Vorspann zur Checkliste: „Praxiserprobte und bewährte Merkmale Offener Arbeit“

 (Version 1, 22.03.22)

Hans-Joachim Rohnke

Die Folgen der SarsCov 19 Pandemie haben insbesondere für die Arbeitsbedingungen offen arbeitender Kindertagesstätten beträchtliche Einschränkungen mit sich gebracht. Vielerorts wurden u.a. sogenannte Gruppensettings zur alleingültigen und ausschließlich erlaubten Gruppenformation erklärt und die Beteiligten eindeutigen Hygiene-, Abstands- und Kontaktregularien unterworfen. Konkret bedeutete dies: Es wurden u.a. streng ausgewiesene Aufenthalts- und Bewegungsbereiche wurden definiert, in denen auch die Anzahl der sich dort aufhaltenden Kinder limitiert wurde.

Insbesondere die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen und Umgangsverbote waren für viele Kinder, Eltern und Erzieher*innen häufig unschlüssig, nur schwer zu verstehen bzw. nachvollziehbar. Je nach Bundesland erlebten sie z.B., dass sie morgens und abends im gleichen Fahrzeug mit ihren Freunden in die Kita an- und abreisten und zwischendurch in der Kita ein striktes Kontaktverbot zum gleichen Personenkreis eingehalten werden musste, weil bspw. der Freund oder die Freundin einer anderen Gruppe zugeteilt war. Diese nicht schlüssigen Erfahrungen haben zu erheblichen Irritationen geführt und konnten in ihrer Widersprüchlichkeit auch von Eltern und Erzieher*innen nicht wirklich aufgelöst bzw. nachvollzogen werden.

Diese Kontaktbeschränkungen waren aber längst nicht das Einzige, was Kinder, Eltern und Erzieher*innen zu erleiden hatten. Neben den beträchtlichen Reduktionen der Möglichkeiten der sozialen Interaktionen dürften sich mindestens genauso nachteilig z.B. die Einschränkungen in Bezug auf spontane Bewegungserfahrungen, vor allem im grobmotorischen Bereich (Psychomotorik), ausgewirkt haben. Das spontane Aufsuchen von gruppenübergreifenden Örtlichkeiten, wie bspw. die Entscheidung für den Aufenthalt in einer Bewegungsbaustelle als Betätigungs- und Aufenthaltsort oder der Gang ins Außengelände war häufig nicht mehr gegeben. Hinzu kam, dass durch die Umwidmung der Funktions- und Themenräume (mit ihrem differenziert und großzügigem Angebot in Hinblick auf die Realisierung von selbstinitiierten und interessengeleiteten Lernen) in Gruppenräume sich die Entfaltungs- und Erprobungsgelegenheiten für die Kinder in erheblichem Umfang reduziert hatten. Althergebrachte Klein-Klein-Strukturen reüssierten.

Bezogen auf die im SGB VIII (§1) formulierten Bildungs- und Erziehungsziele der Kita-Pädagogik wie „Selbstbestimmtheit“, „Eigenverantwortung“ und „Gemeinschaftsfähigkeit“ wird deutlich, dass hier in bedeutendem Maße Abstriche in Bezug auf kindliche Erfahrungsmöglichkeiten zu verzeichnen waren. Für Kinder also Zumutungen vorgesehen wurden, die für sie beträchtliche Verluste ihrer Entwicklungschancen und -erfordernisse zur Folge hatten. Spontaneität, Impulse intrinsischer Motivation, eigeninitiative Handlungsantriebe mussten durch den strengen Filter der Prüfung der Frage nach der Regelkonformität laufen, um hierauf meist negativ beschieden zu werden.

Ein weiterer beunruhigender Umstand scheint in der Tatsache zu liegen, dass Erzieher*innen offenbar beobachten konnten, dass die Kitaschließungen zur Folge hatten, dass die rückkehrenden Kinder Kommunikations- und Kontaktprobleme mit ihren Peers zeigten. Die zwischenzeitlich überwiegend auf Erwachsene gerichteten Interaktionen haben andere Kommunikationsmodalitäten, nämlich weniger Kind adäquate in den Vordergrund geschoben. Erwachsene kommunizieren naturgemäß anders als Kinder (z.B. elaborierter, rationaler, abstrakter, mehr wissensbasiert, begriffssicherer, stärker ziel-, effizienz- und zweckorientiert und weniger fantasievoll).

