Selbstwirksamkeit, Selbstbildung und Zumutungen im pädagogischen Konzept der offen arbeitenden Aktivkindergärten

Aus: KiTa-aktuell HRS, Nr. 12/2004, S. 251 ff. (Der Text wurde dort in leicht veränderter Form erstmalig abgedruckt.)

Hans-Joachim Rohnke

In den 1980er-Jahren starteten Umfragen in Mainz, um etwas über den Stellenwert der Kindergartenpädagogik in Erfahrung zu bringen. In diesen Tagen dachte eine Mehrzahl der Interviewten, daß im Grunde genommen der Aufenthalt in einem Kindergarten die schlechtere Alternative zur häuslichen Erziehung sei, und daß das Beste, was einem Kind widerfahren könne, die uneingeschränkte mütterliche Fürsorge und Präsenz wäre.

Die oben erwähnten Umfragen zeigten, daß Kindergärten nach damaligem Verständnis eher als etwas für arme, bemitleidenswerte Kinder angesehen wurde, die auf öffentliche Betreuungseinrichtungen angewiesen waren.Und in der Tat, ein Blick in die Berufspraxis dieser Zeit zeigt uns, daß in den meisten Einrichtungen nicht allzu viel Aufregendes passierte.

Etwas polemisch und mit einem Augenzwinkern formuliert, hangelte sich eine Vielzahl des Erziehungspersonals in vielen Einrichtungen thematisch-inhaltlich häufig an den Jahreszeiten entlang, berücksichtigte je nach Trägerschaft die christlichen Feiertage, feierte Geburtstage, empfing am 6. Dezember den Nikolaus und schwenkte am St. Martinstag die frisch produzierten Käseschachtellaternen. Dazwischen gab es Elternabende, an denen z.B. die spannenden Themen Verkehrserziehung, Zahnhygiene und Weihnachtsbasteleien für den Kindergarten-Basar bearbeitet wurden. Holzklammeruntersätze, adventlicher Tischschmuck und Eierwärmer erblickten hier das Licht der Welt und bereicherten so manchen Gabentisch. Höhepunkte waren die jährlichen Besuche bei der Polizei, dem Bäcker und der Feuerwehr. Hinzu kamen die täglichen Stuhlkreise, das gemeinsame Singen, die Turnstunden und die alljährlichen Sommerfeste, an denen die neuesten Kreationen grellbunter Kreppkostüme die Aufführung der Vogelhochzeit bereicherten.

Rückblick: Die Einrichtungen

Kurz: Das Kindergartenjahr war überschaubar, durchstrukturiert und ritualisiert und bezog sich auf ein methodisch-didaktisches Inventar, das sich im Großen und Ganzen jährlich wiederholte und seinen dokumentarischen Niederschlag in sogenannten Wochenplänen fand. Der Tag war gegliedert, das Programm stand im Wesentlichen fest. Das Spiel- und Lernmaterial war ordentlich in den Schränken verwahrt, übersichtlich, katalogisiert und hygienisch einwandfrei. Die Erzieherin "herrschte" über 25 Kinder, häufig noch in der gleichen Altersgruppe, und steuerte in oftmals viel zu kleinen Räumen das Geschehen. Sie war die Königin der Prickelspiele, Bauklötze, Farben, Pinsel und Puppenstuben und händigte die Schablonen oder Arbeitsblätter z.B. für die Anreicherung der Vorschulmappen aus.

In diesem zugegebenermaßen etwas zugespitzten Szenario entfaltete sich eine "Sitz- und Bastelpädagogik", mit der im Grunde genommen alle Beteiligten mehr oder weniger einverstanden waren. Die wiederkehrenden Alltagsroutinen gaben Sicherheit, indem sie das menschliche und demzufolge auch erzieherische Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität bedienten. Erzieher/innen waren deshalb auf der sicheren Seite, wenn sie diese überlieferten Gewohnheiten reproduzierten und nicht allzu viele Veränderungen forcierten. Die Mehrzahl der Eltern dankte es ihnen mit liebevoll zubereiteten Kinder-Geburtstagstorten, Nudelsalaten, gesunden Vollkorn-Frühstücksbroten und artigen Abschiedsgedichten am Ende der ach so schnell verflossenen Kindergartenzeit.

