Die Erwartung einer Kompensation ungleicher Startchancen durch Kindertageseinrichtungen

Lisa Jares

In den letzten Jahren hat sich eine Neujustierung des Zusammenspiels von Familie, Kindheit und Kindertageseinrichtung entwickelt. Die institutionelle Betreuung von Kindern ist zu einem wesentlichen Bestandteil des Aufwachsens von Kindern geworden. Die Vorschulzeit und somit die vorschulische Bildung, Erziehung und Betreuung rücken stärker in öffentliche Hand. Rauschenbach und Borrmann (2010, S. 16 f.) sehen durch den verfrühten "Eingriff" in die kindliche Lebensführung den Vorteil, dass "die institutionalisierte Kindheit zu einer Normalität" wird und somit "auch die formalisierte Bildungsbiographie der Kinder" vorverlagert wird.

Der Bildungsauftrag für Kindertageseinrichtungen hat durch die Ergebnisse der PISA- und der OECD-Studien an Stellenwert gewonnen. Es wurde verstärkt auf die Bedeutung von Bildungsprozessen in der Kindheit hingewiesen und ein umfassender Bildungsauftrag formuliert (vgl. BAJ 2006, S. 206 f.).

Die Diskussion um die Bildungsdebatte wurde vor allem durch den siebten Familienbericht und den zwölften Kinder- und Jugendbericht angeregt. Die Berichte befassen sich mit der Bildungsbedeutsamkeit von Familien. Der siebte Familienbericht hat die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehenden Herausforderungen für Familien analysiert und dadurch verdeutlich, dass die Mehrheit der Familien Unterstützungsangebote benötigt. Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht thematisiert, dass ein kommunal abgestimmtes System von Bildung, Betreuung und Erziehung notwendig ist, um Familien ausreichend Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags zu bieten. Dies impliziert Sprach- und individuelle Förderung von Kindern, Familienförderung, sozialräumliche Netzwerke der Bildung, Qualifizierung von Tagesbetreuung, flächendeckende Ganztagsangebote, pädagogische Reform, Autonomie von Schulen, erweiterte Schulträgerschaft und kommunale Bildungsplanung (vgl. Heitkötter/ Rauschenbach/ Diller 2008, S. 11).

Hier wird deutlich, dass das Thema Bildung von Kindern und ihren Familien in einem breiten sozial- und gesellschaftspolitischen Rahmen eingebettet ist. Kindertageseinrichtungen als multifunktionale Einrichtungen für Familien stehen somit vor der Herausforderung, den veränderten Anforderungen durch bedarfsgerechte und gebündelte Angebote zu entsprechen (vgl. Tschöpe-Scheffler/ Wirtz 2008, S. 160). Die Qualitätsansprüche an Bildung, Betreuung und Erziehung haben sich daher deutlich erhöht. Das Aufwachsen von Kindern wird als eine Gestaltungsaufgabe gesehen, bei der sich die private und die öffentliche Verantwortung ergänzen müssen (vgl. Heitkötter/ Rauschenbach/ Diller 2008, S. 12).

Kompensatorische Erziehung

Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern werden in Deutschland in hohem Maße vom Familienhintergrund bestimmt. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass soziale Unterschiede wachsen und an die nächste Generation "übergeben" werden. "Startchancengleichheit entpuppt sich als Fiktion" (vgl. Bien/ Rauschenbach/ Riedel 2006, S. 283). Der frühe Zugang zu öffentlichen Bildungsinstitutionen bzw. bildungsfördernden Lebenswelten soll hier ausgleichend positiv wirken. Aus gesellschaftspolitischer Sicht entsteht an dieser Stelle die Herausforderung, allen Kindern - insbesondere "benachteiligten Kindern" - diese Teilhabe zu ermöglichen.

Besonders in Deutschland hängen die Bildungs- und späteren Lebenschancen von Kindern von deren sozialer und ethnischer Herkunft ab. Insbesondere Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund kommt hier eine hohe Aufmerksamkeit zu. Sie gelten pauschal als förderungsbedürftig; die familiäre Bildungsleistung findet keine Beachtung. Die Wirkung von Familie als Bildungsort wird ausgeblendet (vgl. Betz 2010, S. 113 f.).

Die Erwartung an eine kompensatorische erzieherische Wirkung von Kindertageseinrichtungen wurde zum ersten Mal in den 1960er Jahren gestellt und lebt aktuell wieder auf (vgl. Betz 2010, S. 120). Damals vollzog sich die erste deutsche Bildungskatastrophe, und der Ruf nach früher Bildung und Chancengleichheit wurde laut (vgl. Betz 2010, S. 120 mit Bezug auf Iben 1998). Kindertageseinrichtungen sollen ethnisch- und milieubedingte ungleiche Entwicklungschancen kompensieren und eine zentrale Funktion in der Sprachförderung von Kindern einnehmen (vgl. Bien/ Rauschenbach/ Riedel 2006, S. 283).

