Hans-Joachim Rohnke
Bei meiner langjährigen Beratungstätigkeit ist mir immer wieder aufgefallen, dass nicht wenige Kindertagesstätten Mühe damit haben, sich der Geschichte ihres pädagogisch-konzeptionellen Werdegangs gewiss zu sein. Gemeint sind damit z.B. die Fragen nach dem Woher und Wohin, dem Wieso und Weshalb der pädagogischen Arbeitsweisen und der damit verbundenen Überlegungen.
Zweifelsohne haben mittlerweile nahezu alle Kindergärten ein pädagogisches Konzept (nicht zuletzt deswegen, weil zwischenzeitlich u.a. die Betriebserlaubnis der Kindertagesstätte daran gekoppelt ist) oder sogar ein Qualitätsmanagement. Längst nicht alle Einrichtungen sind hingegen in der Lage, auch differenziert etwas über die Herkunft, die Entwicklungsetappen sowie die Begründungszusammenhänge der darin formulierten Standpunkte zu sagen.
Das ist schade. Denn: Jede Jugendhilfeeinrichtung ist ein System, in dem unterschiedliche Wirk- und Gestaltungskräfte Einfluss nehmen und in verschiedenen Entwicklungsphasen genommen haben. Es gibt natürlich Spuren in der hauseigenen Geschichte, in der es bemerkenswerte Ereignisse bewusster und unbewusster Art gab. Bestimmte Aktivitäten und Prozesse wurden forciert, stagnierten oder unterblieben. Für das Verständnis der eigenen Haus- und Betriebskultur ist es hilfreich, sich über das Auf und Ab des zurückgelegten Wegs, seiner Umwege, Abkürzungen und Wendungen sowie seiner unterschiedlichen Beschaffenheit im Klaren zu sein. Es sollte keine "schleichenden", quasi unbemerkten oder verdrängten Vorgänge geben, die sich scheinbar hinter dem Rücken der Beteiligten ereignet haben.
Gerade für die erfolgreiche Gestaltung der Leitungsrolle ist es bedeutsam, sich hier um Transparenz zu bemühen und sich immer wieder des eigenen Standorts vergewissern zu können. Das geht nur mit einem konstruktiven Verhältnis und dem Wissen um die Höhen und Tiefen der eigenen Hausgeschichte. Sie sollte bekannt, begriffen und verstanden sein; in ihr lagern Vermächtnisse und Erfolge, aber auch Irrwege, Fehler, Niederlagen und Enttäuschungen.
Ich denke, dass ein solcher Zugang zu einem gesteigerten Verständnis für die Vorgänge und Zeitläufte der Haus- und Einrichtungskultur führen kann und dass es behilflich ist für die Charakterisierung von bedeutsamen Identitätsmerkmalen der jeweiligen Einrichtung. Das heißt konkret, z.B. über die folgenden Fragen Auskunft geben zu können:
- Welche pädagogischen Strömungen, Stichworte und Zielsetzungen haben den pädagogischen Prozess und unser Handeln geprägt?
- Welche Vorgaben gab/gibt es durch den Träger?
- Welche Impulse haben anregenden und initiativen Charakter gehabt?
- Welche Werte und Haltungen haben wann und warum eine Rolle gespielt?
- Wo gab es Konsens oder Dissens, warum wurden Überzeugungen und Arbeitsweisen verworfen, revidiert oder möglicherweise zugunsten neuer Ausrichtungen ausgetauscht?
Ich bin sicher, dass ein derart reflektierter Umgang mit der eigenen Historie ein wesentlicher Baustein für die Ausbildung eines belastbaren Selbstbewusstseins ist und dass es ein Ausdruck von Reife darstellt, sich dem stellen zu können, was sich ereignet und letztlich zu dem jeweils aktuellen Profil einer Einrichtung geführt hat. Dazu gehört selbstverständlich das Erfolgreiche, Gelungene, aber auch das manchmal schmerzhaft oder schwierig Erlebte dazu.