Die Träger

Vielfach nicht anders: die Träger. Auch sie waren es in der Regel zufrieden, wenn die Dinge "im ruhigen Fluß" blieben, die Eltern sich nicht beschwerten, die Verbrauchs- und Sachmittel im etatmäßigen Bereich verharrten, die Kinder bei diversen Festivitäten und Jubiläen als anrührend singende Kulisse parat standen und sich zumindest zeitweise ein Bild des partikularen Glücks und der generationsübergreifenden Harmonie im kleinen Gemeinwesen einstellte. Schließlich finanzierte man dieses kostenträchtige Projekt mit erheblichen Finanzmitteln aus dem eigenen, ewig angespannten Haushalt.

Von den Kindern wurde im Wesentlichen erwartet, daß sie sich brav verhielten, und das bedeutete in erster Linie, sich einzufügen in beengte Räumlichkeiten, in überfüllte Gruppen und in die offiziellen und inoffiziellen Kita-Spielregeln. Das hieß zudem vor allem, den aus- und unausgesprochenen Anweisungen und Aufforderungen der Erzieherin zu folgen und deren Anregungen, also Arbeits- und Spielvorgaben, möglichst freudig, engagiert und erfolgreich umzusetzen. Die Bildungsinhalte bestanden darin, am Ende der Kindergartenzeit den korrekten Gebrauch einer einfachen Industrieserienschere demonstrieren zu können, den eigenen Namen schreiben und buchstabieren zu können, Farben auseinanderhalten, bis zehn zählen, einen Stift halten und vor allem die Schuhbändel binden und den Toilettenbesuch möglichst eigenständig absolvieren zu können. Damals wie heute ging es vor allem darum, frühzeitige Anschlußfähigkeit an bestehende, d.h. gesellschaftliche Kulturleistungen und Konventionen zu erbringen, zu viel kindlicher Eigensinn oder gar Autonomie war hier eher störend.

Pädagogische Sicht: defizitorientiert

Der pädagogische Blick der Erwachsenen richtete sich im übrigen vielfach auf sogenannte Defizite der Kinder, die teilweise akribisch in entsprechenden Beobachtungsbögen festgehalten wurden und nicht selten zur Grundlage der im Anschluß durchgeführten, meist etwas angesäuerten Elterngespräche avancierten. Ziel war dabei, das erkannte Defizit vor allem zu beseitigen, nicht etwa es zu verstehen und ursachenorientierte Umgangs- und Lösungsansätze zu entwickeln. Diese eher verhaltenspsychologische Sichtweise führte nicht selten zur Ein- und Durchführung korrigierender Trainingsprogramme mit oft erfolgreicher Korrektur der behandelten Symptome. Konditionierungsprogramme heißt der Fachausdruck hierfür.

Unruhe brachte in dieses Treiben das Aufkommen von anspruchsvolleren Lernkonzepten wie etwa die - allerdings früh gescheiterte - Vorschulmappenbewegung sowie der Situationsansatz. Die Vorschulmappen verschwanden meines Erachtens auch deshalb in der Versenkung, weil viele der früh beschulten Kinder zu Schulversagern avancierten und in ihren sozialen Kompetenzen zurückblieben. War ersteres der Versuch, mehr schulisches Lernen vor dem Hintergrund der "Bildungskatastrophendiskussion" in den Kindergarten zu transportieren, so bedeutete letzteres, ein reformorientiertes Bild von kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten in den Köpfen zu verankern.