Aus bildungspolitischer Sicht sollen alle Kinder bereits vor Schuleintritt in Kindertageseinrichtungen optimal gefördert werden. "Wo Eltern die notwendige Unterstützung und Förderung ihrer Kinder nicht leisten können, sollen die öffentlichen Institutionen kompensatorisch wirksam werden und benachteiligte Kinder in besonderem Maße fördern" (Betz 2010, S. 120).

In fachpolitischen Dokumenten werden Bildungs- und Integrationserwartungen an Einrichtungen der Frühpädagogik gestellt. Ziel dabei soll sein, dass alle Kinder unabhängig welcher Schicht und Ethnie die gleichen Startchancen durch außerfamiliäre Förderung erhalten. Die frühpädagogischen Institutionen sollen kompensatorisch wirken und defizitäre Bedingungen ausgleichen. Dem kompensatorischen Erziehungs- und Bildungsgedanken der Politik geht jedoch insgesamt ein defizitärer Blick auf Familien voraus (vgl. Betz 2010, S. 113 f.).

"Um die Chancengleichheit für alle Kinder zu gewährleisten, ist die Verschiedenartigkeit von Kindern als Bildungspotential zu verstehen, Kinder mit Benachteiligung oder Behinderungen bedürfen einer besonderen (Be-) Achtung, Zuwendung und Unterstützung zur Förderung ihrer Entwicklungsprozesse" (Kasüschke/ Fröhlich-Gildhoff 2008, S. 11).

Die Bildung und Erziehung von Kindern im Vorschulalter muss insgesamt stärker als öffentliche Pflichtaufgabe in den Blick genommen werden. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse zeigen, dass insbesondere in der Zeit vor dem Schuleintritt eine hohe Aufnahmebereitschaft und ein großer Erkundungsdrang bei Kindern vorhanden sind und in dieser Zeit grundlegende Dispositionen für das spätere Lernverhalten gelegt werden (vgl. Fthenakis 2003, zit. in Peitz 2003, S. 23).

Bei Eintritt in die Tageseinrichtung verfügen Kinder, je nach Förderung im Elternhaus, über ganz unterschiedliche Grundlagen und Kompetenzen (vgl. Peitz 2003, S. 23). Pädagogische Einrichtungen sollen an dieser Stelle eine präventive, ausgleichende Funktion einnehmen und die Entwicklung von Kindern positiv beeinflussen. Sie sollen präventiv dazu beitragen, dass Kinder in keine problembelastenden Situationen kommen, die positive Entwicklung fördern und familiäre sowie soziale Belastungen kompensieren (vgl. Mayr 2003, S. 125).

Die Forderung von Chancengleichheit war bereits Teil der Forderung des durch den Bund und die Länder 1999 initiierten "Forum Bildung", welches Anstöße für eine Bildungsreform liefern sollte. Im Rahmen dessen wurde die Frage, "Wie die Diversität heutiger Gesellschaften und die besonderen Fähigkeiten der Einzelnen sich mit dem Ziel der Gleichheit im Bildungswesen integrieren lassen", gestellt (Gisbert 2004, S. 24), welche sich bis heute noch nicht eindeutig beantworten lässt.

Kompensatorische Bildung - nur ein Mythos?

Neben den Erwartungen der kompensatorischen Erziehung und Bildung, die an frühpädagogische Institutionen gerichtet werden, muss die Frage gestellt werden, woran man die Wirkung der kompensatorischen Erziehung überhaupt messen kann. Betz (2010, S. 114) betont, dass die kompensatorischen Wirkungen durch den (frühen) Besuch von Kindertageseinrichtungen und die Reduzierung von schulischen Chancenungleichheiten zwischen Kindern mehr fachpolitische Rhetorik als empirisch belegter Befund sei. Gerspach (2006, S. 114) bezeichnet die Idee der kompensatorischen Erziehung bzw. das Ausgleichen von Unterschiedlichkeiten mit pädagogischen Mitteln sogar als "Größenphantasie". Er erläutert, dass es natürlich positiv wäre, wenn alle Kinder bei Schuleintritt den gleichen Wissensstand hätten, und es insofern verlockend ist, für feste Lernprogramme zu plädieren, sieht dies jedoch als "Mythos" an. Er betont die unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Lernvoraussetzungen, die Kinder mitbringen.

