Aus: Kindertageseinrichtungen aktuell, KiTa NRW 2010, Heft 11, S. 230-233 (leicht modifizierte Fassung)
Detlef Diskowski
Der Hort als Einrichtung der Kindertagesbetreuung wird von der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen, und - schlimmer noch - auch die Fachwelt scheint ihn vergessen zu haben. Dabei ist die Konzentration auf die anderen Altersgruppen, und - wenn die Kinder im Grundschulalter mal Erwähnung finden - auf die sog. "Ganztags"schule kaum zu rechtfertigen. Schon der zahlenmäßige Umfang der Kindertagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter sollte uns veranlassen, dem Hort wieder die Beachtung zu zollen, die ihm gebührt.
Lehrstelle in der fachpolitischen Debatte
Unsere fachpolitische Debatte kreist seit ein paar Jahren um die Kleinkinder. Der Ausbau U3 ist das wichtigste Thema - in seinen quantitativen Dimensionen als Frage nach Platz- und Personalbedarf und in seinen qualitativen Dimensionen als Frage nach angemessenen Konzepten, nach der fachlichen Vorbereitung des Personals und zur veränderten Balance von Bindung und Bildung... und vor allem auch als Debatte um die angemessene Personalausstattung.
Lehrstelle in der bildungspolitischen Debatte
Die bildungspolitische Debatte ist fokussiert auf die Fünfjährigen. Zwar ist inzwischen vom "Forschergeist in Windeln" die Rede, aber so richtig bedeutsam wird es doch erst beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Selbst Bildungspolitiker, die es eigentlich besser wissen müssten, reden (gegen alle Erkenntnisse über die Sprachentwicklung) von der "sprachlichen Frühförderung" und meinen die "zusätzlichen Sprachfördermaßnahmen oder Vorlaufkurse" (1) als Maßnahmen für die Kinder im letzten Kindergartenjahr. "Frühkindliche Bildung" ist auch aus Sicht der Kultusminister die "Vorschulerziehung" - und inzwischen bürgert sich wieder der Begriff "Vorschulzeit" für diese ersten und lernintensivsten Jahre der kindlichen Entwicklung ein. Unversehens verengt sich damit der Blick auf die als relevant erachtete Altersgruppe der Fünfjährigen. Der Begriff "Vorschulzeit" macht zudem das Referenzsystem für die frühkindliche Bildung deutlich; Ziel und Maßstab der Bildungsprozesse ist eben die Schule, und dann ist die Zeit davor die "Vor-Schule".
Leerstelle in der öffentlichen Wahrnehmung
Sogar statistische Berichte vernachlässigen die Altersgruppe der Kinder im Grundschulalter. Dies gilt insbesondere für die Kindertagesbetreuung der Grundschulkinder, aber es gilt auch für die Gesamtbetrachtung der jugendhilfe- wie der schulbezogenen Angebote. Der Ländermonitor der Bertelsmann-Stiftung z.B. greift zwar bei seinen Kostenbetrachtungen auf die Daten der Kindertagesbetreuung insgesamt zurück, reduziert sich aber selbst auf "frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE)" und setzt sogar noch FBBE mit Kindertagesbetreuung gleich (2). Der Hort wird allenfalls in den Fußnoten erwähnt, in denen relativierend zugestanden wird, dass die Einbeziehung des Hortes in der Kinder- und Jugendhilfestatistik die Datenlage für FBBE verschlechtern. Die eigentümliche Gleichsetzung von FBBE und Kindertagesbetreuung führt also nicht nur zu schiefen Aussagen (3), sondern verbannt ca. 660.000 Kinder im Grundschulalter in Horten oder "Ganztags"schulen (4) aus der Wahrnehmung.
