so groß wie in der Kinderstube der Familie. Das Denken der älteren Kinder ist dem der jüngeren noch sehr nahe, so dass sie ihnen zum 'Begreifen' verhelfen, während wir deren Intelligenz kaum zu erreichen wissen. Das ältere Kind fühlt sich als Beschützer des jüngeren, während es in der Gruppe der Gleichaltrigen leicht zu Rivalitäten kommt" (Haberl 1995, S. 26).
Kinder, die mit vielen Kindern in Kontakt kommen, haben die große Chance, von vielen Kindern zu lernen, sich auf sie einzustellen und dadurch flexibler zu werden. Das menschliche Gehirn ist bei der Geburt noch nicht fertig ausgebildet, sein intensivstes Wachstum erlebt es in der Kindheit. Beim Neugeborenen verfügt das Gehirn über weit mehr neuronale Verbindungen als im reifen Gehirn übrigbleiben, weil häufig benutzte Bahnen verstärkt und weniger gebrauchte abgebaut werden. Das Gehirn wird durch Erfahrungen geformt. Die Aufnahme von Dreijährigen und Jüngeren in den Kindergarten birgt nach unseren Erfahrungen kein größeres Risiko der Überforderung auf beiden Seiten als die Aufnahme von älteren Kindern. Alleine die Tatsache, dass die Kinder älter an Lebenstagen und -jahren sind, bedeutet nicht, dass sie weniger Zuwendung brauchen, den Trennungsschmerz leichter ertragen können oder keine Auffälligkeiten mitbringen. Mütter von Dreijährigen haben sich meist intensiver mit ihrer Bereitschaft zur Trennung auseinandergesetzt und wollen das Kind auch loslassen, was dem Kind das Zugehen auf Neues, Unbekanntes erleichtert.
"Trennungsängste sind ganz normal und werden fast immer früher oder später vom Kind selbst bewältigt, wenn es nicht von außen daran gehindert wird" (Dierks 1995, S. 91). Leichter fällt den Kindern und Müttern der Eintritt in den Kindergarten, wenn sie unsere Einrichtung bereits vom 14tägigen Müttertreff her kennen. Räume und Personal sind ihnen schon vertrauter. Furchtsame Kinder können ihre Ängstlichkeit nicht verringern, wenn sie von behütenden Müttern betreut werden, denn diese reagieren in der Regel nachsichtiger und unsicherer, wenn es gilt, Grenzen zu setzen. Die Großgruppe spaltet sich im Freispiel von selbst in Kleingruppen, Dreijährige erfahren in Untergruppen Geborgenheit.
Im Alter von drei Jahren sollte ein Kind Vertrauen in seine bisherigen Bezugspersonen gewonnen haben und dieses Vertrauen auf andere Erwachsene oder ältere Kinder übertragen können. Ist dies nicht der Fall, so liegt eine Störung vor, welche nicht durch den Aufschub des Kindergartenbesuchs allein behoben werden kann. Vielmehr können Eltern durch die Zusammenarbeit mit dem Fachpersonal im Kindergarten frühzeitig Rat und Unterstützung erhalten. Die Dauer der Behandlung eines Defizits wächst proportional mit dem Lebensalter: Je früher behandelt wird, desto kürzer ist die Behandlungsdauer.
Dreijährige beschäftigen sich gerne mit sich selbst. Häufig bekommen sie zu Hause wenig Zeit und Möglichkeit, eigene Erfahrungen aus erster Hand ohne Anleitung zu machen, weil Mütter glauben, sich ständig um das Kind kümmern bzw. es beschäftigen zu müssen. Mütter meinen genau zu wissen, was das Kind braucht, und lassen somit keine Eigentätigkeit zu. Nach meiner Auffassung holt sich ein gesundes Kind, was es braucht, wenn ihm die Möglichkeit und der Freiraum dazu geboten wird. Es ist sogar in der Lage, übergangene Entwicklungsschritte bei entsprechenden Anregungen und Gelegenheiten nachträglich einzuüben. Wurde das Krabbeln ausgelassen, weil es den Eltern wichtig schien, dass das Kind möglichst schnell aufrecht laufen lernte, kann das Kind dies in der Regel später nachholen, vielleicht angeregt durch ein Kind im Krabbelalter oder durch spezielles Material wie ein Rollbrett oder ein Kriechtunnel.
