Minette Petri
"Der Begriff Bildung umfasst sowohl den Vorgang der Entfaltung, das Bewirken dieser Entfaltung durch Erziehung und Unterricht als auch ihr Ergebnis (den jeweiligen Grad der Geprägtheit der Persönlichkeit)...
Bildung ist in erster Linie die Entwicklung und Förderung geistig-seelischer Anlagen und Fähigkeiten: logisches Denken, Ausdruckskraft, Tiefe der Empfindung, Willensstärke sollen im selbsttätigen Umgang mit dem Objekt (den Bildungsgütern) entwickelt werden. Sie soll - unabhängig von Zwecken - einer allseitigen Entfaltung der allen Menschen gemeinsamen Grundkräfte dienen, zu einer 'allgemeinen Emporbildung der inneren Kräfte der Menschennatur' führen..." (Aus: Das moderne Lexikon, München, Bertelsmann, 1971, Band 3, Seite 32f.).
Die offene Arbeit, die sich in vielen sozialpädagogischen Einrichtungen bereits etabliert hat, entwickelte sich aus den veränderten Lebensbedingungen und Bedürfnissen unserer Kinder heraus. Wahrscheinlich findet sie deshalb so große Zustimmung unter Pädagogen/innen, vor allem jedoch bei den Kindern. Ebenso stößt sie aber auch auf Kritik: "Die Kinder machen doch nur noch das, was sie wollen", meinen die Kritiker - "Na und?", entgegnen die Befürworter. Vielleicht ist es die beste Lösung, gemeinsam einen Weg aus dem unerschöpflichen Morast von Verhaltensauffälligkeiten, zunehmenden Aggressionsneigungen, Kommunikations- und Konzentrationsschwächen und dem überstarken Bewegungsdrang zu finden.
Die Pädagogen der offenen Arbeit vertreten die stark in die Diskussion gekommene Aussage: "Das Kind ist Akteur seiner Entwicklung." Sie entfachte immer wieder kritische Reflexionen über das eigene Menschenbild der Erzieher/innen und über die Art und Weise, dieses pädagogisch umzusetzen. Veränderte Lebensumstände und Verhaltensweisen der Kinder fordern geradezu den Ansatz der offenen Pädagogik zu neuen Wegen und Ufern der Kleinkindpädagogik heraus. Ist es hier doch den Kindern möglich, sich ausnahmsweise einmal selbst zu organisieren. Sie können Vorstellungen realisieren, die außerhalb der Einrichtung nicht zustande kommen sollen oder können: "Was möchte ich heute tun, mit wem möchte ich spielen, was ist heute bei mir los, wie geht es mir, was fühle ich?" Zu solchen Ideen und Fragen haben die Kinder von heute kaum Zeit. Sind sie doch meistens durch unsere verbaute Umwelt und unsere hektische Gesellschaft mit Hobbys und anderen Aufgaben in ihrer wenigen Freizeit verplant.
Den Kindern in der offenen Arbeit soll ein Stück der alten Kindheit, ja des eigenen Ichs wieder zurück gegeben werden. Die Pädagogen/innen des offenen Ansatzes vertreten daher die Ansicht, dass Kinder geballte Kräfte in sich bergen, die der Selbstgestaltung ihrer eigenen Entwicklung förderlich sind. Diese Grundhaltung gegenüber dem Kind prägt die tägliche Arbeit mit ihnen. Deshalb sehen sich sie sich als Begleiter der Kinder, nicht aber als ihre Animateure.
Es gibt keine Fremdmotivation (zumindest nicht über einen längeren Zeitraum), sondern nur eine Eigenmotivation. Diese Eigenmotivation entwickelt sich bei einem Kind aufgrund der verschiedenen Bildungsangebote in einer offenen Einrichtung. Kann es doch selbst entscheiden, mit was es wo und mit wem an einem Tag spielen möchte.
Unter dem Gesichtspunkt der Bildung hat ein/e Erzieher/in die Möglichkeit, sich in der offenen Arbeit zu einer Fachfrau bzw. zu einem Fachmann zu entwickeln - verbringen die Pädagogen/innen schließlich im regulären Fall mindestens vier Wochen in einem Funktionsraum (Bauzimmer, Rollenspielzimmer, Bastelzimmer, Werkstatt, Spielzimmer, Turnraum etc.). Das bietet Zeit, sich zu bilden.
Dies bedeutet letztendlich, sich mit Lust am Lernen und aktiver Neugier neue Wissensbereiche anzueignen. Voraussetzung neuer Bildungschancen in Kindergärten ist selbstverständlich die Tatsache, dass nur der, der selbst gern lernt, sich auch in Lernsituationen mit Kindern von ihrer Spontaneität und ihrer Lernlust anstecken lässt. So entstehen im offenen Kindergarten Lerngemeinschaften zwischen Kindern und Erziehern. Jeder profitiert vom anderen. Man macht sich gemeinsam auf den Weg zu neuen Wissensufern und somit zu neuen Bildungsperspektiven und Bildungsinnovationen: Bildung in der Gemeinschaft, weg von Frontalangeboten, die von Erziehern an Kinder weitergegeben werden, hin zu gemeinsamen Aktivitäten, von denen noch keiner genau weiß, ob sie in einem riesigen Projekt oder nur in einer gemeinsam organisierten, glücklichen Stunde am Tag enden.
So bleibt keiner bei seinem Wissensstand stehen. Lernimpulse, neue Lernansätze springen zwischen Erziehern und Kindern hin und her. Sich gemeinsam auf den Bildungsweg machen, die Neugier der Kinder, ihren unersättlichen Wissensdurst fördern und ihn nicht ersticken, ist die beste Voraussetzung, neue Bildungsangebote in Kindertagesstätten zu schaffen.
Künftig sollte die gesamte Situation in Kindereinrichtungen von Pädagogen/innen als eine Forschungs- und Bildungssituation verstanden werden, damit sich die am Kind orientierte Arbeit weiterentwickeln kann. Offenes Arbeiten bedeutet immer in geistiger Bewegung bleiben, nicht zu stagnieren oder sich fest zu fahren in Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft. Arbeiten in einer offenen sozialpädagogischen Einrichtung ist ein immer fortwährender Prozess, der durch ständigen Wandel geprägt ist, denn nichts auf dieser Welt ist so beständig wie der Wandel.
Also, trauen wir unseren Kindern, machen wir uns mit ihnen gemeinsam auf den Weg. Begleiten wir sie ein Stück auf ihrem Weg und fördern ihre mitgebrachten Fähigkeiten. Holen wir jedes Kind da ab, wo es mit seinen Fähigkeiten steht, mit dem vollen Vertrauen in seine Lernkompetenz und seine Leistungsfähigkeit. Jeder Tag kann ein neues Bildungsabenteuer für alle sein!