Aus: Becker-Textor, I./Textor, M.R.: Der offene Kindergarten - Vielfalt der Formen. Freiburg, Basel: Verlag Herder, 2. Aufl. 1998, S. 21-34
Ingeborg Becker-Textor
Die Öffnung von Gruppen - offene, gruppenübergreifende Angebote ebenso wie offenes Arbeiten in Funktionsräumen - zählt zu den Formen des offenen Kindergartens. Die einen sprechen begeistert von der Öffnung von Gruppen, die anderen sind verhalten und voller Skepsis. Das Konzept wird vorschnell verworfen - mit der Begründung, dass eine Art Chaos entstehen würde und der fehlende Gruppenzusammenhalt sich äußerst negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken könnte. Die Kritiker bringen nicht selten ihre Vorbehalte ein, ohne über eigene experimentelle Erfahrungen mit der Öffnung zu verfügen. Oft bestehen auch Ängste dahingehend, dass die Öffnung von Gruppen nach enger Zusammenarbeit im Team verlangt, nach Abstimmung nicht nur in den Inhalten von Angeboten, sondern vor allem auch hinsichtlich des Erzieherverhaltens und des Erziehungsstils.
Wenn die Öffnung von Gruppen gelingen soll, so bedarf dies intensivster Vorbereitung. Alleine mit der Öffnung von Türen in einem Kindergarten ist es nicht getan. Es bedarf eines ausgewogenen Erziehungskonzeptes und eines langen Atems. Die Öffnung von Gruppen kann in einem bestehenden und bis dahin traditionell arbeitenden Kindergarten nur schrittweise und prozesshaft vollzogen werden. Momente des Innehaltens sind dabei ebenso wichtig wie hin und wieder auch schnelle Schritte. Die Abwägung, was geht oder nicht, liegt in der Hand des Teams. Wenn die Öffnung von Gruppen gelingen soll, dann bedarf es eines ausgeprägten Teamgeistes und einer kooperativen Leitungsstruktur. Wollen Erzieherinnen lieber nur in ihrer Gruppe arbeiten, fürchten sie die Konkurrenz mit anderen oder vermuten sie, dass sich die Kinder bei freier Auswahl vielleicht stärker auf eine Kollegin konzentrieren würden, so ist der Zeitpunkt für den Beginn einer Öffnung noch nicht erreicht.
Es gilt also, keine vorschnellen Entscheidungen in Richtung Öffnung zu treffen. Ein Rückschlag und das damit verbundene Gefühl des Scheiterns können für lange Zeit den Öffnungsprozess lähmen oder gar verhindern. Das gleiche gilt für die Übernahme eines Konzeptes, das in einer anderen Einrichtung erarbeitet wurde. Jeder Kindergarten ist einmalig. In ihm leben und wirken Menschen, die einmalig sind. So kann ein Erfolgskonzept nicht unbesehen und unreflektiert auf andere Kindergärten übertragen werden. Der Individualität von Erzieherinnen und Kindern würde nicht Rechnung getragen, ein Erfolg von vorneherein zweifelhaft.
1. Die Öffnung von Gruppen
Zunächst ein Praxisbeispiel aus einem kirchlichen Kindergarten in W.:
Ein zweigruppiger Kindergarten befand sich im Bau. Die Anmeldungen liefen im Pfarramt ein. Es wurden Kinder zwischen drei und sechs Jahren angemeldet, denn im Stadtteil gab es bisher keinen Kindergarten, so dass viele ältere Kleinkinder noch nicht im Kindergarten waren. Etwa gleichzeitig mit der Eröffnung des Kindergartens wurden mehrere Wohnblocks mit preisgünstigen Familienwohnungen bezugsfertig. So standen auch viele Kinder auf der Warteliste, die schon in einem Kindergarten waren, aber in Kürze aufgrund des Umzugs ihrer Familie die Einrichtung wechseln sollten.
Schon einige Monate vor der Eröffnung des Kindergartens stand fest, welche Mitarbeiterinnen in der Einrichtung tätig sein würden. Der Träger lud zu mehreren Vorbesprechungen ein und legte großen Wert auf eine konzeptionelle Vorbereitung. Zwei Monate vor der Eröffnung lud er auch alle interessierten Eltern ein, um zu erfahren, was ihre Erwartungen an den neuen Kindergarten waren (für den Pfarrer war es übrigens das erste Mal, dass er die Trägerschaft eines Kindergartens übernahm). Gleichzeitig konnten auch die künftigen pädagogischen Mitarbeiterinnen erste Kontakte zu den künftigen Kindergarteneltern aufnehmen.
