Ausbau der Kindertagesbetreuung

Renate Schmidt

... Der Ausbau der Kinderbetreuung ist eine strategische Schlüsselfrage. Überall dort, wo es genügend (Tages-) Betreuung gibt, ist die Geburtenrate deutlich höher als in Deutschland.

Ein Vergleich mit anderen europäischen Staaten macht deutlich, dass es in Westdeutschland einen erheblichen Nachholbedarf beim Ausbau der Kinderbetreuung gibt. Während die Versorgungsquote für Kinder im Alter unter drei Jahren in Dänemark etwa bei knapp 50 Prozent oder in Schweden bei einem Drittel liegt, beträgt sie in Westdeutschland (einschließlich der öffentlich geförderten Tagespflege) nur knapp vier Prozent.

Bei Kindern im Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt liegt die Versorgungsquote insgesamt bei fast 90 Prozent. Allerdings wird im Westen davon nur jeder fünfte als Ganztagsplatz angeboten. Die Versorgungsquote mit Hortplätzen für Grundschulkinder (6- bis 10-Jährigen) liegt insgesamt lediglich bei rund sechs Prozent in Westdeutschland.

Die Bundesregierung setzt im Sinne eines investiven Sozialstaates auf einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur für Kinder und Familien. In dieser Legislatur, werden Länder und Kommunen für den Ausbau der Ganztagsbetreuung für Schulkinder mit einem 4-Milliarden-Investitionsprogramm gefördert. Gerade Kindern aus benachteiligten Familien wird so eine bessere Chance auf gute und gleiche Bildungsmöglichkeiten eröffnet, soziale Herkunft darf nicht über soziale Zukunft entscheiden.

Deshalb frage und fordere ich: Wann endlich kommt die Zusammenführung von Angeboten der kommunalen Jugendhilfe und der Schule unter einem Dach? Jugendhilfe und Bildung müssen sich auf gleicher Augenhöhe begegnen, sich ergänzen und befruchten. Ich will das erreichen, aber ohne das Zutun von Ländern und Kommunen wird das unverbundene Nebeneinander bestehen bleiben. Die Schule soll und muss sich öffnen: Vereine, Organisationen und Unternehmen können bei der Ausgestaltung der Nachmittage differenzierte Beiträge übernehmen.

Ein weiteres Großprojekt liegt in der Federführung meines Hauses. Der Bund will ab Mitte dieser Legislatur jährlich 1,5 Mrd. EUR durch eine Verbesserung der Einnahmesituation der Kommunen bereitstellen. Vorgesehen ist mit dem Geld ein spürbarer Ausbau der Betreuung im Elementarbereich, in erster Linie bei den unter drei Jährigen.

Zielvereinbarungen mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden sind vorgesehen, die das gemeinsame Interesse dokumentieren und die Evaluierung vorsehen. Eine gesetzliche Regelung wird sich auf das Notwendige konzentrieren, um sicherzustellen, dass das Geld für den Ausbau der Kinderbetreuung verwendet wird.

Wir wollen in der zweiten Jahreshälfte 2003 mit allen Beteiligten, Kommunen, Ländern und Verbänden, die Regelungen soweit besprochen haben, dass Anfang 2004 der parlamentarische Weg beschritten und spätestens Anfang 2005 mit der Umsetzung begonnen werden kann.

Was unsere Gesellschaft nicht braucht, sind Standardlösungen, die alles und alle über einen Kamm scheren. Eltern müssen die Möglichkeit haben, sich Betreuung nach ihren spezifischen Bedarfslagen zusammenzustellen. Wir setzen hier auf einen Mix aus privater Eigeninitiative, betrieblichen, gewerblichen und öffentlichen Angeboten, auf Krippen, altersübergreifende Tagesstätten und Tagesmütter.

Die angekündigten Anstrengungen der Bundesanstalt für Arbeit, auf lokaler Ebene Kooperationsvereinbarungen zwischen Jugendämtern und Jobcentern zur Verbesserung der Betreuungsangebote für Arbeitssuchende zu schließen, sind zukunftsweisend.