Allerdings sind mit diesen beiden Stichworten "Vorschulmappen" und "Situationsansatz" zwei prägnante Pole bezüglich der Vorstellung vom Lernen kleiner Kinder markiert. Vereinfacht gesagt handelte es sich bei der Mappenpädagogik um den Versuch, Lerninhalte in kindgerechte methodisch-didaktische Formen zu gießen und diese zu einem in der Regel vom Erzieher bestimmten Zeitpunkt an die Kinder heranzutragen. Es handelte sich also um eine Art früher Lehr- und Lernplan für Lehrer und Schüler, der die Themen und Unterrichtsformen weitgehend vorgab - positiv formuliert also ein sogenanntes Vorschulcurriculum, polemisch gesprochen Instruktions- oder Steuerungspädagogik. Die Rolle des Kindes war im wesentlichen als die einer auf Anforderungen reagierende gesehen. Lerninhalte, Zeitpunkte, Wege, Ergebnisse und Bewertung der Lernprozesse waren in der Regel definiert oder ließen den Beteiligten wenig Spielraum für Eigenes.

Im Verständnis des Situationsansatzes hingegen geht es um die Fähigkeit des Pädagogen, auf die Lernbedürfnisse und Lerninteressen des Kindes zu achten und sie zum Ausgangspunkt für die Gestaltung von Lernmileus und -arrangements zu machen. Anknüpfungspunkte sind u.a. die durch aufmerksame Beobachtung des Pädagogen gefundenen Themen und Inhalte, die das Kind durch sein Verhalten oder durch seine sonstigen Äußerungen signalisiert. Bearbeitet werden die Themen dann vorwiegend in sogenannten Projekten, die ein Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten und dem Kind unterschiedliche Zugänge und breitgefächerte Erfahrungen (möglichst unter Einbeziehung aller Sinne) ermöglichen. Der Situationsansatz ist klar subjektorientiert, verweist er doch in seiner Zielstellung auf die Stärkung von individuellen Kompetenzen. Das Kind soll mit den dort erworbenen Fähigkeiten "zukünftige und neue Lebenssituationen" besser bewältigen können.

Dieser Ansatz galt - jedenfalls in der Literatur - als für die alten Bundesländer vorherrschend und wurde nach dem Beitritt der neuen Bundesländer auch dort implementiert und als offiziell favorisierter Ansatz der bildungspolitisch Verantwortlichen vielerorts gefördert.

Hürden in der Praxis

Tatsächlich aber haben sich viele Erzieher/innen immer schwer mit diesem Ansatz getan. Erstens haben sie die entsprechende Unterstützung und Vorbereitung in ihrer Fachschulausbildung meist als unzureichend erlebt. Zweitens waren die materiellen Rahmenbedingungen in den Kindertagesstätten eher spärlich. Dadurch war es häufig schwierig, mit den knapp bemessenen Verfügungszeiten eine ausreichende Reflexionskultur, etwa zur gewissenhaften Suche geeigneter Projektthemen oder für eine ausgewogene Deutung kindlicher Verhaltensweisen, zu etablieren. Drittens war es nicht einfach, herauszufinden, welche Themen für welche Zielgruppe die richtigen waren und was man in der Zwischenzeit beispielsweise mit dem Rest der Gruppe machte - und womöglich das alles auch noch in einem Raum. Woher sollte man die Zeit für fachlich anspruchsvolle Dokumentationen nehmen? Wie und wann kommunizierte man das komplexe Geschehen an die Eltern usw.? Und mit welcher Gewißheit war man eigentlich sicher, die richtigen Themen gefunden und deren Bearbeitung richtig dimensioniert zu haben? usw., usf. - kurz und gut, ein anspruchsvolles Konzept im Kampf mit den Niederungen alltäglicher Praxis, die durch viele Handicaps beeinträchtigt war.