Gemeinsam wurde beschlossen, den Kindergarten systematisch "aufzufüllen", d.h., die Kinder im Verlauf eines Monats in kleineren Grüppchen aufzunehmen. Die Eltern waren mit diesem Verfahren einverstanden, denn sie wollten, dass sich ihr Kind bald eingewöhnt und wohl fühlt. Daraufhin wurde die Abfolge der Aufnahmen besprochen. Familien, die besonders dringend einen Platz brauchten, wurden einvernehmlich zuerst berücksichtigt. Aus dieser Aufnahmepraxis resultierte dann die Öffnung der Gruppen bzw. deren Auflösung.
So startete der Kindergarten am Eröffnungstag mit 15 Kindern. Die Eltern wurden gebeten, möglichst zwischen 7.30 Uhr und 8.00 Uhr mit ihrem Kind zu kommen. Es gab einen Empfangstrunk. Erzieherinnen, Eltern und Kinder stellten sich gegenseitig vor. Für jedes Kind war ein Namensschild vorbereitet, die Eltern schrieben den Namen des Kindes auf (oder das Kind schon selbst), und die Kinder konnten es noch ausgestalten. Dann wurde es um den Hals gehängt. Bald entwickelte sich daraus ein Spiel, denn die Kinder drehten ihr Namensschild um und fragten augenzwinkernd: "Weißt du noch, wie ich heiße?"
Das Team hatte beschlossen, mit dem Auspacken der Spielmaterialien zu warten und dies gemeinsam mit den Kindern zu tun. Nachdem an diesem ersten Tag der Kindergarten erkundet worden war, begannen Erzieherinnen und Kinder, die ersten Sachen auszupacken. Selbstverständlich versanken die Kinder schnell ins Spiel. Neugierig kamen sie am nächsten Tag wieder - gespannt, was wohl in weiteren Kartons verborgen sein könnte.
Am vierten Tag kamen einige weitere Kinder. Sie wurden von den anderen Kindern herzlich begrüßt, in die Geheimnisse des Kindergartens eingeführt und an der spannenden Auspackaktion beteiligt. Bald war die Kinderzahl einer Gruppe erreicht. Was nun? Zu diesem Zeitpunkt wurde der Entschluss gefasst, es mit der Auflösung von Gruppen zu versuchen. Die Kinder entschieden sich, ob sie im schon "fertigen" Gruppenraum spielen oder bei der Ausgestaltung des zweiten Gruppenraumes mithelfen wollten. Interessant war, dass sie sich stark an der Kinderzahl orientierten und ohne Dazutun der Erzieherinnen merkten, wann es zu viele Kinder bei einer Aktion waren.
Nach drei Wochen war der zweigruppige Kindergarten in Betrieb, jedoch ohne feste Gruppenzugehörigkeit der Kinder. Stattdessen waren die Gruppenräume jeweils einer Erzieherin und einer Kinderpflegerin verantwortlich zugeteilt, d.h., diese hatten die Verantwortung für den Raum. Übrigens waren beide Gruppenräume von der Grundausstattung her gleich. Auch hatten die Kinder beim Einräumen der Spielsachen die gleiche Systematik gewählt. Kommentar von Alex, fünf Jahre: "Also im ersten Schrank sind immer die Scheren und die Buntstifte. Dann kommen die Papiere und dann die Puzzles und dann die Legos und dann ... Das ist so, dass man alles findet, weil vielleicht geht man an einem Tag in das eine Zimmer und dann am nächsten in das andere." Die Kinder fanden selbst zu diesen Regeln.
Und es blieb bei der Auflösung der Gruppen: Am Morgen trafen sich die Kinder im großen Eingangsbereich des Kindergartens in der "Guten-Morgen-Ecke." Dort saßen alle von 7.15 Uhr bis circa 8.00 Uhr zusammen und erzählten sich gegenseitig etwas. Immer wieder kam jemand dazu. Dann entschieden sich die Kinder für einen Gruppenraum zum Freispiel. Später dazukommende Kinder warfen zuerst einen Blick in beide Gruppenräume und entschieden sich dann nach ganz unterschiedlichen Kriterien. Peter: "Oh, da spielen meine Freunde auf dem Bauteppich, die brauchen mich noch." Susi: "Ne, da geh' ich nicht rein, da sind mir zu viele Streithähne." Karla: "Ich geh' zur kleinen Tina, weil die ist immer so traurig ist. Heut' spiel' ich mal mit ihr in der Puppenecke." Die Kinder entwickelten aber auch ein Gespür für die Größe einer Gruppe: "Da ist es mir schon zu voll, geh' ich mal nach nebenan!" Die Entscheidung für einen Raum hatte Gültigkeit für einen Vormittag - oder bis zur Pause, wenn das Frühstück gemeinsam im Garten oder als "Indianer-Frühstück" in der Eingangshalle eingenommen wurde.
