Die Bedeutung des Kindergartens für die Demokratie - Herausforderungen und Potentiale

Bernhard Koch

Gesellschaftliche und politische Entwicklungen der letzten Jahre werfen Fragen nach Gefährdungen der Demokratie auf: eine europaweit zunehmende Bedeutung von rechtsgerichteten Parteien, Vertrauensverluste in politische Institutionen und Parteien, ausgeprägte soziale und kulturelle Ungleichheiten oder die Zunahme religiös-konservativer Strömungen, die der Religion Vorrang vor staatlichen Strukturen einräumen. Wie soll hier dem Kindergarten Bedeutung zukommen?

Historisch gesehen gibt es eine lange Tradition darin, Demokratie und Erziehung als untrennbar miteinander verbunden zu sehen: Demokratie war ein zentrales Thema von Pädagogen wie John Dewey oder wie Loris Malaguzzi, einem der "Begründer" der Reggio-Pädagogik. John Dewey argumentiert, dass Demokratie in jeder Generation wiedergeboren werden muss und Bildungseinrichtungen ihr Geburtshelfer seien. In Schweden etwa wird "Demokratie" im Curriculum ausdrücklich als zentraler Wert von Kindergärten gesehen ("Democracy forms the foundation of the preschool").

Auch in Deutschland wird der Partizipation in Kindertageseinrichtungen zunehmend Bedeutung zugesprochen. Kinder sollen erfahren können, dass sie sowohl Einfluss haben als auch Möglichkeiten haben, Verantwortung für ihre Aktivitäten und Handlungen zu übernehmen - in Abhängigkeit ihrer Fähigkeiten und ihres Entwicklungsstandes. Alle Personen, die im Kindergarten arbeiten, sind Vorbilder für die Kinder und tragen insofern eine große Verantwortung für die Vermittlung von Werten, die auf freiheitlich-demokratischen Grundwerten fußen. Die Werte, die in deutschen Kindertageseinrichtungen vermittelt werden, sind dabei äußerst vielfältig und hängen von der "Weltanschauung" des Trägers genauso ab wie von den persönlichen Wertvorstellungen des Personals. Repräsentative Studien darüber gibt es kaum. Auch nicht über Art und Umfang der Politischen Bildung des elementarpädagogischen Personals. Demokratierelevante gesellschaftliche Probleme und die Arbeit in Kindertageseinrichtungen stehen in einem Zusammenhang.

Herausforderungen

Demokratiepolitische Herausforderungen gibt es für Kindergärten eine ganze Reihe:

Beispiel Bildung: Gebildete Menschen sind für autoritäre Regime gefährlich. Obwohl Deutschland zu jenen Ländern zählt, die insgesamt einen hohen Bildungsgrad der Bevölkerung aufweisen (und dessen Wohlstand in herausragendem Maße von hoher Bildung abhängig ist), gibt es laut PISA-Tests eine größere Zahl an jungen Menschen (ca. 16%), die nicht sinnerfassend lesen kann1. Dem Kindergarten ist es bisher weitgehend gelungen, sich aus der Diskussion über Verantwortlichkeiten herauszuhalten. Doch er muss sich die Frage stellen lassen, ob er "Literacy" vielleicht nicht ernst genug nimmt oder inwiefern pädagogische Ansätze oder die Kritik an einer "schoolification" neu interpretiert und überprüft werden müssten. Schließlich gibt es Hinweise, dass die Qualität in Kindergärten vorwiegend nur "mittelmäßig" ist (NUBBEK 2012) oder dass die Interaktionsqualität im Bereich kognitiver Anregungen gering ist (Wertfein et al. 2015). Einen PISA-Test für Kindergärten, der mehr Aufschluss geben könnte, gibt es noch nicht.

Beispiel "soziale Ungleichheiten": Die Vermögen und Einkommen in Deutschland sind extrem ungleich verteilt; die reichsten zehn Prozent der Deutschen besitzen 60 Prozent der Nettohaushaltsvermögen (OECD 2015). Was den Kindergartenbesuch angeht, zeigen viele Studien, dass Familien mit niedrigem Einkommen und Familien, die ethnischen Minderheiten angehören, tendenziell eher qualitativ minderwertige Betreuungsangebote in Anspruch nehmen (z.B. Europäische Kommission 2009, S. 26). Die Zahl der "Brennpunktkindergärten", die mit ungenügenden finanziellen Ressourcen und Personal ausgestattet sind, scheint eher zu- als abzunehmen. Dazu kommt, dass ein demokratischer Wohlfahrtsstaat - neben Bestrebungen nach sozialem Ausgleich - auch auf besonders begabte Menschen angewiesen ist, doch der Diskurs über Begabungsförderung in der Elementarpädagogik wird eher nur am Rande geführt.

