Martin R. Textor
Die eine Position: Ein einjähriges Kind oder gar ein Baby in Fremdbetreuung geben? So etwas kann doch nur eine Rabenmutter tun! Wissen diese Frauen nicht, wie wichtig die Mutter-Kind-Bindung ist? Nur wenn sich die Mutter sensibel, fürsorglich und liebevoll um ihr Kleinkind kümmert, fühlt es sich sicher und geborgen; nur dann entwickelt es sich zu einem glücklichen Menschen. Aber in einer Kinderkrippe mit vielen anderen Babys und fremden Betreuerinnen, die nur ihren Job machen und Babys wie am Fließband füttern und windeln - das kann doch nicht für ein Kind gut sein! Und dann noch dieser fortwährende Wechsel von Betreuungspersonen. Ein Baby gehört zu seiner Mutter!
Die andere Position: Im Jahr 2013 soll bundesweit für jedes dritte Kind unter drei Jahren ein Betreuungsplatz vorhanden sein; um dieses Ziel zu erreichen hat der Bund ein Sondervermögen in Höhe von 2,15 Milliarden Euro für Investitionen geschaffen und Zuschüsse für die Betriebskosten von 1,85 Milliarden Euro eingeplant. "Jetzt können die Angebote geschaffen werden, die sich die jungen Eltern vor Ort bereits seit langem wünschen. Gute Betreuungsangebote für Kinder sind nicht nur ein immer wichtigerer Standortvorteil für jede Stadt und Gemeinde. Sie spielen auch eine Schlüsselrolle, wenn wir den Menschen Mut machen wollen, ihre Kinderwünsche zu verwirklichen, wenn wir dauerhaft Kinderarmut reduzieren, ihre Teilhabe an frühkindlicher Bildung sichern und jungen Eltern die schwierige Balance zwischen Familie und Beruf erleichtern wollen", so Familienministerin Ursula von der Leyen. Laut der Antwort (16/6895) der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP (16/6723) entscheide grundsätzlich weniger die Form der Betreuung "als vielmehr deren pädagogische Qualität" über die Entwicklung der Bindungsbeziehungen und die Lernfortschritte von Kindern.
In der letztgenannten Aussage ist das Kriterium zu finden, mit dessen Hilfe sich die konträren Positionen der Befürworter und Gegner einer Fremdbetreuung von unter Dreijährigen versöhnen lassen: die Qualität der Betreuung. Ein Baby oder zweijähriges Kind, das vernachlässigt oder gar misshandelt wird, das ohne nennenswerte Ansprache und Förderung in einer Randgruppe oder Unterschichtfamilie heranwächst, das aufgrund der Berufstätigkeit seiner (allein erziehenden) Mutter mal von der Großmutter, mal von Nachbarn betreut wird oder das Eltern hat, die depressiv, suchtkrank oder aus anderen Gründen erziehungsunfähig sind (usw.), ist sicherlich genauso schlecht dran wie ein gleichaltriges Kind, das lieblos von einer Tagesmutter versorgt wird, in der großen Gruppe einer weit altersgemischten Kindertageseinrichtung "untergeht" (d.h. in einem Kindergarten, der einzelne unter Dreijährige aufnimmt) oder bei offener Gruppenarbeit verloren durch die Räume krabbelt (also in einer Kindertageseinrichtung, die dauerhaft oder für mehrere Stunden am Tag die Gruppen auflöst).
Familienministerin von der Leyen versicherte: "Wir schaffen flexible und hochwertige Angebote, die sich die Eltern wirklich auch wünschen und die Kinder brauchen." Das Bundesfamilienministerium wird deshalb ab 2008 mit gezielten Programmen die pädagogische Qualität in der Kindertagespflege und der Ausbildung der Erzieher/innen stärken. "Wir sind dabei, gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Konzepte zu erarbeiten, damit künftig jedes Kind in seiner individuellen und sozialen Entwicklung gefördert werden kann. Im Fokus stehen dabei eine bessere Sprachförderung sowie gelungene Übergänge vom Elternhaus in die Kindertagesstätte und vom Kindergarten in die Schule", so von der Leyen. "Nur so können wir echte Chancengleichheit in der frühen Bildung schaffen."
Was sind nun die entscheidenden Kriterien, nach denen sich die Qualität der Betreuungsangebote für unter Dreijährige beurteilen lassen, seien es Kinderkrippen, altersgemischte Einrichtungen, Tagespflege oder Familienerziehung? Im Grunde sind es immer dieselben Faktoren:
- Jedes unter dreijährige Kind braucht zwei oder drei verlässliche "Bindungspersonen", also Menschen, zu denen es eine enge Beziehung aufbauen kann, die ihm Zuneigung und Liebe entgegenbringen, die seine Bedürfnisse einfühlsam erkennen und befriedigen. Dies können Eltern, Verwandte oder konstante Betreuer/innen sein.
- Das Kleinkind sollte in einem "Sprachbad" aufwachsen; die Betreuungspersonen sollten seine und ihre Aktivitäten mit Worten begleiten, es immer wieder direkt ansprechen. Sie müssen außerdem fähig sein, sich auf seine begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten einzustellen.