Somit waren alle eine Gemeinschaft. Es gab nicht mehr "meine" Erzieherin und "meine" Kinder. Dennoch: Wer wollte, konnte es so einrichten, dass er täglich mit den gleichen Erzieherinnen zusammen war.
Anfänglich erkundigten sich die Kinder: "Was machste denn heute mit uns?" Bald merkten sie, dass das Thema immer gleich war, aber dennoch jede Erzieherin andere Angebote machte - es aber vorher nicht verriet. So wurde die Abschlussrunde am Mittag (vor dem Abholen einzelner Kinder und vor dem Mittagessen für die Ganztagskinder) zu einem spannenden Moment des Tages. Alle trafen sich wieder im großen Eingangsbereich und berichteten. Dasselbe Thema hatte in den Gruppen zu den verschiedensten Aktivitäten und Ergebnissen geführt. Nicht selten kamen einige Eltern schon etwas früher, um diesen Abschluss des Vormittags mitzuerleben.
Diese Art der Arbeit war auch von Vorteil, wenn eine Mitarbeiterin ausfiel, weil die Kinder nicht nur auf eine Bezugsperson fixiert waren. Gleichzeitig entstanden ein Wir-Gefühl, eine neue Zusammengehörigkeit, gemeinsame Verantwortung.
Trotz der Auflösung von Gruppen bilden sich für Zeitabschnitte Gruppierungen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht im Regelfall immer nach einer (kleinen) Gruppe. Bei der Auflösung der festen Kindergartengruppen kommt es dazu, dass sich die Kinder selbst "ihre" Gruppe suchen und aus dieser auch wieder ausscheiden können; die "Gruppenbildung" wird also verlagert in die Verantwortung der Kinder und damit losgelöst von den Entscheidungen der Erzieherinnen oder gar der Eltern.
Von Eltern wird diese Freiheit ihrer Kinder oft nicht begrüßt. Die Mutter von Peter: "Ich möchte nicht, dass mein Peter mit Klaus Z. spielt. Es gibt gravierende Gründe, warum ich dies nicht will." Auf solche Wünsche kann dann seitens des Kindergartens nicht eingegangen werden. Im Übrigen waren gerade Peter und Klaus unzertrennlich. Peter war der "Beschützer" und "Therapeut" für den in seiner Entwicklung verzögerten Klaus.
Dieser Bericht mag manche Erzieherin motivieren, die Gruppenauflösung einmal auszuprobieren. Halt, Vorsicht! Sonst ergeht es Ihnen wie jener Leiterin, die nach den Pfingstferien verkündete, dass ab sofort alle Gruppenräume offen seien und kein Kind mehr eine feste Gruppe habe. Nach zwei Wochen machte sie ihre Entscheidung rückgängig. Sie erklärte der Fachberaterin: "Das, was die im Kindergarten St. J. machen, das muss ganz einfach zum Chaos führen. In unserem viergruppigen Kindergarten ging es jetzt tagelang drunter und drüber. Jetzt habe ich die Sache beendet. Jede Erzieherin hat wieder ihre Gruppe, und schon ist wieder Ordnung eingekehrt."
Je größer ein Kindergarten ist, desto schwieriger ist die Auflösung von Gruppen, insbesondere für die Mitarbeiterinnen. Bei offenen Gruppen muss jede Mitarbeiterin jedes Kind kennen und ist gegebenenfalls auch Ansprechpartnerin für alle Eltern. Es bedarf also einiger Zeit und guter Vorbereitung, will man diesen Weg gehen. Bei den konzeptionellen Überlegungen müssen auch der Träger, die Eltern und vor allem die Kinder eingebunden werden. Erst wenn alle bereit sind, sich auf das Wagnis einzulassen, kann gestartet werden.