Eine gute Investition in die Zukunft bedeutet auch die inzwischen in Kraft getretene Regelung der sog. "Mini-Jobs", die auch für Kinderbetreuung genutzt werden können. Die Nachfrage nach diesen Hilfen ist enorm, denn der Kinderwunsch ist in den meisten Lebensplänen präsent, auch wenn er zu häufig nicht verwirklicht wird, frei nach Harald Schmidt: 75 Prozent der Deutschen lieben Kinder, der Rest hat welche.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: In entwickelten Gesellschaften bedeuten weniger Kinder auch weniger Wohlstand. Was unsere Gesellschaft also braucht, sind Kinder, mehr Kinder, Kinder die gut aufwachsen. ...

Wer Qualität des Aufwachsens will, muss das an Infrastruktur gewährleisten, was Kindern gut tut. Die Verantwortung für die Erziehung liegt in der Hauptsache bei den Eltern.

Auch wenn keine einzige Mutter, kein Vater erwerbstätig wäre, bräuchten wir Kinderbetreuung. Als Orte für Kinder, denn Kinder brauchen andere Kinder. Die finden sie heute weniger in der eigenen Familie oder vor der eigenen Haustür. Auch deshalb müssen wir Angebote neu schaffen. Kindlicher Neugier und kindlichem Tatendrang lässt sich am besten in Gruppen mit Gleichaltrigen nachkommen.

Die Startchancen in den ersten sechs Lebensjahren eines Menschen entscheiden über den späteren Lebensweg und die Lebenskarrieren von Menschen. Der Bildungsstand ist überall dort signifikant höher, von Frankreich bis Finnland, wo es ganztägige Angebote auch für Kleinkinder unter drei Jahren gibt.

Kinderbetreuung ist der Ort, an dem ergänzend zur Familie - und leider dort manchmal zu wenig - Schlüsselqualifikationen gelernt werden können. Hierzu zählen Spracherwerb und Kommunikation, Medienkompetenz, das Erlernen des Lernens, Eigenverantwortung und soziales Handeln in einer Gruppe aber auch Bewegung und Motorik. Gefördert werden sollen die musisch-kreativen Fähigkeiten der Kinder ebenso wie die Vermittlung von Werten.

Mir ist dabei sehr wichtig, dass Kinder sich so entwickeln können, wie es ihrem Alter und ihrem individuellen Tempo und ihren Bedürfnissen entspricht. Das bedeutet eben gerade keine minuziös Regelung von Kinder-Alltag, sondern Freiräume und Angebote für sinnvolles und lustvolles Spielen und Lernen.

Der Bund will mit den Ländern und Kommunen Vereinbarungen erreichen, wie die Qualität frühkindlicher Erziehung, Betreuung und Bildung verbessert werden kann. Eingeladen sind im Sinne gemeinsamer Verantwortung auch andere gesellschaftliche Partner, insbesondere die sozialen Organisationen und die Wirtschaft. Bis Anfang 2004 sollte es gelingen, gemeinsam eine Plattform zu finden und sie dann öffentlich auf einem Gipfel "Frühkindliche Förderung" zu präsentieren.

Verantwortliche Familienpolitik unterstützt Eltern in der Wahrnehmung ihrer natürlichen Rechte und Pflichten bei der Erziehung und Pflege ihrer Kinder, wann immer dies gewünscht und notwendig ist. Die Qualität der Erziehung beeinflusst entscheidend den späteren Lebensweg. Was sind die Maximen, nach denen sich Eltern richten, die die Gesellschaft von ihnen erwarten, fördern und einfordern sollte?

  • Kinder brauchen zumindest eine Person, die sie um ihrer selbst willen liebt, denn die Achtung vor anderen Menschen setzt Selbstachtung voraus.
  • Kinder brauchen eine klare soziale, räumliche und zeitliche Verlässlichkeit.
  • Kinder brauchen ein Grundmaß an Ordnung und Regeln.
  • Kinder brauchen auch die Einbettung in die Beziehung zu anderen Menschen.

Eltern sind die wichtigsten Vorbilder für ihre Kinder. Wer als Mutter oder Vater Versprechen nicht hält, der wird seine Kinder umsonst zu Glaubwürdigkeit und dem Einhalten von Verabredungen ermahnen. Wer als Mann nie zu Hause hilft, muss nicht erstaunt sein, wenn auch die Söhne kleine Paschas werden. Ohne Orientierung und Vorbilder, ohne Regeln und die Übernahme von Verantwortung und Verbindlichkeit kann weder Erziehung gelingen noch gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen.

