Aus: KiTa aktuell NRW 02/2004 (NRW punktuell), S. 28
Oliver Jomaine
"Demographie" ist inzwischen Teil unseres aktiven Wortschatzes geworden, weil die sozialpolitischen Veränderungen zutiefst mit dem "demographischen Faktor" verknüpft sind. Es ist die "Beschreibung der sozialpolitischen Bevölkerungsbewegung" (Duden), die dieses Land in Aufruhr versetzt. Aber nicht deshalb in Aufruhr, weil es immer weniger Kinder geben und das als bedrohlich erlebt wird. Aufruhr deshalb, weil es in diesen Tagen - und auch in Zukunft - Einschränkungen des Lebensstandards geben wird. Es kann so nicht weitergehen, sagen inzwischen alle: Politik, Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbände.
Bis heute ist nicht erkennbar, dass es ein Zusammengehen aller gesellschaftlichen Kräfte gibt, um die Frage zu beantworten, wie es erreichbar sein wird, dass auch zukünftig genügend junge Menschen in unserer Gesellschaft leben.
Ein Gutachten für das Bundesministeriums für Frauen, Senioren, Familie und Jugend (BMFSFJ) vom 13. November 2003 hat nun so eindeutige Antworten gefunden, dass es dem Tätigkeitsfeld Tageseinrichtungen für Kinder unbedingt zu Gehör gelangen muss. In diesem Gutachten könnte die Antwort auf die Frage der Zukunftsfähigkeit von Tageseinrichtungen für Kinder bei weiter zurückgehenden Kinderzahlen liegen. Das Gutachten ist von Prof. Dr. Bert Rürup erstellt worden und trägt den Titel "Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungspolitik" (zu finden in http://www.bmfsfj.de).
Die zentrale Fragestellung ist, welche Faktoren die Entscheidung von Frauen, Kinder zu bekommen, beeinflussen. Noch genauer: Was kann Frauen dazu bewegen, ein erstes Kind zu bekommen? Ein zweites kommt dann oftmals hinterher.
Etwas vereinfacht gesagt, entscheiden sich Frauen gegen Kinder, weil sie darum wissen, dass damit Einkommensverluste, Karrierebrüche und das Nichtvorhandensein von Unterstützungsmaßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf - vor allem in den ersten drei Jahren des Kindes - verbunden sind. Frauen wollen aber immer weniger auf die Rolle verwiesen werden, mit der Geburt eines Kindes an "Haus und Herd" angebunden zu werden. Sie wollen Beruf und Familie vereinbaren, oder sie bekommen einfach kein Kind.
Das Gutachten zeigt, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Möglichkeit des Besuches von Betreuungseinrichtungen für Kinder unter 3 Jahren und der Frauenbeschäftigungsquote besteht. Dort, wo eine hohe Anzahl von Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren vorhanden ist (Dänemark, Schweden, Norwegen), liegt die Geburtenziffer deutlich höher als in Italien, Spanien und Deutschland, wo es kaum eine öffentliche Kinderbetreuung für Kleinstkinder gibt. Gleichzeitig sind in den letztgenannten Ländern vergleichsweise wenig Frauen erwerbstätig.
Es ist unstrittig, dass das Geburten- und das Arbeitsmarktverhalten von Frauen von vielen Faktoren beeinflusst wird, sodass die Zusammenhänge selten monokausal sind. In drei Bereichen kann Politik allerdings relativ einfach Einfluss nehmen:
- Beteiligung am Arbeitsmarkt: Müttern muss die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeitmuster erleichtert werden.
- Es zählt zukünftig immer mehr die "Qualität des Humankapitals", d.h., dass es lohnenswert ist, bereits bei jungen Kindern in kognitive und soziale Schlüsselqualifikationen zu investieren. Qualifizierte Kinderbetreuung kann hier die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Kindern steigern und zu mehr Chancengleichheit beitragen.
- Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Das Gutachten schlägt als konkrete Maßnahmen vor:
- Bezahlte Elternzeit, das sich grundsätzlich an der Höhe des vor der Geburt gezahlten Nettogehaltes orientiert, um den Einkommensverlust gering zu halten. Denkbar wäre eine Orientierung an der Lohnersatzleistung im Falle von Arbeitslosigkeit in Höhe von 67% für den Zeitraum von 12 Monaten.
- Hinreichende Kinderbetreuung, auch für Kleinstkinder. Die Qualität der Betreuung muss gesichert sein. Das Angebot ist flexibel von 7.00 - 19.00 Uhr nutzbar.
Weitere Stichworte aus dem Gutachten sind u.a.: Erhalt des Ehegattensplittings, Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten, neue innerbetriebliche Strukturen mit viel mehr Teilzeitregelungen.
Bundesministerin Schmidt ist zu danken, dass sie solche Gutachten in Auftrag gibt und auch veröffentlicht. Sie können, wenn sie wahrgenommen und diskutiert werden, eine Neuorientierung ("Keine Zukunft ohne Kinder") bewirken. Dies ist dringend nötig.
Hartmut von Hentig, Professor der Pädagogik und Begründer der legendären Laborschule in Bielefeld, hat sich im November 2003 in "ZeitLiteratur" zum Thema "Geburtenrate" geäußert: "Wir haben das falsche Leben, weil wir versuchen, es ohne Kinder zu leben. Weil wir immerzu auf das Erwachsensein starren. Die Kinderlosigkeit ist schädlich - für die wenigen Kinder, denen die anderen Kinder fehlen, aber vor allem für uns. Besonders schädlich ist sie für eine Gesellschaft, die sich auf Kinderlosigkeit einrichtet, die nur an ihren Erwerb und an ihre eigenen Sicherheiten denkt. Die Kinderlosigkeit bringt eine moralische Verwahrlosung mit sich. ... Ich glaube, wir denken falsch über die Welt, wenn wir nicht genötigt sind, über nachfolgende Generationen nachzudenken."
Aber wie soll das alles finanziert werden? Wenngleich diese Frage überhaupt nur dann ihre Berechtigung hat, wenn eine Wahlmöglichkeit besteht, sei statt einer Antwort eine kleine Zeitungsnotiz (vom 05.12.2003) zitiert. Sie steht für unzählige ähnlicher Nachrichten:
"Nordrhein-Westfalens Verkehrsminister Axel Horstmann und Gelsenkirchens Oberbürgermeister Oliver Wittke haben gestern mit dem symbolischen ersten Spatenstich den Bau der neuen Autobahn-Anschlussstelle "Schalke-Nord" gestartet. Durch die 18,8 Millionen Euro teure Abfahrt soll die Schalke-Arena rechtzeitig zur Fußball-WM 2006 besser erreichbar sein."
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