Konzept der "offenen Arbeit"

Leichter taten sich viele Kolleg/innen hingegen mit dem pädagogischen Konzept der "offenen Arbeit", das in den 1990er Jahren zunehmend an Popularität gewann. Hier fanden sie das bestätigt, was viele von ihnen im pädagogischen Alltag erlebten, zum Beispiel

  • daß Kinder eigenaktiv und neugierig sind,
  • daß Kinder bereits genetisch disponiert sind, sich die Welt aktiv anzueignen,
  • daß jedes Kind über einen individuellen Entwicklungsplan verfügt,
  • daß Kinder in Phasen lernen, die sich nicht in 45- minütigen Zeitrhythmen einfangen lassen,
  • daß Kinder im Kindergartenalter mit allen Sinnen lernen,
  • daß Kinder temporär auftretenden Lernbereitschaften haben,
  • daß nachhaltiges Lernen bedeutet, die Lernthemen der Kinder ernst zu nehmen,
  • daß Kinder Akteure ihrer eigenen Entwicklung sind,

und vieles mehr.

Beobachtet hatten dies diejenigen Pädagoginnen, die angefangen hatten, die starren Gruppenaufteilungen zu lösen und gruppenübergreifende Angebote wie z.B. die Bewegungsbaustelle einzurichten. Sie stellten fest, daß die Kinder neue Spielgruppen bildeten, innerhalb derer sich neue Rollenkonstellationen ergaben, und intensive, das heißt engagierte und kreative Aktivitäten entfalteten. Sie sahen, daß Kinder unbefangen und ambitioniert Spiele und Projekte entwickelten und eigenverantwortlich und -initiativ vorantrieben. Sie bemerkten, daß Kinder ihre eigenen Erklärungsansätze für die Phänomene in ihren Umwelten entwickelten, und stellten fest, daß sie sich diese untereinander austauschten und dabei ihr Wissen vermehrten und korrigierten. Sie nahmen wahr, daß Kinder längere Zeit an ihren Vorhaben blieben und daß sich bestimmte Lernprozesse vor allem im Erfahrungslernen des "learning by doing" vollzogen.

Wandel der Erzieherrolle

Die Erzieher/innen stellten fest, daß Kinder sich in kleinen Lerngruppen organisierten, dort ihre Spielvorhaben aushandelten, Rollen verteilten, Regeln festlegten und in intensiven Gesprächen ihre Artikulationsfähigkeit übten und verfeinerten. Sie konnten festhalten, daß sich die Konzentration der Kinder erhöhte, das schüchterne Kinder anfingen, aus sich herauszugehen, daß das Selbstbewußtsein der Kinder stieg und daß der allgemeine Aggressionspegel deutlich zurückging. Überall zeigte sich eine Zunahme an Bewegungsfreude, an Kreativität, Kommunikations- und Dialogbereitschaft. Die Kinder begannen, mehr Verantwortung für sich und ihr Handeln sowie das Gemeinwesen zu übernehmen, und übetn sich in ersten Beteiligungs- und Mitgestaltungsformen. Die Erzieher erfuhren, daß es weniger darauf ankam, sich als Erwachsener einflußnehmend und korrigierend einzubringen, sondern daß es vor allem wichtig war, gut zuhören und aufmerksam beobachten zu können. Auf diese Weise erwarben sie sich das Vertrauen und die Zuneigung der Kinder, die sie dann bei Bedarf als Ratgeber und Helfer ansprachen.

Die Rolle der Erzieher wandelte sich von einem Gestaltungs- und Steuerungsverständnis hin zu einer Begleit- und Coachfunktion, die ermutigt, bestätigt und Beziehung gestaltet, dort wo dies erwünscht ist. In erster Linie ist sie darauf bedacht, den Respekt vor der Einmaligkeit und der Würde der kindlichen Persönlichkeit zu leben und dabei das Kind nicht bloßzustellen oder zu beschämen. Es gilt, sich nicht aufzudrängen, sondern vor allem durch eigenes Vorbildverhalten den Kindern positive Identifikationsmöglichkeiten für die Entwicklung erfolgreicher sozialer und kommunikativer Kompetenzen anzubieten. Dies bedeutet auch die Achtung der kindlichen Nähe- und Distanzbedürfnisse, die diese in Bezug auf andere Personen zeigen.