Leitungskräfte, die sich hierfür sensibilisieren, können einen höheren Grad an Souveränität für die Bewältigung von notwendigen Veränderungsprozessen erlangen und sich mit mehr Gelassenheit auf Anpassungserfordernisse einlassen. Sie wissen, dass die Geschichte von Organisationen ein Geschehen immer wieder notwendiger Erneuerungen und Aktualisierungen ist und dass sie wichtige Moderations- und Steuerungsfunktionen bei dieser Monitoringaufgabe haben. Sie sollten daher diesen Chancen nicht aus dem Weg gehen, sondern offen und zugewandt den Tatsachen und damit verbundenen Herausforderungen ins Auge sehen.
Nicht immer wird es angenehm sein, sich mit bestimmten Entwicklungen zu konfrontieren; sie wecken manchmal auch Gefühle von Verärgerung, Trauer, Ohnmacht und Enttäuschung. Dafür aber gibt es Gründe, Ursachen und Erklärungen. Sich ihnen zu stellen kann eine karthartische Wirkung haben. Es geht darum, möglichst viel von dem zu verstehen, was um uns herum geschieht. Die nüchterne, sachliche Analyse von stattgehabten Entwicklungen kann schließlich dazu führen, notwendige Einsichten zu erlangen und neue Handlungsoptionen in den Blick zu nehmen. Nicht selten sind sie überlebenswichtig oder existenzsichernd.
Auch hier haben Leitungskräfte eine Lotsen- und beispielgebende Vorbildfunktion. Sie müssen den Mitarbeiter/innen das Gefühl geben können, dass bei notwendigen Innovationsdebatten nicht der falsche Eindruck entsteht, "dass früher scheinbar alles schlecht war", sondern das es das war, was damals nach bestem Wissen und Gewissen gemacht werden konnte. Nunmehr gäbe es aber benennbare Kriterien, die bestimmte Anpassungs- und Wandlungserfordernisse in den Fokus rücken. Sie müssen von den Führungskräften überzeugend, kenntnis- und faktenreich dargelegt werden können, um die Mitarbeiter/innen von der Notwendigkeit von Veränderungen überzeugen zu können. Letztlich handelt es sich hierbei um eine Kernkompetenz, die für die Sicherung eines zeitgemäßen Bildungs- und Erziehungskonzepts von Bedeutung ist. Darin drückt sich ein professionelles Selbstverständnis aus, das gerade auch im Prozess der Personalfindung und der Einrichtungspräsentation für die Standortsicherung einen hohen Stellenwert hat.
In der Logik dieser Argumentation ist es also Aufgabe der Leitungskraft, dafür zu sorgen, dass es eine dokumentierte Geschichte der Einrichtung gibt, die regelmäßig und kontinuierlich fortgeschrieben und gepflegt wird. Sie sollte mit geeignetem Bildmaterial unter- bzw. hinterlegt und am besten auch in einem tauglichen Präsentationsprogramm abrufbar sein. Dies kann einrichtungsintern gegenüber der Teilöffentlichkeit "Einrichtungsnutzer" geschehen, aber z.B. auch online, um einem deutlich erweiterten Kreis von Interessent/innen einen qualitativ hochwertigen Einblick in die Schlüsselsituationen und Meilensteine der Einrichtungsentwicklung zu geben.
Ich bin sicher, dass eine solche Form der aktiven Bearbeitung und Darstellung der Einrichtungsgeschichte einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz und Wertschätzung für die von außen kommenden Betrachter/innen einerseits, aber auch für ein gutes Selbstwertgefühl der gegenwärtig beschäftigen Akteure andererseits bieten kann. Ich denke, dass sich die hierfür aufgewendete Energie lohnt und dass sie in der gefühlten Wirkungsbilanz (Elternbefragungen können diese Ansicht sichtbar machen) der Einrichtungsaktivitäten einen vorderen Platz einnehmen wird. Eine gute Möglichkeit sehe ich z.B. darin, einen Teil der jährlichen Konzepttage dafür zu nutzen (Motto: Was halten wir für den zurückliegenden Berichtszeitraum für erinnerungswürdig, was sollten wir für Interessierte und für unsere eigene Selbstvergewisserung dokumentieren?).
Autor
Hans-Joachim Rohnke, Dipl.-Päd. & Dipl.-Sup. (DGSv)
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