Die DJI-Kinderbetreuungsstudie zeigte, dass sich im vorschulischen Alter von 0 bis 6 Jahren eine entscheidende Entwicklungsphase vollzieht, die ausschlaggebend für den weiteren Lebensweg ist, und hier, wie bereits erwähnt, aufgrund von unterschiedlicher Förderung im Elternhaus bereits soziale Ungleichheiten entstehen. Daher ist es notwendig, mehr Wissen darüber zu erlangen, wie Kinder diese Phase erleben und mit welchen Lernorten und Bildungsangeboten außerhalb der Familie sie in Berührung kommen.

Bien, Rauschenbach und Riedel (2006, S. 284) stellen sich die Fragen "Wie realistisch sind beispielsweise die hohen Erwartungen an Kindertageseinrichtungen, dass sie die Defizite in Familien ausgleichen? Tragen sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich dazu bei, Ungleichheiten abzubauen? Oder verstärken sie womöglich sogar Benachteiligungen, weil sie gerade diejenigen Kinder am wenigsten erreichen, die am meisten profitieren können?".

Einerseits werden eben solche kompensatorischen Wirkungseffekte von Kindertageseinrichtungen postuliert (vgl. Tietze 1998, zit. in Betz 2010, S. 125), indem nachgewiesen wurde, dass Kinder, die eine Kindertageseinrichtung besuchen, einen Entwicklungsvorsprung haben. Gleichzeitig wurde der Familie aber eine höhere Bedeutsamkeit zugesprochen, so dass die kompensatorische Wirkung wiederum abgewertet wird. Ein eindeutiger Nachweis von der Wirkung kompensatorischer Erziehung fehlt und ist somit empirisch nicht belegt (Betz 2010, S. 125).

Literatur

BAJ - Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz: Bildung schützt! Kinder- und Jugendschutz als integraler Bestandteil von Bildungsprozessen in Tageseinrichtungen für Kinder. argumente 5. Meckenheim: Druckcenter 2006

Betz, T.: Kompensation ungleicher Startchancen. Erwartungen an institutionalisierte Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder im Vorschulalter. In: Cloos, P./Karner, B. (Hrsg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2010, S. 113-134

Bien, W./Rauschenbach, T./Riedel, B.: Zur Zukunft der Kinderbetreuung - Bilanz und Perspektiven. In: Bien, W./Rauschenbach, T./Riedel, B. (Hrsg.): Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie. Berlin, Düsseldorf, Mannheim: Cornelsen 2006, S. 282-299

Dräger, J./Stein, A.: Vorwort. In: Bock-Famulla, K.: Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008. Transparenz schaffen - Governance stärken. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2008, S. 7

Fthenakis, W.E.: Zur Neukonzeptualisierung von Bildung in der frühen Kindheit. In: Fthenakis, W.E. (Hrsg.): Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg: Herder 2003, S. 18-37

Gerspach, M.: Elementarpädagogik. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2006

Gisbert, K.: Lernen lernen. Lernmethodische Kompetenzen von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim, Basel: Beltz 2004

Heitkötter, M./Rauschenbach, T./Diller, A.: Veränderte Anforderungen an Familien - Ausgangspunkt für integrierte Infrastrukturangebote für Kinder und Eltern. In: Heitkötter, M./Rauschenbach, T./Diller, A. (Hrsg.): Familie im Zentrum. Kinderfördernde und elternunterstützende Einrichtungen - aktuelle Entwicklungslinien und Herausforderungen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 9-14

Iben, G. (1998): Kompensatorische Erziehung. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe, Band I. Reinbek: Rowohlt, S. 451-456

Kasüschke, D./Fröhlich- Gildhoff, K.: Frühpädagogik heute - Herausforderung an Disziplin und Profession. Köln, Kronach: Carl Link 2008

Mayr, T.: Berücksichtigung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an! Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz 2003, S. 119-139

Peitz, G.: Gründe für eine Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Auf den Anfang kommt es an! Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz 2003, S. 13-25

Rauschenbach, T./Borrmann, S.: Wenn die Privatsache Kinderbetreuung öffentlich wird. Zur neuen Selbstverständlichkeit institutioneller Kinderbetreuung. In: Cloos, P./Karner, B. (Hrsg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2010, S. 11-25

Tschöpe-Scheffler, S./Wirtz, W.: Familienbildung. Institutionelle Entwicklungslinien und Herausforderungen. In: Heitkötter, M./Rauschenbach, T./Diller, A. (Hrsg.): Familie im Zentrum. Kinderfördernde und elternunterstützende Einrichtungen - aktuelle Entwicklungslinien und Herausforderungen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 157-178

Tietze, W.: Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied: Luchterhand 1998

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