Keine Handlung ist sinnlos, wir sehen nur oft als Erwachsene keinen Sinn im Hinblick auf das "Endziel" dahinter. In unserer schnelllebigen Zeit kennen wir jedoch nicht die Anforderung, die in 10 oder 20 Jahren an unsere Kinder gestellt wird. Deshalb sollten wir versuchen, unseren Kindern ein höchstmögliches Maß an Flexibilität und Selbstbestimmung abzuverlangen, auch wenn dadurch der tägliche Umgang etwas schwieriger für Eltern und Erzieher wird.
Für die Integration von Dreijährigen in den Kindergartenalltag und in eine alters- und leistungsgemischte Gruppe können dieselben pädagogischen Konzepte wie bei jeder anderen Form von Eingliederung angewendet werden (von Behinderten, von Behinderung Bedrohten, von Anderssprachigen und Fremdkulturellen).
Die Altersmischung meint nicht nur zwei Jahrgänge (die "Kleinen" und die Vorschulkinder). Den Kindern soll wie in Mehrkindfamilien die Möglichkeit gegeben werden, so genannte "Sandwicherlebnisse" zu machen. Bei uns traten die Probleme besonders in dem Jahr des noch nicht Groß-Seins aber nicht mehr Klein-Seins auf. Die besondere Bedeutung liegt im breiter gefächerten Entwicklungs- und Bildungsgefälle der Einzelnen. Die Entverbalisierung und Versinnlichung des Lernens - "Nichts ist im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen war" (Löscher 1994, S. 9) - ermöglicht individuelles Lernen, verhindert Über- und Unterforderung, gibt jedem Einzelnen die Chance, die Intensität der erlebten Reize so zuzulassen, dass sie als positiv empfunden werden. Nur ein kleiner Teil der täglichen Erfahrungen der Kinder wird im Langzeitgedächtnis gespeichert; wir gehen davon aus, dass die angenehmen Empfindungen Vorrang haben. Die Kritik an der üblichen Kindererziehung richtet sich dagegen, dass sie fast ausschließlich durch Worte vermittelt wird.
Das Spiel als Spiel- und Spaß-Haben (Ayres 1992, S. 9) zuzulassen heißt nicht, versteckte Lernziele anbieten, sondern Spielen um des Spielens willen: lustbetont und zweckfrei. Alle unsere vielgerühmten Tisch- und Lernspiele sollen unsere Kinder viel zu früh ans Sitzen gewöhnen; andere Spiele werden als unsinnig deklariert. Werden Bälle aus dem Kugelbad oder Perlen aus der Tastkiste aus eigenem Antrieb sortiert, werten Eltern diese Leistung oft ab. Gleichzeitig erwarten sie jedoch, dass die Kinder die Farben benennen können. Benötigt ein Ding, welches nicht wahrgenommen und bearbeitet wurde, einen Namen? Bewegungsraum und Bewegungsspielraum anbieten, Bewegung nicht als Störung empfinden und sie als Ausdruck kindlicher Lebensfreude zuzulassen heißt, die Kinder selbsttätig sein lassen. Lernen ist nicht unmittelbar mit dem Sitzen verbunden, Konzentration hängt nicht von körperlicher Unbeweglichkeit ab, Sprache ist an den sicheren aufrechten Gang gekoppelt.