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Erziehung und auf klare Regeln. Wichtige Maßstäbe sind dabei das Recht auf gewaltfreie Erziehung und das Lernen gewaltfreier Konfliktregelung. Kinder müssen auch an erster Stelle in der Familie lernen, wie man mit den Medien umgeht und in der Fülle der Angebote eine sinnvolle Auswahl trifft.

Die hier in Freiburg vertretenen sozialen Organisationen verfügen über einen reichen Schatz an Erfahrungen und Kompetenzen, was Familienberatung und Familienbildung, Kinderschutz und Jugendhilfe angeht. Es gibt viele gute konzeptionelle Ansätze, zum Beispiel die Familienzentren. Es gibt Elternbriefe, Internetangebote, Studien - alles das ist notwendig und wird aus meinem Ministerium in vielen Fällen gefördert.

Wir brauchen darüber hinaus weitere Ideen. Zum Beispiel, wie wir in den Schulunterricht familienkundliche Elemente einbauen bzw. verstärken können. Oder wie wir die großen Fernsehanstalten zu mehr Engagement im Hinblick auf Erziehungsfragen in Sendungen mit hohen Einschaltquoten bewegen können.

Ich will ein Beispiel dafür nennen. Wir starten in diesen Tagen die Kampagne "SCHAU HIN!" Partner sind unter anderen die Zeitschrift Hörzu, die ARD, die Computer-Firma Intel. Die Kampagne will Erwachsenen helfen, Kinder zu einem bewussten Umgang mit Gewaltdarstellungen in elektronischen Medien hinzuführen.

Diese Initiative braucht Sachverstand. Deshalb sind Verbände und Institutionen eingeladen, ihr Wissen einzubringen. Ihre Kompetenzen sind wichtig, um die inhaltliche Qualität der Initiative sicherzustellen.

Kindeswohl, sozialer Nutzen und ökonomische Effizienz können sich sinnvoll ergänzen. Der Ausbau der Kinderbetreuung bietet mittelfristig beträchtliche volkswirtschaftliche Effekte. Berechnungen zum Beispiel des DIW ergeben Gewinne, die bis zu dreimal so hoch sind wie die Kosten.

Das ist die gesamtwirtschaftliche Seite. Untersuchungen aus den USA belegen, dass es auch handfeste betriebswirtschaftliche Argumente für eine familienfreundliche Unternehmenspolitik gibt. Deshalb nun: ... Von entscheidender Bedeutung für unternehmerische Produktivität wie eine taugliche soziale Architektur ist die Balance von Familienleben und Arbeitswelt.

Hierzulande ist die eben erwähnte "betriebswirtschaftliche" Herangehensweise noch wenig eingeführt und nicht empirisch belegt. Deshalb freue ich mich, dass sich eine Reihe von Unternehmen, große aber auch mittlere und kleinere, bereit erklärt haben, in Zusammenarbeit mit meinem Hause nach strengen betriebswirtschaftlichen Rechnungen Effekte von Familienfreundlichkeit zu überprüfen. Ich bin mir sicher, dass wir dabei auch in Deutschland zu positiven Ergebnissen kommen: Familienfreundlichkeit lohnt sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Im Sommer werde ich die entsprechende Auswertung der Öffentlichkeit vorstellen.

Ohne das aktive Mitwirken von Unternehmen und ohne Gewerkschaften, die beide gemeinsam den Schlüssel für die Veränderung von "Berufszeit" in den Händen halten, wird es keine angemessene neue Konzeption von Zeit für Kinder geben, für Familienzeit. Im Rahmen einer entstehenden "Allianz für Familie" diskutiere ich das mit den Spitzen der Gewerkschaften und der deutschen Wirtschaft.

Erforderlich ist, ergänzend zur Bereitstellung unterschiedliche Module öffentlicher und privater Betreuung, die Entwicklung einer familien- und frauenfreundlichen Unternehmenskultur. Aus meiner Sicht sollten folgende Gesichtspunkte im Mittelpunkt gemeinsamer Positionsfindung bis Anfang 2004 und anschließender Vereinbarungen stehen:

  • Angebote flexibler Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation
  • Betriebliche Infrastruktur von Kinder- und Angehörigenbetreuung ergänzend zu den öffentlichen Angeboten
  • Eine familienbewusste Personalentwicklung
  • Wiedereinstieg nach der Familienphase.

...

Quelle

Auszug aus der Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend anlässlich des 76. Deutschen Fürsorgetages am 7. Mai 2003 in Freiburg

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