Daten über die Kindertagesbetreuung der Altersgruppe zwischen 6 und 14 Jahren werden zwar im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfestatistik erhoben und finden sich auch auf den Internetseiten des Statischen Bundesamtes - allerdings muss man sich schon gut in den Tiefen der Statistik auskennen, um sie auch zu finden (5). Die öffentlichkeitswirksamere Kommunikation durch Fachveröffentlichungen, Pressemitteilungen u.ä. konzentriert sich auf jüngere Altersgruppen - was sicherlich den Statistikern nicht anzukreiden ist, sondern vor allem dem Interesse der Öffentlichkeit und uns Fachleuten.
Schließlich sind die Statistiken über Hortkinder und Kinder in schulischen Ganztagsangeboten völlig inkompatibel. Es gibt unklare Zuordnungen und unterschiedliche Erhebungssystematiken, die zu Doppelzählungen führen. Nicht einmal der nationale Bildungsbericht kann ein verlässliches zahlenmäßiges Bild der außerunterrichtlichen Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder im Grundschulalter zeichnen. Erst auf der "Basis umfangreicher Recherchen in den Ländern konnte die Anzahl der Kinder, die in beiden Statistiken gemeldet werden," (6) abgeschätzt werden. Offenbar interessiert der Gesamtblick auf das System der Erziehung, Bildung und Betreuung für Kinder im Grundschulalter nicht wirklich!
Leerstelle in der familienpolitischen Debatte
Geht es um familienpolitische Fragen, so scheinen auch die Eltern mit Schulkinder "aus dem Gröbsten raus" zu sein. Welch eine Fehleinschätzung!
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf konzentriert sich heute auf den Platzausbau für ein- und zweijährige Kinder, als ob in diesen Jahren die Probleme am gravierendsten wären. Tatsächlich aber dürfte der Wunsch nach Berufstätigkeit bei Eltern von Kleinkindern deutlich geringer ausgeprägt sein als bei Eltern von Schulkindern. Zumindest aber dürften die ersten drei Jahre einfacher zu überbrücken sein als die elterliche Berufstätigkeit mit dem Zeitregime der Schule in Einklang zu bringen ist. Die Geburt eines Kindes ist immer ein erheblicher Einschnitt im Familien- und auch im Berufsleben. Neue familiäre Zeit-, Beziehungs- und Arbeitsarrangements sind zu treffen; aber diese sind i.d.R. nur vorübergehend, denn spätestens ab dem dritten Lebensjahr des Kindes steht verlässlich ein Kindergartenplatz zur Verfügung und wird inzwischen von fast allen Kindern auch genutzt.
Mit der Einschulung des Kindes aber, wenn sich die familiären Zeitarrangements auch mit Hilfe des Kindergartens konsolidiert haben, treten neu und massiv Vereinbarkeitsprobleme für die Familie auf, und diese sind auf mehrere Jahre hinaus vorprogrammiert. So ist es schon eine eigentümliche Wahrnehmungsverengung, dass auch die DJI-Kinderbetreuungsstudie die Frage "Wer betreut Deutschlands Kinder?" nur an 8.000 Eltern mit Kindern bis zum 6. Lebensjahr stellte (7).
Dies ist kein Plädoyer gegen den Krippenausbau, es ist aber die Frage nach den Prioritäten und nach den Gründen der bemerkenswerten Vernachlässigung der Zeit- und Vereinbarkeitsprobleme von Familien mit Schulkindern. Man muss leider feststellen, dass die deutsche Schule den Tatsachen, dass Schüler auch Kinder sind und dass Eltern häufig berufstätig sind, kaum Bedeutung beimisst. Es soll zwar nur noch selten vorkommen, dass Kinder bei einem plötzlichem Unterrichtsausfall nach Hause geschickt werden; dass aber ein verspäteter Unterrichtsbeginn oder ein früheres Unterrichtsende mit nur einem Tag Vorwarnzeit angekündigt werden, dass Studientage des Lehrerkollegiums oder Prüfungswochen zu Betreuungslücken führen, die Eltern zu waghalsigen Aufsichtsarrangemts zwingen - das ist immer noch Alltag. Die Diskrepanz zwischen 75 Ferientagen für Kinder (8) und höchstens 30 Urlaubstagen der Eltern hat m.W. auch noch keine schulreformerischen Bemühungen hervorgerufen.