"Da die Gesellschaft auf die Schulen Druck ausübt, ihre Anstrengungen zu verstärken, um den Kindern das Lesen besser beizubringen, reagieren diese in der Weise darauf, dass sie versuchen, immer jüngeren Kindern - also bereits im Vorschulalter - das Lesen zu lehren. Bei einigen Kindern ist das Gehirn im Kindergartenalter bereits fähig, Lesen zu lernen. Bei anderen jedoch hat sich die Fähigkeit, die optische Verarbeitung des gedruckten Wortes in gesprochene Sprache zu übertragen, noch nicht entsprechend ausgebildet. Für diese Kinder bedeutet das ruhige Sitzen an einem Pult lediglich, dass ihnen die vestibulären, propriozeptiven und taktilen Erfahrungen vorenthalten werden, die sie zur Ausbildung der Lesefähigkeit im Gehirn benötigen" (Ayres 1992, S. 162f. vgl. Brüggebors 1992, S. 79ff.).
Die Bedeutung und Wirkung des Freispiels zu erkennen heißt, ihm einen größeren zeitlichen Umfang im Tageslauf zuzugestehen. Indirekte Methoden, die nicht von der Erzieherin unmittelbar angeleitet sind, bieten eine Vielfalt von Möglichkeiten, Lernchancen im Zusammenleben der Gruppe auszuschöpfen. Die daraus abgeleitete "Untätigkeit" der Erzieherin bietet Freiraum zum Beobachten und zur Arbeit in Kleinstgruppen. Die Angst, dass darunter das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Großgruppe leidet, ist unbegründet. Empirische Untersuchungen zu Gruppenerlebnissen gehen von Gruppen mit 8 bis 10 Kindern aus; diese Gruppenstärke ist in unseren Kindergärten ohnehin nur durch Teilung zu erreichen. Werden Kleingruppenerlebnisse subjektiv positiv empfunden, können diese Erfahrungen im Vorschulalter auf die Groß- bzw. Gesamtgruppe übertragen werden.
Intrinsische Motivation (Haberl 1995, S. 23) zu nutzen, setzt Eigentätigkeit der Kinder voraus. Kinder wollen ihre Umwelt erkunden, ihre Sinne erproben, experimentieren und forschen. Diese Selbsttätigkeit und Erfahrungen bieten dem Kind vielfältige Eindrücke, die über die Sinne aufgenommen, gespeichert und verarbeitet werden. Auf die so gewonnenen Erkenntnisse kann es in späteren Situationen wieder zurückgreifen. Das Kind forscht um des Forschens willen, nicht weil es eine - nicht in der Sache liegende - Belohnung für die Tätigkeit erwartet. Wie leicht fällt es auch Erwachsenen, für das Hobby statt für die Arbeit zu lernen. Von extrinsischer Motivation wird gesprochen, wenn das Kind für andere (z.B. um gelobt zu werden) oder für materielle Belohnung (Süßigkeiten, Geld) etwas tut. Lernt das Kind aus eigenem Antrieb und für die von ihm gewählte Aufgabe, gewinnt es leichter eine positive Arbeitshaltung und Leistungsmotivation. Durch freiwilliges Üben werden diese gefestigt; auf sie kann das Kind später in fremdbestimmten Situationen zurückgreifen. Unliebsame Aufgaben sollen nicht erspart bleiben, doch mit etwas guter Technik sind auch diese leichter zu meistern.
Auch Nachahmung trägt ihre Belohnung in sich. Das Kind übernimmt die Handlungsweisen des Vorbildes ohne ausdrücklichen Anreiz oder Zwang. Es bedarf keines Lobes, keiner Süßigkeiten und auch keiner Androhung von außen. Kinder lernen "unendlich lieber von Gleichaltrigen" (Pestalozzi, nach Haberl 1995, S. 37).