Beispiel Sprache: Der gegenwärtige erziehungswissenschaftliche und elementarpädagogische Diskurs über Mehrsprachigkeit (vgl. z.B. Panagiotopoulou 2016) legt nahe, dass alle Sprachen gleich hohen Wert besitzen (sollten). Demokratiepolitisch tun sie das nicht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Schulbildung funktionieren in Deutschland über die deutsche Sprache. Sie - und nur sie - ist gesamtgesellschaftlich eine "Brücke" zu anderen Menschen und kann gesehen werden als Vehikel, um Kooperationen einzugehen, Meinungen auszutauschen und Konflikte zu besprechen. Es gibt eine zunehmende Zahl von Kindergärten, in denen deutschsprachige Kinder eine sprachliche Minderheit darstellen (vgl. Textor 2016), ein "Sprachbad" ist so kaum mehr möglich. Je mehr Kinder in ihrer gemeinsamen nicht-deutschen Muttersprache im Kindergarten miteinander sprechen, desto geringer wird der Stellenwert der deutschen Sprache als "einigendes Band".

Beispiel "Segregation": Ein zentraler Faktor bei der Frage des Deutscherwerbs und des Bildungserfolgs ist die Komposition der Kindergartengruppe. Sie ist vor allem durch die Wohngegend beeinflusst und hängt mit dem Sozialstatus zusammen. In Deutschland besucht etwa ein Drittel der Kinder, die zu Hause nicht deutsch sprechen, einen Kindergarten, in dem die Mehrzahl der Kinder ebenfalls des Deutschen nicht mächtig ist (Kiziak et al. 2012, S. 12). Manche Gemeinden versuchen eine Durchmischung dadurch zu erreichen, indem die Kinder in Kindergärten anderer Ortsteile gebracht werden, was allerdings auf Widerstände stößt (vgl. Braun/ Kampmann 2008).

Beispiel "kulturelle Werte": Deutschland ist in weiten Bereichen eine gefestigte Demokratie mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung, ein Land mit Lebensqualität, Rechtssicherheit und einer offenen Gesellschaft. Die Regeln des Zusammenlebens haben sich - trotz mancher Herausforderungen - als außerordentlich nutzbringend für alle in Deutschland lebende Menschen erwiesen. In der Pädagogik der letzten Jahrzehnte scheint sich allerdings eine Haltung durchgesetzt zu haben, die den vielen genannten positiven Errungenschaften kaum mehr Bedeutung beimisst, sie tendenziell sogar geringschätzt und jeden Versuch einer Wertebestimmung als "rückschrittlich" oder "rechtspopulistisch" diffamiert. Damit zusammenhängend scheint es im elementarpädagogischen Diskurs unterschiedliche Bewertungen von deutscher Mehrheitskultur und zugewanderten Minderheitenkulturen zu geben. Doch wenn den Werten der Mehrheitskultur nicht mindestens gleich viel Wert beigemessen wird, erhöht sich die Gefahr, dass autoritäre Parteien für viele Menschen attraktiver werden.

Beispiel "Migration und Vergrößerung sozialer Ungleichheiten": Für manche Fachkräfte ist schwer nachvollziehbar, dass auf nationalstaatlicher Ebene eine voraussetzungslose Willkommenskultur mit vermutlich hoher Arbeitslosigkeit, Vergrößerung sozialer Ungleichheiten und dem Risiko einer Demokratiegefährdung einhergeht. Eine Migrationspolitik, in deren Folge vorrangig Personen mit vergleichsweise geringem Bildungsniveau nach Deutschland einwandern, wird die Anforderungen an Kindergärten weiter steigern. Dies betrifft insbesondere das Ziel von Kindergärten, soziale Ungleichheiten zu verringern, denn das Bildungsniveau der Erwachsenen wirkt sich auf das Bildungsniveau der Kinder aus. Inwiefern der Kindergarten seine Rolle als Integrationsinstanz wahrnehmen kann, hängt also in erster Linie von der Migrationspolitik2 und in zweiter Linie von der Stärkung einer qualitätsvollen Elementarpädagogik ab.