Hilft die "Ganztags"schule?
So richtete sich auch die Ausweitung der sog. "Ganztags"schule fast ausschließlich auf eine Veränderung und Effektivierung von Unterricht. Sie soll eine veränderte Rhythmisierung des Unterrichts ermöglichen und das strenge Zeitregime von 45-Minuten-Unterricht und Pausenklingel durch harmonischere Arrangements ablösen. Sie soll insbesondere für die Kinder aus anregungsärmeren Milieus "mehr Zeit zum Lernen" schaffen und dadurch helfen, soziale Unterschiede abzubauen. Dass sich Eltern von der "Ganztags"schule daneben eine verlässliche Entlastung im alltäglichen Zeitmanagement versprochen hatten, ist zwar nicht unbekannt - wurde aber kaum Gestaltungsmerkmal dieser "Ganztags"schule.
In bemerkenswerter Offenheit und Unbekümmertheit hat die Kultusministerkonferenz solchen Erwartungen von Eltern ihre Definition des "Ganztags" entgegengesetzt. Danach haben "Ganztags"schulen "an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot (...), das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst" (9). Diese 21 Wochenstunden setzen voraus, dass mindestens ein Elternteil gerade einmal einer Teilzeittätigkeit nachgeht, selbst wenn man die reguläre Unterrichtszeit an den beiden (Halb-) Tagen ohne Ganztagsbetrieb hinzurechnet. Und auch die Ferienbetreuung ist an vielen "Ganztags"schulen weit davon entfernt, ein verlässliches und ausreichendes Betreuungsangebot darzustellen. Kein Wunder also, "dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die Ganztagsangebote nutzen, niedriger liegt als der Anteil der Schulen, die solche Angebote bereitstellen" (10) (12,4% aller Grundschüler zu 29% aller Grundschulen [11]).
Familienlastenausgleich
Auch wenn die familienpolitische Frage des Familienlastenausgleichs im Zusammenhang mit der Jugendhilfe diskutiert wird, wenn es also um die Frage geht, wie die ökonomische Belastung von Familien im Verhältnis zu kinderlosen Bürgern durch Steuern oder Zuwendungen kompensiert wird, sind bemerkenswerte blinde Flecken in Bezug auf die finanzielle Situation von Familien mit älteren Kindern auszumachen. So wird die Beitragsfreiheit der Kindertagesbetreuung als bildungs- und familienpolitische Notwendigkeit gefordert - zuvorderst aber für das letzte Kindergartenjahr! Die Gründe liegen vermutlich auch hier durch die Nähe zur so bedeutsamen und daher beitragsfreien Schule. Eine andere nachvollziehbare Begründung ist jedenfalls schwer vorstellbar, denn wenn man Eltern durch Beitragsfreiheit motivieren will, ihre Kinder in Kindertagesbetreuung zu bringen, wäre die Entlastung bei den Kleinkindern sicherlich angebrachter. Würde man aber die finanzielle Entlastung von Familien im Auge haben, so wäre dies bei den Familien mit älteren Kindern richtiger angebracht, denn der finanzielle Aufwand der Familien ist für ältere Kinder bekanntermaßen deutlich höher als für jüngere (12).
Leerstelle im Fachdiskurs
Schließlich ist auch die fachliche Befassung mit der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter (jenseits der Vormittagsschule) eine problematische Leerstelle. Die Bildungspläne der Länder konzentrieren sich auf den Kindergarten, und die Ausweitung auf die jüngeren und älteren Kinder ist noch als halbherzig zu bezeichnen. Zwar wird dies durchaus selbstkritisch angemerkt (13), aber entsprechende Aktivitäten sind bisher nicht weiter bekannt geworden.