Auch hier wäre es gut zu wissen, wie sich diese Beobachtungen möglicherweise auf die Entwicklung der Kinder und deren Sozialkompetenz auswirken. Wir wissen: Kinder sind für andere Kinder entscheidende Interaktionspartner und wichtige Entwicklungsbeteiligte und -partner. Wesentliche Bildungsprozesse laufen im Dialog, im gemeinsamen Spiel und im sozialen Miteinander (Stichworte: Ko-Konstruktionen, Rollen- und Regelklärungen, Rituale, Spiegelungsmechanismen, Nachahmungslernen, gruppendynamisches Geschehen usw.). Falls sich hier dysfunktionale Verfestigungen oder Verstetigungen zeigen würden, gäbe es auch hierzu dringenden Aufklärungs- und Handlungsbedarf!

Waren dies einige herausstechende Merkmale aus der Perspektive der Kinder, so sind auch auf der Personalebene Veränderungen zu verzeichnen: die Mitarbeiter*innen klagten über die verringerten Zeiten für Austausch und Reflexion, über weniger Begegnungsmöglichkeiten, über erzwungene Kontaktabbrüche zu Kindern und Erwachsenen und weiteren Akteur*innen der Szene. Man musste sich regelrecht „aus dem Weg“ gehen. Längst nicht überall konnte mit der häufig schlecht ausgebauten digitalen Infrastruktur diesem Kommunikations- und Interaktionsmangel adäquat begegnet werden. Die Folge war z.B. ein deutlicher Qualitätsverlust in Bezug auf multiperspektivische Beobachtungsmöglichkeiten und den hieran sich anschließenden Austausch mit anderen Fachkräften, Eltern und Diensten.

Es gibt bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt – meines Wissens – keine Forschungsbefunde zu diesen Beobachtungen und Berichten aus der Praxis. Es ist daher umso wichtiger, auf die Stimmen der Betroffenen (Bedienstete, Eltern und Kinder und weiterer Involvierter) zu hören, um sich ein Bild von sich zeigenden Entwicklungen wie Kommunikations- und Kontaktstörungen, ggf. Entwicklungsverzögerungen und weiteren unerwünschten Beeinträchtigungen machen zu können.

Hier braucht es ein Monitoringsystem mit differenzierten Beobachtungskriterien, um die nunmehr seit 2 Jahren problematisch und bedenklichen Entwicklungen sicht- und diskutierbar zu machen. Es werden Diskussionsforen und Plattformen benötigt, um die festgestellten Phänomene einzubringen, auszutauschen, zu vergleichen und mit dem nötigen Sach- und Fachverstand (vor allem auch wissenschaftlich) zu besprechen und einschätzen zu können. Selbstverständlich müssen daraus Empfehlungen und geeignete Lösungsvorschläge hervorgehen, um mehr Handlungssicherheit und eine differenzierte Reflexionskultur für die Akteur*innen in und außerhalb der Kindertagesstätte zu ermöglichen.

Es geht dabei nicht um ein „Schwarze Peter Spiel“ oder die Frage: „Wer hat Schuld und das alles zu verantworten?“. Es geht um die nüchterne Bilanzierung dessen, was sich im Schatten der Pandemie, quasi unter der Hand, im Wesentlichen ohne beabsichtigtes Zutun, sondern vor allem hinter dem Rücken der Beteiligten entwickelt hat. Hier brauchen wir breite Bestandsaufnahmen und differenzierte Betrachtungszugänge. Das Ziel muss sein, die Vorgänge ins Bewusstsein zu heben, aus den Erfahrungen zu lernen und vor allem für die Zukunft wohlüberlegte Konsequenzen und Schlussfolgerungen zu ziehen, um mögliche Schäden oder Nachwirkungen so gering wie möglich zu halten. Wir müssen lernen, Präventivmaßnahmen für die sich sehr wahrscheinlich wiederholenden, anschwellenden Erkrankungswellen in Vorbereitung zu haben, um weitere problematische Diskontinuitäten der pädagogischen Arbeit abzumildern.

Für einen Neustart (bzw. eine Reaktivierung oder den Start) in die Offene Arbeit findet sich im Folgenden ein Katalog von Merkmalen, die sich in der Praxis der Offenen Arbeit bewährt haben und die wichtige Best-Practice-Leitlinien für eine Wiederaufnahme der Fachdiskussion vor Ort zur Verfügung stellen. Sie dienen zur Standortbestimmung und zeigen möglichen Entwicklungs-, Handlungs- bzw. Verbesserungsmöglichkeiten auf. Angeknüpft werden sollte dort, wo die Beteiligten die meiste Veränderungsenergie bzw. den dringendsten Veränderungs- oder Aktivierungsbedarf verspüren (wo immer dies möglich erscheint, sollen die Kinder und Eltern beteiligt werden!).

Autor und Kontaktdaten

Hans-Joachim Rohnke

email: hjrohnke@t-online.de

Mobil: 0172 6561204

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