Beispiel "Autonomie": Demokratische Systeme zeichnen sich häufig auch durch das Subsidiaritätsprinzip aus. Danach sollen Entscheidungen auf der untersten jeweils als geeignet erkannten Ebene getroffen werden. Manche Kindergärten befinden sich gegenüber dem Träger in einem Verhältnis, das wenig Autonomie beinhaltet und eigenständiges, selbstverantwortliches Handeln einschränkt. Zudem scheint sich der Elementarbereich in Deutschland in einer ambivalenten Lage zu befinden: Einerseits gibt es starke Tendenzen, Kontrolle, Monitoring, Screenings etc. skeptisch und den Elementarbereich als etwas Besonderes im Rahmen des Bildungssystems zu sehen und andererseits wird die vergleichsweise geringe und nicht gleichwertige Verankerung im Gesamtsystem (und in der tertiären Ausbildung) beklagt. Doch Autonomie einerseits und Rechenschaftslegung bzw. Kontrolle andererseits sind in einem demokratischen System untrennbar verbunden.

Beispiel "Partizipation": Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist rückläufig, bei den Bundestagswahlen 2017 lag sie bei rd. 75%., bei Kommunalwahlen wählt nur mehr jeder Zweite. Studien zeigen, dass sozial Bessergestellte, die über höhere Bildung und höheres Einkommen verfügen, in größerer Zahl an Wahlen teilnehmen als sozial Benachteiligte. Diese Unterschiede haben deutlich zugenommen (Schäfer 2013). Was die Partizipations- und Beteiligungsmodelle in Kindertageseinrichtungen betrifft, gibt es Hinweise darauf, dass es vielen Erzieher/innen immer noch schwerfällt, Kinder zu beteiligen und systematisch und konsequent den Kindergarten-Alltag aus der Kind-Perspektive zu denken (vgl. Hansen 2011; Wolf 2017). Nach wie vor scheint eine zwar gut gemeinte, aber doch auch Kinder bevormundende Haltung zu dominieren. Es gäbe Befürchtungen, man gäbe etwas aus der Hand, an dem man aber aus pädagogischer Verantwortung heraus festhalten müsse (vgl. auch Richter et al. 2017). Es ist eine Herausforderung, wenn einzelne Personen oder Gruppen selten das Gefühl entwickeln, mitbestimmen zu können und Wirkung zu erzielen.

Potentiale

Erziehungswissenschaft und Elementarpädagogik könnten mehr als bisher bemüht sein, das Wissen um den Wert demokratischer, rechtsstaatlicher und wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften zu erhalten und das Feld nicht jenen zu überlassen, die autoritäre Strukturen herbeiwünschen, oder jenen, die demokratiegefährdende Entwicklungen ignorieren.

Die Potentiale des Kindergartens als "demokratische Basis" für eine Sicherung der Demokratie sind nicht ganz unbedeutend: Obwohl das Problem sozialer Ungleichheit vorrangig im wirtschaftspolitischen Feld entschieden wird, kann der Kindergarten eine Kompensationsfunktion für Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien ausüben. Obwohl Migration von der Migrationspolitik entschieden wird, kann er als Integrationsinstanz wirken und bei Kindern und deren Eltern das "interethnische Sozialkapital" befördern. Im Rahmen der Bildungspolitik kann der Kindergarten zu einem wichtigen Ort für das Lernen der Staatssprache Deutsch, für das Lernen von Toleranz gegenüber Religionen (ausgenommen der fundamentalistischen Ränder), für das Aushandeln und Einhalten von Regeln, für die Sicherung einer Kultur des Vertrauens, für Mitbestimmung und Selbstbestimmung, mithin für eine gelebte Demokratie werden.

Die Erfahrungen des Personals hinsichtlich Partizipation in ihrer eigenen Ausbildung und hinsichtlich Autonomie gegenüber dem Träger oder gegenüber der pädagogischen Aufsicht spielen eine erhebliche Rolle: Mündige Fach- und Assistenzkräfte, die Meinungen anderer ernst nehmen, eigene Meinungen (angstfrei) äußern können und "herrschaftsfrei" (nach Jürgen Habermas "gleichberechtigt" und "argumentorientiert") diskutieren können, sind Vorbilder für ihre Kinder. Ein hoher Grad an Autonomie auf Einrichtungsebene ist verbunden mit einem hoch ausgebildeten und fähigen Leitungspersonal, das Autonomie - im wahrsten Sinn des Wortes - auch "verantworten" kann.