Hinzu kommen das genaue Beobachten und Ernstnehmen der kindlichen Lernsignale und -themen, um diese tatkräftig durch die Bereitstellung von geeigneten Informationen und Materialien zu unterstützen und gegebenenfalls mit der Durchführung von thematisch passenden Projekten zu ergänzen. Ähnlich gilt für die Ausgestaltung und Ausstattung der Räume mit stimulierenden und anregenden Gegenständen, deren hoher Aufforderungscharakter dafür wirbt, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Veränderte pädagogische Ansätze

In diesem Verständnis von Pädagogik kündigte sich nicht nur ein praktikabler und erfolgreicher, sondern auch ein höchst anspruchsvoller pädagogischer Ansatz an, der, wie sich Jahre später erwies, sich höchst kompatibel zu den modernen Erkenntnissen der Kindheitsforschung und den neurobiologischen Wissenschaften verhält. Zusammenfassend formuliert hatten diese herausgefunden, daß Kinder von Anfang an sich selbst bilden, daß sich individuelle genetisch programmierte Entwicklungsfenster zu bestimmten Zeitpunkten öffnen und schließen und daß Kinder vor allem besonders nachhaltig im Austausch mit anderen Kindern lernen. Hier tauschen sie ihre Welterklärungsmodelle und sonstigen Verstehensansätze aus, modifizieren sie ständig im Dialog und lernen auf diese Weise Neues hinzu. Das heißt, sie vergleichen das neue Wissen mit ihren bisherigen Verstehenskonzepten und integrieren oder korrigieren neue Plausibilitäten in diese Konzepte.

Diesen Erkenntnissen kommt das Konzept der "offenen Arbeit" geradezu spektakulär entgegen. Die Kinder finden ein breit gefächertes Erfahrungs- und Erlebnisgelände in und außerhalb der Einrichtung vor. Sie können eigeninitiativ den Erfordernissen ihrer individuell geöffneten Entwicklungsfenster und ihrer Themen nachgehen, indem sie klar strukturierte und gut ausgestattete Funktionsräume nutzen und sich in selbstgewählten Lern- und Spielarrangements betätigen, erproben, bewähren und auch scheitern. Sie finden Erzieherinnen in ihrer Nähe, die ihre Bestrebungen wohlwollend unterstützen und die vor allem Zeit hierfür finden, da sie nicht mit der Durchführung von allgemeinen Lernprogrammen oder sonstiger Aktivitäten gebunden sind. Sie haben Zeit und Muße für den individuellen Kontakt, die individuelle Zuwendung, das Gespräch und das Reflektieren und Nachvollziehens des persönlichen Entwicklungsweges und die Lernbedürfnisse eines Kindes.

Ja, höre ich Sie sagen, muß denn das Kind nicht auch lernen, sich mit unangenehmen Anforderungen auseinanderzusetzen? Dürfen die Erwachsenen denn überhaupt keine Forderungen und Erwartungen an die Kinder herantragen? Selbstverständlich dürfen sie das. Es ist sogar ihre Aufgabe, die kulturellen Besitzstände, das Wissen, die Werte und Normen der Gesellschaft an die Kinder, also die Folgegeneration, zu vermitteln. In der Kindheitsforschung hat sich hierfür der Begriff der "Zumutung" eingebürgert. Für die Pädagogen ergibt sich hieraus allerdings die Erfordernis - ich würde eher von "Kunst" sprechen -, diese klug und intelligent zu handhaben.

Die Lernforscher lehren uns, daß nachhaltiges Lernen im Unterschied zu häufig nicht Begriffenem oder vordergründig auswendig Gelerntem vor allem etwas damit zu tun hat, wie der Lernende sich dem bereitgehaltenen Stoff nähert. Es ist für den Lernerfolg und das Lernergebnis von hoher Bedeutung, daß der Lehrende sich auf die Fragen und Perspektiven des Lernenden einläßt, dessen gedanklichen Be- und Verarbeitungsweisen der angebotenen Inhalte wertschätzt, zuläßt und versucht, sie so gut wie eben möglich zu verstehen.