Die beiden Bildungspläne in Hessen und Thüringen gehen im Anspruch zweifellos weiter. "Der Plan richtet sich somit an alle Bildungsorte, die Bildungsprozesse von Kindern moderieren und mitgestalten, d.h. an Elternhaus, vorschulische Kindertageseinrichtungen und Grundschulen ebenso wie an Tagespflege, Kinderhorte und Einrichtungen der Familienbildung" (14). Ob es in der Folge dieser Pläne allerdings gelingt, nicht nur "formelle, informelle und formale Bildungsprozesse gleichermaßen" in den Blick zu nehmen, sondern ob auch die durchaus unterschiedlichen Möglichkeiten dieser verschiedenen Bildungsarrangements herausgearbeitet werden, wird sich erst noch zeigen. Gegenwärtig scheinen die Prozesse hier (wie auch in den anderen Ländern, die eine gemeinsame Bildungsphilosophie von Kita und Grundschule formulieren [15]), eher in dem Sinne "institutionenübergreifend" (16) angelegt sind, als sie auf die Anschlussfähigkeit von Bildungsprozessen (vom Kindergarten in die Schule) fokussieren. Es geht vorrangig um den Übergang, weniger um die gemeinsamen und unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten in Kita/Hort und in Schule!
Dies wird z.B. auch im gemeinsamen Beschluss der beiden Ministerkonferenzen aus dem Jahr 2004 deutlich. Obwohl die Überschrift Anderes verspricht ("Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe zur Stärkung und Weiterentwicklung des Gesamtzusammenhangs von Bildung, Erziehung und Betreuung") werden nur die Themenbereiche "Übergang vom Kindergarten zur Grundschule", "Entwicklung und Ausbau der ganztägigen Förderung und Betreuung an Schulen" und "Unterstützung der Kinder und Jugendlichen mit Lernproblemen und sozialen Benachteiligungen" angesprochen. Der Bildungsauftrag der Jugendhilfeeinrichtung Hort spielt kaum eine Rolle; es wird unter Punkt 2.1.8 lediglich angemerkt: "Die Entwicklung und der Ausbau der ganztägigen Bildung, Erziehung und Betreuung an Schulen erfordert die Klärung des Verhältnisses zu den Horten, die im Rahmen der Jugendhilfe betrieben werden" (17).
Das Investitionsprogramm "Zukunftsprogramm Bildung und Betreuung", mit dem der Bund vier Milliarden Euro zur Entwicklung von Ganztagsangeboten in den Ländern zur Verfügung stellte, wurde konzipiert ohne zu berücksichtigen (vermutlich sogar ohne überhaupt wahrzunehmen), dass es in vielen Bundesländern ein ausgebautes und akzeptiertes Angebot der Bildung und Betreuung zumindest für die Kinder im Grundschulalter bereits gab - den Hort! Erst nachdrückliche Interventionen Einzelner konnten wenigstens eine gewisse Öffnung des Investitionsprogramms erreichen, damit auch Kooperationen von Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen für die Entwicklung eines gemeinsamen Angebots förderfähig wurden (18). Das Programm blieb im Kern und in seiner öffentlichen Wahrnehmung ein "GanztagsSCHULprogramm" - unter fast durchgängiger Ignoranz gegenüber den personellen, materiellen und konzeptionellen Ressourcen der Kinder- und Jugendhilfe.
Ansatzpunkte für einen Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe zur Bildungsdebatte gibt es (über den Kindergarten hinaus) durchaus. Sie zeigen sich vielfältig in älteren Fachpublikationen (19) und sind als Fachstandpunkte auch in Beschlüssen der Jugend- und Familienministerkonferenz zu finden. Bereits im Juni 2002 "bekräftigt (sie) ihre Forderung nach einem Gesamtsystem von Bildung, Erziehung und Betreuung, das darauf ausgerichtet sein muss, die Potentiale aller jungen Menschen zu entwickeln, den Erwerb von Schlüsselqualifikationen zu fördern, ihre Bildungsbereitschaft zu stärken, ihre Kompetenzen zu entwickeln und so das Aufwachsen aller jungen Menschen und ihre Integration in unsere Gesellschaft zu unterstützen" (20). In der Ausformung, Untersetzung und Konkretisierung des Bildungsauftrages der Kinder- und Jugendhilfe für Kinder im Grundschulalter hat die Fachdiskussion der Kindertagesbetreuung einen deutlichen Nachholbedarf. Gerade wegen der alltäglichen Parallelität von Schule und Hort (21) wäre der spezifische Bildungsauftrag erst noch zu konkretisieren, wäre die Bedeutung nonformaler Bildung in Ergänzung und Erweiterung zum Unterricht herauszuarbeiten.