Ein Kindergarten mit Kindern aus verschiedenen Kulturen und Milieus kann als Chance und Ressource begriffen werden. Es geht dabei um eine voraussetzungslose Willkommenskultur für jedes einzelne Kind, vollständig unabhängig von sozioökonomischen oder kulturell-religiösen Merkmalen. Aus demokratiepolitischer Sicht müssen Anstrengungen unternommen werden, Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache, die in ihrem familiären und sozialen Umfeld kaum mit Deutsch in Berührung kommen, einen mehrjährigen Kontakt mit der deutschen Sprache in einem Kindergarten mit einer hohen Anzahl deutschsprachiger Kindern zu ermöglichen. Rechtliche und finanzielle Anreizstrukturen können dies unterstützen. Vorschläge für eine ausgewogenere Komposition der Kindergartengruppen (insbesondere in urbanen Räumen) könnten aus der Schulforschung übernommen werden: Eltern melden ihr Kind bei der zuständigen Kindergartenbehörde an, der sozioökonomische Hintergrund und das Geburtsland der Eltern werden erfasst, und die Eltern nennen die drei von ihnen präferierten Einrichtungen. Mittels eines Computerprogramms werden die individuellen Zuweisungen für alle Kindergartenstandorte einer Kindergartenverwaltung so ermittelt, dass eine ungefähr gleichmäßige Zusammensetzung nach sozioökonomischen und sprachlichen Kriterien zustande kommt. Die Eltern werden dann benachrichtigt, welchen der von ihnen genannten Kindergartenstandorte ihr Kind besuchen kann (vgl. Biedermann et al. 2016, S. 164).

Der Kindergarten könnte als "selbstverständlicher Lernort" für Demokratie begriffen werden, in dem Kinder darin befähigt werden, möglichst selbstständig und eigenverantwortlich ihre Belange zu regeln. Partizipationspotentiale können genützt werden, wenn Fachkräfte davon überzeugt sind, dass jedes Kind etwas zu sagen hat, und wirklich neugierig sind auf das, was die Kinder beizutragen haben. Zugleich geht es um ein Eingewöhnen in die Regeln der Gemeinschaft: Es könnte vermehrt das "wir", weniger das "ich", angesprochen werden, eine Balance zwischen Individuum und Gruppe müsste hergestellt werden. Dies beginnt mit veränderten Fragen des Personals wie z.B. "Mit wem hast du gestern gespielt?" anstelle von "Was hast du gestern gemacht?" (vgl. Keller 2014). Um Demokratie zu wahren und zu schützen, müssen demokratische Ideen in allen frühpädagogischen Einrichtungen Eingang finden.

Risiken für die Demokratie können im Kindergarten verringert werden. Verantwortlich dafür ist zuallererst der demokratische Staat, der Investitionen dorthin lenkt, wo sie gebraucht werden (z.B. Aus- und Fortbildung des Personals, Investitionen in "Brennpunktkindergärten"), sowie Monitoring und strikte Rechenschaftspflicht bei gleichzeitiger hoher Autonomie der Kindergärten sicherstellt. Verantwortlich sind auch Kindergartenträger, die auf ihre Leitungskräfte und Mitarbeiter/innen vertrauen, und Pädagog/innen, die Kindern auf gleicher Augenhöhe und mit Respekt begegnen, ihnen Mitbestimmungsrechte einräumen und den Kindergarten als Lernort für Demokratie begreifen. Das System Elementarpädagogik schließlich kann dabei mitwirken, dass der Diskurs über "Kindergarten und Demokratie" nicht vom Diskurs über den quantitativen Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen an den Rand gedrängt wird.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es einige Herausforderungen aber auch einige Potentiale in Bezug auf "Kindergarten und Demokratie" zu geben scheint.

Anmerkung

Dieser Beitrag basiert auf dem Buch "Kindergarten und Demokratie in einer Zeit der Unsicherheit - Aspekte elementar und politischer Bildung" von Bernhard Koch (Münster: LIT Verlag 2017).

Endnoten

(1) https://www.oecd.org/pisa/PISA-2015-Germany-DEU.pdf (28.11.2017)

(2) In Kanada richten sich die Aufnahmekriterien bei der Immigration nach Sprachkenntnissen, Erwerbsmöglichkeiten und Ausbildung. Im Jahr 2013 hatten 60% der Migranten eine tertiäre Ausbildung (OECD 2016); die Nachkommen der Zuwanderer schneiden in Bezug auf "Bildung" besser ab als die Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Von den einheimischen Eltern wird es deshalb nicht als Nachteil, sondern eher als Vorteil gesehen, wenn ihre Kinder Kindergärten mit einem hohen Migrantenanteil besuchen.

Literatur

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Braun, Ulrich/Kampmann, Vivian (2008): Kindergartengruppen ohne deutsche Muttersprache! Besondere Herausforderungen an Sprachförderung, pädagogischer Bildungsarbeit, Zusammenarbeit mit Familien und Personalentwicklung. KiTa NRW 4/2008. http://www.kindergartenpaedagogik.de/104.pdf (28.11.2017)

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