- Das Kind sollte allseitig gefördert werden, also z.B. Möglichkeiten für vielfältige Sinneserfahrungen, für eine selbständige Bewegungsentwicklung, für das Erkunden von Innen- und Außenräumen (Spielplatz, Garten, Park, Wald), für kreative Betätigungen und für soziale Kontakte haben. Es benötigt viele Anregungen für seine kognitive Entwicklung. Seine individuellen Neigungen, Interessen und Bedürfnisse sollten beachtet werden.
- Besonders wichtig ist ausreichend Zeit für das Freispiel - alleine oder mit einigen wenigen anderen Kindern - mit vielfältigen altersgemäßen Materialien.
In Kindertageseinrichtungen sollte es auch Funktionsbereiche und Rückzugsmöglichkeiten (z.B. Ruheecken) geben. Weitere wichtige Qualitätskriterien sind eine möglichst niedrige Erzieherin-Kind-Relation und eine kleine Gruppengröße. Die Fachkräfte (aber auch Tagespflegepersonen) sollten Fortbildungen zur Arbeit mit unter Dreijährigen besucht haben, die Kinder genau beobachten und ihre Entwicklung dokumentieren sowie im Sinne einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft viel Wert auf den Austausch mit den Eltern legen.
Genauso wie viele Familien unter Dreijährigen keine guten Entwicklungsbedingungen bieten, erfüllen viele Kinderkrippen, altersgemischte Einrichtungen und Tagesmütter diese Kriterien nicht. Professor Wassilios E. Fthenakis erteilte in Focus-online vom 23.09.2007 dem größten Teil der deutschen Kindertagesstätten nur die "Note 3 bis 4"; er beklagte u.a. das Fehlen eines Curriculums für die Erziehung und Bildung von Kindern unter drei Jahren, die unzureichende Ausbildung von Erzieher/innen (die bisher kaum für die Arbeit mit unter Dreijährigen qualifiziert wurden) sowie die mangelnde Förderung der Kleinkinder im mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Bereich - obwohl sich schon Zweijährige z.B. sehr für Fahrzeuge oder Naturphänomene interessieren würden.
Eltern, die ihr Kind fremdbetreuen lassen wollen, sollten also genau die unterschiedlichen Angebote vor Ort prüfen. Eine erste Orientierung ermöglichen die pädagogischen Konzeptionen von Kindertageseinrichtungen. Der nächste Schritt sind ausführliche Gespräche mit den Erzieher/innen oder Tagespflegepersonen darüber, wie sie z.B. mit den Kindern umgehen und sie in ihrer Entwicklung fördern. Am besten können Eltern aber die Qualität des jeweiligen Angebots prüfen, wenn sie hospitieren dürfen - also für mehrere Stunden beobachten können, was in der Kindertageseinrichtung oder in der Wohnung der Tagesmutter passiert, wie sich die Kinder verhalten und ob sie sich wohl fühlen. Schließlich sollte eine "sanfte" Eingewöhnung möglich sein, d.h. in den ersten Tagen und bei Bedarf darüber hinaus sollte ein Elternteil im Vorraum oder im Umkreis (per Handy erreichbar) verbleiben und das Kind abholen können, wenn es anfängt, untröstlich zu weinen.
Ansonsten bleibt noch zu klären, welche Art der Kindertagesbetreuung den Bedürfnissen der Eltern am besten entspricht. Stärken der Tagespflege gegenüber der Kinderkrippe liegen in der größeren Flexibilität der Betreuungszeiten, der kleineren Gruppe, der intensiveren Zuwendung der Betreuungsperson, der familialen Umgebung und dem geringen Infektionsrisiko. Schwächen sind hingegen die Instabilität dieser Betreuungsform, die kleinere Zahl der Spielkameraden (falls überhaupt mehrere Kinder betreut werden), die schlechtere Ausstattung mit Spielsachen, die unzureichende pädagogische Aus- und Fortbildung der meisten Tagespflegepersonen und die mangelnde Überwachung durch den Staat. Stärken weit altersgemischter Gruppen sind, dass unter Dreijährige mit bis zu sechs Jahre alten Kindern Kontakt haben, die als Verhaltensmodelle dienen und ihre Entwicklung stimulieren. Schwächen dieser Betreuungsform sind die relativ großen Gruppen, die unzureichende Qualifizierung der Fachkräfte für die Arbeit mit (den wenigen) sehr kleinen Kindern und die Schwierigkeit, bei einer so großen Altersspanne pädagogische Angebote für alle Kinder zu machen (deshalb wird zumeist mit Kleingruppen gearbeitet, was in der Summe aber die "Bildungszeit" reduziert).
Zum Schluss bleibt noch darauf hinzuweisen, dass je jünger das Kind ist, umso kürzer die Betreuungszeit sein sollte (20 bis maximal 30 Stunden). Manche Fachleute empfehlen, ein Kleinkind nicht vor 18 Monaten in eine Kinderkrippe zu geben - wenn es also bereits an seine Mutter sicher gebunden ist. Die Gruppen seien einfach noch zu groß, das Personal noch zu wenig qualifiziert und zu wenig kompetent im Umgang mit Babys...