... und dabei steigt die Anzahl der in Horten betreuten Kinder
In einem kaum erklärbaren Widerspruch zu dieser geringen Wertschätzung des außerunterrichtlichen Lebens von Kindern im Grundschulalter stehen die Zahlen! Der Anteil der in Horten/ Kindertagesstätten betreuten Kinder steigt. Auch unter den Vorbehalten, dass die Bundesjugendstatistik vor 2006 "verfügbare Plätze" statt "betreute Kinder" gezählt hatte, dass altersgruppenbezogene Daten nicht immer sicher zwischen Schulkindern und Nicht-Schulkinder unterscheiden und dass die Betreuungsgrade auf unterschiedliche Altersjahrgänge bezogen werden... - auch unter Berücksichtigung aller Unsicherheiten ist für den Zeitraum von 2002 bis 2008 ein Aufwuchs im Betreuungsgrad bei den Hortkindern festzustellen (22). Selbst wenn man nur den Zeitraum von 2006 bis 2008 vergleicht, weil hier die statistische Basis durch die neue Kinder- und Jugendhilfestatistik deutlich besser ist, findet sich ein Anstieg im Betreuungsgrad um fast zwei Prozentpunkte in Deutschland insgesamt (von 10,6% auf 12,2%), der in den westlichen Bundesländern mit 0,5%-Punkten deutlich geringer ausfällt (von 6,1% auf 6,6%) als im Osten mit 6,2%-Punkten (von 48,3% auf 54,5%) (23).
Aber nicht nur der Hort legt zahlenmäßig zu! Parallel hat sich die Anzahl der Grundschulen mit sog. Ganztagsangeboten "in den Jahren 2002 bis 2006 um das Zweieinhalbfache erhöht" (24) und lag damals bei rund 29% aller Grundschulen. Obwohl sich also die schulischen Angebote ausgeweitet haben und obwohl Berlin seit dem Schuljahr 2005/2006 die Hortbetreuung zugunsten der Betreuung an Schulen aufgegeben hat und obwohl auch in Nordrhein-Westfalen die Entscheidung gefallen ist, bis 2012 den Hort durch schulorganisierte Angebote zu ersetzen, hat dieser deutliche Aufwuchs schulischer Angebote in Deutschland keineswegs zu einem Rückgang der Hortplätze geführt, sondern beide Betreuungsarrangements haben sich ausgeweitet. So ist heute die Tatsache zu konstatieren, dass mehr als jedes fünfte Schulkind unter 11 Jahren eine außerunterrichtliche Betreuung in der Kindertagesbetreuung oder in schulisch organisierten Angebote erhält (25).
In einer der wenigen Quellen, die sich überhaupt mit der quantitativen Entwicklung der Angebote der Kindertagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter befasst, stellen Schilling und Lange in komdat 1/09 (26) fast erstaunt fest: "Somit stellt der Hort immer noch ein Angebot 'auf Augenhöhe' mit der Ganztagsschule dar." Dieses Erstaunen ist berechtigt angesichts der Wellen, die die Ausweitung der sog. "Ganztags"schule in der öffentlichen und der Fachdebatte schlägt - im Gegensatz zum scheinbaren Dornröschenschlaf des Hortes.