Erneut geht es darum, den individuellen Aneignungsweg, d.h. vorhandene Denkarchitekturen, wahrzunehmen und zu respektieren. Dies bedeutet, sich zu vergegenwärtigen, daß Informationen nach bestimmten Regeln, Ordnungen und Strukturen aufgebaut sind, die vom Empfänger in ein bestehendes, individuell geformtes neuronales System integriert und damit quasi umsortiert werden müssen. Das heißt, sich das in Erinnerung zu rufen, was uns die Kommunikationswissenschaften schon seit Jahren benennen, daß nämlich der Sender einer Information ausschließlich an der Reaktion des Empfängers erkennen kann, was von seiner Botschaft und vor allem wie seine Nachricht angekommen ist.

Klar ist, dies ist durchaus mühsam, aufwendig und erfordert vom Lehrenden bzw. vom Sender Disziplin und die Bereitschaft, sich ganz auf sein Gegenüber einzulassen. Erneut sind Qualitäten wie gutes Zuhören, Einfühlungsvermögen, Geduld und Dialogbereitschaft gefordert, genauso wie sprachliches Vermittlungsgeschick (z.B. mit Bildern, Beispielen und Analogien arbeiten zu können oder zu erkennen, mit welchem Wahrnehmungstyp man es zu tun hat). Dies setzt kreative und sensible Fähigkeiten voraus.

Der Pädagoge agiert oder doziert nicht mehr, sondern setzt einen Impuls, wartet auf die Reaktion und füttert gleichsam aus seinem Informationspool die Informationen, die jetzt beim Zuhörenden benötigt werden. Das heißt, er reagiert auf die Reaktion und paßt seine Inputs sukzessive dem sich zeigenden Wahrnehmungsmuster an. Wenn er dabei noch darauf achtet, durch geschicktes Fragen seinen Zuhörer nach Möglichkeit dazu zu bringen, eigenständig Lösungen und konsequentes Denken hervorzubringen, dann hat er nach heutigem Wissen sein Menschenmögliches getan, einen Lernvorgang optimal zu begünstigen.

Qualität ist immer anspruchsvoll und hat ihren Preis. Hochwertige Pädagogik ist keine Massenveranstaltung. Sie sucht, dem einzelnen Kind seinen Raum zu lassen, sich zu entfalten und sich in seinen Möglichkeiten, Talenten und Fähigkeiten zu erfahren, und nicht durch vorschnelle Anpassungszwänge Versagensängste und Rückzugstendenzen zu begünstigen.

Solche Vorstellungen sind naturgemäß in öffentlich betriebenen Einrichtungen nicht leicht einzulösen - zu sehr sind sie Sparzwängen und anderen Wirtschaftlichkeitserwägungen ausgesetzt. Umsomehr steht mit der offenen Arbeit ein Ansatz zur Verfügung, der auch angesichts schwieriger Rahmenbedingungen Freiräume und Chancen eröffnet, die den Kindern zugute kommen können. Freilich, das Konzept ist anspruchsvoll und setzt motivierte und engagierte Erzieher/innen voraus. Es wäre für sie deutlich bequemer, sich hinter Schablonen- und Arbeitsblättern zu verschanzen.

Nun aber ist Flexibilität gefragt. Es gibt nicht mehr meine/ deine Gruppe. Es gibt "unser" Haus und "unsere" Kinder. Wir müssen uns in organisatorischen Belangen gut absprechen, und wir müssen uns über unsere Wahrnehmungen und deren Einschätzungen verständigen und klären, welche Konsequenzen sich daraus für unsere Arbeit ergeben, sowohl in der Betrachtung der Entwicklungsverläufe einzelner Kinder als auch in der Frage, welche Zumutungen jenseits der Eigenaktivität der Kinder vor allem in Form der Projektarbeit als geeignet und sinnvoll erscheinen.