Leistungsförderung und Chancengerechtigkeit (Dichans 1993, S. 147ff. und 183ff.) finden vor allem durch die flexible Struktur des Freispiels statt. Ein pädagogisches Konzept, das Konflikte zulässt und Gruppenprozesse aufgreift, kann effektiver angewandt werden als Angebote mit Erfahrungen aus zweiter Hand (Erzählungen, Bücher, Fernsehen), weil größere Motivation vorliegt und das Interesse vom Kind ausgeht - vor allem aber, weil diese Situationen mit Bewegung und Wahrnehmungsreizen einhergehen und diese das Gehirn besser anregen. Erst erlebte Erfahrungen geben Büchern ihren Wert, wenn das Geschehen anhand von Bildern und Erzählungen wiederholt und verarbeitet werden kann. Der Situationsorientierte Ansatz (Krenz 1991, S. 84ff.) arbeitet vorrangig nach diesem Prinzip. Welche Freude kann einem Kleinkind vermittelt werden, wenn es die einfachen Dinge seines täglichen Gebrauchs im Bilderbuch wiederentdeckt. Je einfacher die Bilder seine Welt darstellen, um so häufiger wird das Buch betrachtet.
Zum Schluss stellt sich die Frage, ob die Umsetzung des Rechtsanspruchs nicht so kreativ und flexibel gestaltet werden kann, z.B. durch die Aufnahme Dreijähriger während des Jahres oder durch entsprechende pädagogische Arbeit in einer sehr selbständigen Gruppe, dass es für alle ein sinnvoller Rechtsanspruch sein kann:
- für die Eltern ein Kindergartenplatz,
- für die Dreijährigen und Jüngeren eine Lernchance,
- für die Gruppe eine Bereicherung,
- für die Erzieher eine Herausforderung,
- für die pädagogische Konzeption ein neuer Gesichts- und Ausgangspunkt.
Unsere Kinder sind stärker, aktiver, reicher, kompetenter ... als wir glauben (Reggio Emilia). Sie haben das Recht, als eigenständige Subjekte individueller, juristischer, bürgerlicher und sozialer Rechte anerkannt und aktiv an der Ausbildung ihrer Identität, Autonomie und Kompetenz beteiligt zu werden. "Dies setzt eine höhere Qualität des Menschenrechts auf Individualität und zwischenmenschliche Beziehungen voraus" (Reggio, Ausstellung zur Pädagogik der Kindertagesstätten in Reggio Emilia, Weiden 1996). Erzieherinnen haben das Recht, sich an der Ausarbeitung und Differenzierung des konzeptionellen Rahmens für pädagogische Ziele, Inhalte und Methoden zu beteiligen. Eltern haben das Recht, die Kinder einer öffentlichen Einrichtung anzuvertrauen, sich für eine Pädagogik der Partizipation zu entscheiden. Eine kooperative Interaktionskultur ist eine rationale und für alle vorteilhafte Wahl, denn alle streben nach reichhaltigeren und sinnvolleren Erfahrungen (Reggio a.a.O.).
Literatur
Ayres, Jean A.: Bausteine der kindlichen Entwicklung . Berlin, Heidelberg, New York, 2. Auflage 1992
Brüggebors, Gela: Einführung in die Holistische Sensorische Integration. Dortmund 1992
Dichans, Wolfgang: Der Kindergarten als Lebensraum für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Köln, 2. erweiterte Auflage 1993
Dierks, Hannelore: Laß mich los, sonst falle ich. Düsseldorf, 1. Aufl. 1995
Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz. Rheda-Wiedenbrück 1996
Haberl, Herbert (Hrsg.): Integration - die Vielfalt als Chance Möglichkeiten der Montessori-Pädagogik. Freiburg im Breisgau 1995
Krenz, Armin: "Der Situationsorientierte Ansatz" im Kindergarten. Freiburg im Breisgau 1991
Löscher, Wolfgang (Hrsg.): Vom Sinn der Sinne. München, 1. Aufl. 1994
Tomatis, Alfred A.: Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - Die Anfänge der seelischen Entwicklung. Reinbek bei Hamburg 1990
Zimmer, Renate: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Freiburg im Breisgau 1995