Quantitativ spielt also der Hort (und dabei ist die Kindertagesbetreuung von Kindern im Grundschulalter in altersgemischten Gruppen und Einrichtungen einbezogen) eine erhebliche Rolle. Fachlich wissen wir um die Bildungs- und Sozialisationswirkung informeller und nonformaler Einrichtungen und um deren unverzichtbaren Beitrag zur Bildung und Entwicklung der Kinder. Schließlich ist die Ergänzung des schulischen Unterrichts auch für die Gestaltung des Familienlebens von schwer zu überschätzender Wichtigkeit.
"Ganztags"schule ist mehr Versprechen als Realität
Die "Ganztags"schule ist in ihrer gegenwärtigen Verfassung mehr ein Versprechen als Realität. Dies gilt zwar auch für die versprochene neue Gestaltung von Schule, aber mehr noch gilt es für ihre mangelnde Berücksichtigung der vitalen Lebensbedürfnisse von Kindern und ihrer Familien. Zweifellos bieten Schulen vielfach gute Voraussetzungen, um zu den versprochenen Orten des Lebens und Lernens zu werden, weil hier Kinder, Räume und Erwachsene - also Erwartungen, Möglichkeiten und Ressourcen - vorhanden sind.
Der Hort muss selbstbewusster werden
Damit diese Orte aber nicht zur Verlängerung des Unterrichts in den Nachmittag verkommen, braucht es nach meiner Auffassung unverzichtbar den (sich seiner) selbst-bewussten Hort. Dieser hätte allerdings eine verkürzte und häufig in Abgrenzung zu Schule verharrende Bildungsvorstellung zu überwinden. Er hätte sich positiv der Tatsache zu stellen, dass die Schule für die Kinder von zentraler Bedeutung ist; er hätte Kinder (und Eltern) dabei zu unterstützen, dass die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt werden können; und er hätte den eigenen originären Anteil an der Entwicklung sozialer, emotionaler, körperlicher und eben auch kognitiver Kompetenzen der Kinder (seinen Bildungsauftrag) zu definieren.
Fazit
Es gibt also keinen vertretbaren Grund, die Vernachlässigung der Kindertagesbetreuung von Kindern im Grundschulalter fortzusetzen. Es wird höchste Zeit, dies wieder ins Bewusstsein der Fachwelt wie auch der Öffentlichkeit zu heben.
Endnoten
- Pressemitteilungen 2004: "Länder und Kultusministerkonferenz ziehen drei Jahre nach PISA eine positive Zwischenbilanz zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen"; s. www.kmk.org
- Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme 2009: "Dabei wird im Ländermonitor mit FBBE das institutionelle Angebot im Rahmen von Kindertageseinrichtungen (KiTas) und (öffentlicher) Kindertagespflege bezeichnet". www.laendermonitor.de
- Z.B. beinhalten die dargestellten Kosten für FBBE eben auch die Kosten für Hortplätze u.ä., soweit sie Einrichtungen und Angebote der Kindertagesbetreuung sind. Damit haben Länder mit einem größeren Hortangebot anscheinend höhere Kosten für FBBE als Länder, die diese Angebote im schulischen Zusammenhang organisieren - und deren Kosten hier nicht abgebildet werden.
- Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2008, Bielefeld 2008 [im Folgenden: Nationaler Bildungsbericht], Tab. D3-5A, S. 261
- www.destatis.de >"Publikationsservice" > Suche: "Tageseinrichtungen für Kinder"
- Nationaler Bildungsbericht, a.o.O., S. 73: "Methodische Erläuterungen"
- Bien, Rauschenbach, Riedel: "Wer betreut Deutschlands Kinder?" Beltz-Verlag 2006
- Festgelegt in § 3 des sog. Hamburger Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 28.10.1964 i.d.F. vom 14.10.1971)
- Sekretariat der KMK: "Allgemein bildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland - Statistik 2002 bis 2006", Bonn 2008
- Nationaler Bildungsbericht 2008, a.o.O., S. 72
- Ebd., Tab. D3-3A und Tab. D3-2A
- Die "Düsseldorfer Tabelle", die Leitlinien für den Unterhaltsbedarf von Unterhaltsberechtigten enthält, staffelt dementsprechend die Bemessung des Kindesunterhalts aufwachsend mit dem Altern der Kinder. www.olg-duesseldorf.nrw.de/07service/07_ddorftab/index.php
- So sind ggf. die Ausführungen zu Bildung und Erziehung für Kinder unter drei Jahren und für Schulkinder in Kindertageseinrichtungen in den Bildungsplänen zu konkretisieren". Anlage zum Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz "Umsetzung der JMK-Beschlüsse zum Bildungsauftrag und zur Qualitätssicherung in der Kindertagesbetreuung", Berlin 29./30.05.2008
- Hessisches Sozialministerium/Hessisches Kultusministerium: "Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 - 10 Jahren in Hessen. Fassung für die Erprobung", Oktober 2005
- "Gemeinsamer Orientierungsrahmen für die Bildung in Kindertagesbetreuung und Grundschule - GorBiKs". www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb2.c.496050.de
- Zitiert aus der Einleitung von Ada Sasse zum "Thüringer Bildungsplan für Kinder bis 10 Jahre", Kultusministerium des Freistaates Thüringen, verlag das netz, Weimar, Berlin
- Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13./14.05.2004 und Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03./04.06.2004; www.mbjs.brandenburg.de/media_fast/5527/TOP%206%20-%20Anlage.15475623.pdf
- Ein Überblick zum IZBB findet sich z.B. bei Budde: "Ganztagsangebote für Schulkinder, Ganztagsangebote an Schulen, Ganztagsschulen - Versuch einer knappen Darstellung zum Stand der Entwicklungen in den Bundesländern" in Diskowski/ Hammes Di-Bernardo/ Hebenstreit-Müller/ Speck-Hamdan (Hrsg.): "Übergänge gestalten. Wie Bildungsprozesse anschlussfähig werden", verlag das netz, Weimar, Berlin 2006.
Ein Beispiel für die strukturelle Entwicklung von Ganztagsangeboten als Kooperation von Schule und Jugendhilfe findet sich z.B. in Brandenburg www.mbjs.brandenburg.de/kita-startseite.htm > Ganztagsangebote
- Nur ein Beispiel für viele Veröffentlichungen, die sich zwar weniger explizit, wohl aber ausführlich mit dem Bildungsauftrag des Hortes beschäftigen: G. Berry/L. Pesch: "Welche Horte brauchen Kinder?", Luchterhand-Verlag und Sonderveröffentlichung des MBJS Brandenburg
- Jugendministerkonferenz am 6./7. Juni 2002 in Osnabrück: TOP 7 "Jugendhilfe und Schule"; www.mbjs.brandenburg.de/media_fast/5527/TOP%207%20-%20Beschluss.15475545.pdf
- Hier seien die anderen außerunterrichtlichen Angebote einbezogen.
- Von 11,9% auf 12,5% bezogen auf die 6,5 bis 10,5jährigen Kinder. Für die Unterstützung bei der Zusammenstellung und Berechnung der Daten danke ich Jens Lange von der Dortmunder Arbeitsstelle Jugendhilfestatistik.
- Statistisches Bundesamt: Statistik der Kinder- und Jugendhilfe - Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen 2006, 2007, 2008; zusammengestellt und berechnet von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, September 2009
- Nationaler Bildungsbericht, a.o.O., S. 71
- Ca. 662.379 von Doppelzählungen bereinigte betreute Schulkinder von insgesamt 3.174.716 Kindern unter 11 Jahren (350.453 in Westdeutschland = 13% und 311.926 = 64,8% in Ostdeutschland einschl. Berlin); vgl. Nationaler Bildungsbericht, Tab. D3-5A
- Herausgegeben von der Dortmunder Arbeitsstelle Jugendhilfestatistik - AJKStat, Technische Universität Dortmund FB 12, S. 13