Kerstin Paulussen
Entstehungskontext
Die Entwicklung der Soziometrie geht auf Jacob Levy Moreno (1934) zurück, welcher das Soziogramm und das Psychodrama, eine szenische Darstellungsform, entwickelte.
Die Psychologie war Anfang des 20. Jahrhunderts eine junge und kritisch betrachtete Wissenschaft, die zunächst stark von Freuds Psychoanalyse geprägt war. Deren Grundannahme war es, menschliches Verhalten als Ergebnis innerpsychischer Prozesse zu sehen, die von Trieben, insbesondere dem Sexualtrieb, gesteuert sind. Eine Betrachtung, die eher unabhängig vom Umfeld stattfindet.
Gegensätzlich dazu war der Forschungsansatz von Kurt Lewin (1982), der die Art und Ausgestaltung menschlichen Handelns in Abhängigkeit der eigenen Bedarfslage zum Umfeld und dessen Möglichkeiten sah. Diese erforschte er vor diesem Hintergrund Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Günzel, 2008). Die Ergebnisse mündeten in der Feldtheorie, die er auf soziale Kontexte bezog (Lewin, 1982). Darauf aufbauend entstanden weitere wissenschaftliche Erkenntnisse, die heute die Systemtheorien darstellen (vgl. u.a. Günzel, 2008; Lück, 2021 und Stützle-Hebel & Antons, 2017).
Die etablierten Wissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Naturwissenschaften. Sie brachten Erfindungen hervor, die, zumindest bei den bürgerlichen Mitgliedern der Gesellschaft, als positive Veränderungen der Lebensbedingungen bewertet wurden; das Auto, chemischer Dünger, elektrisches Licht, Wasserkraft, etc. Motiviert durch das Bemühen auch die sozialen Wissenschaften zu etablieren und sicherlich auch durch den Zeitgeist geprägt, entstand der Anspruch analog zu der Naturwissenschaft messbare, darstellbare und belegbare Ergebnisse zu erhalten und darzustellen (vgl. Lück, 2001, S. 7 ff.; Ash & Ebich, 2010, S. 217). In den Sozialwissenschaften wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, parallel zu den Naturwissenschaften, nach Möglichkeiten gesucht soziale Prozesse mit mathematische Formeln zu ermitteln und darzustellen:
Zum Beispiel mit der Formel: V = f(P,U), die, wie im Folgenden zitiert, zu lesen und zu verstehen ist: „Nach der Gleichung ist das Verhalten (V) eine Funktion (f) der Person (P) und der Umwelt (U)“ (Lück 2001, S. 53). So sollte das Verhalten, welches, wie von Lewin (1982) angenommen, in einem sozialen Kontext entstanden ist, mathematisch ausgedrückt werden.
Lewin (1982) wählte für die Darstellung von Verhalten, welches in Abhängigkeit zum Umfeld entsteht, die Jordankurve, dessen Außenlinien die Grenzen des Lebens- bzw. Handlungsfeldes widerspiegeln. Es handelt sich bei der Jordankurve um ein Element der Topologie, einem Teilgebiet der Mathematik, und wurde nach dem Mathematiker Camile Jordan (1838-1922) benannt (vgl. Lück, 2021).
Die vertiefende Annahme Lewins (1982) zum Zustandekommen von Verhalten im sozialen Kontext, war die durch Annährungs- bzw. durch Abwendungsbedarfe motivierte Handlung, wodurch sich Ambivalenzen zwischen unterschiedlichen und sich widersprechenden Bedarfen ergeben (vgl. Stützle-Hebel & Antons, 2017).
Zum Beispiel: Einerseits möchte und muss eine Person arbeiten gehen, um den Lebensstandard zu sichern und um dem Bedürfnis nach sinnvoller Betätigung nach zu gehen, andererseits aber ist sie müde und darüber hinaus gibt es da noch einen Konflikt mit Kollegen ...
Als Jordankurve dargestellt, ergibt sich folgendes Bild:
- = Person x, welche die oben beschriebene Ambivalenz empfindet.
Anziehungsaspekte bzw. Ablehnungsaspekte, die mit unterschiedlichen Valenzen/Wertungen
(+ + +) / (- - -) belegt sind. Da ist das Bett, zu welchem eine hohe Anziehung besteht, bzw. die Arbeit, welche mit dem Konflikt zum Arbeitskollegen gekoppelt ist und daher eher mit einer Abneigung verbunden ist.
Die darauf erfolgende Handlung ist Ergebnis der Valenzen zu den Bedingungen des Lebensraumes und der eigenen Motivation und Bedürfnislage.
Innerhalb der Tendenz naturwissenschaftliche Darstellungs- und Berechnungsmöglichkeit zu entwickeln, entstanden weitere grafische Verfahren, u.a. das Soziogramm (Moreno, 1934), die unter den Begriff Soziometrie subsumiert werden. Soziometrie ist ein Sammelbegriff, für alle weiteren entwickelten Methoden zur grafischen Darstellung von sozialen Beziehungen, Prozessen, Ressourcen und Strukturen in unterschiedlichen sozialpädagogischen Kontexten.
Literaturverzeichnis
Ash, M. G. & Ebich, S. (2010). Psychologie, Band 5: Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010. Berlin: Akademie Verlag.
Günzel, S. (2008). Kurt Lewin und die Topologie Schlüsselwerk der Sozialforschung. In: F. Kessl, Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Hg. Stadtler, C. (2013). Soziometrie Messung, Darstellung, Analyse und Intervention in sozialen Beziehungen. Wiesbaden: Springer VS.
Kohn, B. (Regisseur). (2018). Der Psychologe Kurt Lewin - Pionier der Gruppendynamik [Kinofilm]. Von wr.de/swr2/wissen/kurt-lewin abgerufen
Lewin, K. (1982). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. In: Kurt-Lewin-Werkausgabe Bd. 4. Bern: Huber.
Lück, E. (11.01.2021). socialnet. Abgerufen am 13.12.2022 von Das Netz für Sozialwirtschaft: https://www.socialnet.de/lexikon/Feldtheorie
Lück, H. E. (2001). Kurt Lewin. Eine Einführung in sein Werk. Weinheim: Beltz.
Moreno, J. L. (1934). Who shall survive? Foundations of Sociometrie, Group Psychotherapy and Sociodrama. Washington, DC: Nervous and Mental Disease Publishing Co.
Paulussen, K. (2023). Was ist los in meiner Gruppe? Begleitung von Gruppenprozessen in Kita Schule und Jugendhilfe. Freiburg: Lambertus Verlag.
Stützle-Hebel, M. & Antons, K. (2017). Einführung in die Praxis der Feldtheorie. Heidelberg: Carl Auer Verlag.