Wozu Bildungspläne?

Nun gut, werden Sie sich als Leser jetzt vielleicht fragen, wenn das der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist, warum werden dann überall im Land Bildungspläne, -empfehlungen und -vorgaben entwickelt, die teilweise sehr detailreich Beispiele benennen und Anregungen geben, was Erzieher/innen mit den Kindern veranstalten können oder sollten?

Die Formulierung von Bildungsverständnissen, -standards und -empfehlungen ist ein wichtiger Schritt, die Arbeit der Kindertagesstätten ins allgemeine Bewußtsein zu heben und ihr die gebührende Achtung zu verschaffen. Viele der in den letzten Jahren gesammelten Forschungs- und Projektergebnisse werden hier zusammengeführt und werden somit einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die begriffliche Anstrengung ist wichtig und hilfreich. Nur was auf den Begriff gebracht, also versprachlicht werden kann, ist auch verstanden.

Vieles von dem, was Erzieher/innen bereits in der Vergangenheit praktiziert haben, ist in die Bildungspläne eingeflossen, etliches kann als Anregung und Erweiterung bisheriger Verständnisse gesehen werden und Grundlage für die Revision und kritische Prüfung bestehender konzeptioneller Orientierungen werden. Für die Elementarpädagogen, die sich dem Konzept der "offenen Arbeit" verpflichtet sehen, findet sich eine Fülle von Bestätigungen und Unterstreichungen ihrer Arbeitsweisen. Gerade die Ausführungen zu den Themen "Bildung" und "Erzieherrolle" beschreiben wichtige Kernsätze, die für die offen arbeitenden Kolleg/innen von zentraler Bedeutung sind.

Abschließend sei mir noch eine wichtige Anmerkung erlaubt. Bei aller Euphorie, mit der gegenwärtig die Bildungsmöglichkeiten der frühen Jahre bejubelt werden, muß eines klar betont werden: Im internationalen Maßstab sind die Aufwendungen für Bildung in Deutschland viel zu gering. So liegen wir beispielsweise im Vergleich zu den europäischen Spitzenreitern der PISA-Studie, also den skandinavischen Ländern, um fast ein Viertel bis ein Drittel hinter den Aufwendungen (bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt) zurück.

Es muß aus meiner Sicht - und das sage ich als unabhängiger Berater, der fast seit 20 Jahren durch die deutsche Kindergartenlandschaft reist - Folgendes klar sein: Wenn die vielen guten Ideen, Anregungen und Pläne nicht zu schönen Absichtserklärungen "verkommen" sollen - das wäre zweifellos schade -, dann muß auf der Basis von realistischen Kapazitätsberechnungen der empirisch-statistische Beweis erfolgen, was von wem unter Nutzung welcher Ressourcen zukünftig leistbar ist. Der verträumt-verliebte Blick auf die Taube am Dach mit dem Spatz in der Hand wird uns nicht weiterbringen.

Es muß gelingen, die Gesellschaft davon zu überzeugen, daß Investitionen in den Kita-Bereich die entscheidende Voraussetzung für die Zukunftschancen unserer Kinder sind. Es muß deutlicher werden, daß Kinder und ihre Eltern in dieser Gesellschaft wirklich willkommen sind. Eltern spüren das an hinreichend differenzierten Betreuungsangeboten, Erzieher an ausreichend bemessenen Verfügungszeiten für Reflexion, Vor- und Nachbereitung und Mitteln für ihre Fort- und Weiterbildung. In diesem Sinne sind wir alle aufgefordert, wo immer wir es können, uns aktiv für die Verbesserung unseres Bildungswesens einzusetzen. Ich bin davon überzeugt, daß unsere Kinder es uns danken werden.

Autor

Hans-Joachim Rohnke
Dipl.-Päd. & Dipl.-Sup., DGSv
Beratung * Training * Supervision
Frankfurter Str. 3
36355 Grebenhain
Mobil: 0172/6561204
Email: hjrohnke@t-online.de

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