Für Familien, die nun zum Kindergarten stoßen, werden die offenen Gruppen von Anbeginn an eine Selbstverständlichkeit sein - ein Bestandteil des Konzeptes der Einrichtung, die sie für ihr Kind ausgewählt haben. Sehr schnell kommen aber immer wieder Bedenken, dass die Kinder vielleicht zu wenig Förderung erfahren würden, da doch die kontinuierliche Zuwendung durch immer die gleiche Bezugsperson zu kurz komme. Mit Worten wird man allerdings gegen solche Befürchtungen wenig ausrichten können. Die Eltern müssen vielmehr erleben, wie sich ein Tagesablauf gestaltet, wenn der Kindergarten seine Gruppen quasi "auflöst" (vgl. hierzu das Kapitel "Öffnung des Kindergartens zur Familie hin").
Abschließend noch eine Anmerkung zur Personalsituation: Die Personalausstattung bzw. das Verhältnis von Erzieherinnen zu Kinderpflegerinnen entsprechen den üblichen Vorgaben von festen Gruppen, z.B.: Ein zweigruppiger Kindergarten mit je 25 Kindern pro Gruppe verfügt pro Gruppe über eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin. Bei Gruppenöffnung kommen dann 50 Kinder auf zwei Erzieherinnen und zwei Kinderpflegerinnen.
2. Gruppenübergreifende offene Angebote
Viele Kindergärten wählen einen anderen Weg der inneren Öffnung. Hier sind die Kinder festen Gruppen zugehörig. In regelmäßigen oder unregelmäßigen Zeitabständen werden aber gruppenübergreifende Angebote gemacht. Diese Art der Öffnung wird recht häufig praktiziert, da jede Mitarbeiterin in diesen Einrichtungen ihre besonderen Fertigkeiten und Interessen einbringen kann.
Den ersten Teil des Tages verbringen die Kinder in ihrer eigenen Gruppe. Nach der ersten Spielzeit oder Freispielzeit können sich die Kinder dann aber entscheiden, welches Angebot von welcher Fachkraft sie wählen wollen. Einige bevorzugen weiterhin freies Spielen oder Gestalten. Andere interessieren sich für das Werkangebot oder für die Bewegungsspiele. Und wieder andere wollen den erzählten Geschichten lauschen oder sind neugierig auf das neue Bilderbuch.
Bei den gruppenübergreifenden Angeboten muss das Kind zu seiner Entscheidung aber auch stehen. Ein Hin- und Herpendeln von einem Angebot zum anderen ist nicht möglich. Anforderungen, die dann möglicherweise an das Kind gestellt werden, kann es sich also nicht einfach entziehen: "Oh, das gefällt mir nicht, das ist doof. Ich geh' jetzt doch lieber turnen!" Die möglichen Angebote sollten deshalb den Kindern vorgestellt werden. Dann können diese Rückfragen stellen, und anschließend müssen sie ihre Entscheidung treffen. Der Gedanke, dass sie woanders vielleicht etwas versäumen, wenn sie sich nur für ein Angebot entscheiden, steht im Raum. Die Entscheidung wird jedoch sicherlich dadurch erleichtert, wenn die Kinder wissen, dass beim gemeinsamen Treffen vor der Mittagspause die Erlebnisse und Erfahrungen ausgetauscht werden können. Von diesem Austausch können dann Impulse für die Entscheidung des Kindes für eine Aktivität am nächsten Tag ausgehen.
Bei gruppenübergreifenden Aktivitäten ist ein Effekt ganz wichtig, nämlich dass das häufig auftretende "Konkurrenzverhalten" aufgebrochen wird. Weder ist eine Gruppe die bessere oder die schlechtere, noch wurde dort die langweiligere oder die spannendere Geschichte erzählt usw. Bedeutsam ist für die Kinder auch, dass sie erfahren, dass sich Interessengruppen bilden können. Auch wenn sie sich in ihrer "Heimatgruppe" wohlfühlen, ist es eine zusätzliche wichtige Erfahrung, dass sie an einer Aktivität teilhaben können, an der auch Kinder aus anderen Gruppen besonders interessiert sind.
Ein Beispiel aus einem Kindergarten in M. Die Leiterin berichtet:
"Wir bieten immer eine Kochaktivität an, weil wir die Mahlzeiten im Kindergarten - wir verwenden hauptsächlich Tiefkühlprodukte - durch bestimmte Beilagen oder Nachspeisen ergänzen. Oftmals beteiligt sich ein Kind über zwei bis drei Wochen an diesem Angebot, obwohl es gar kein Mittagskind ist. Edi, fünf Jahre: 'Naja, bei uns gibt's daheim jeden Tag Salat! Da weiß ich, wie der geht, also aus Salatblättern oder aus Gurken oder aus Tomaten. Da zeig' ich das den andern. Manche wissen gar nicht, wie Salat schmeckt. Da lass' ich die raten, so mit Augen zu. Na, ist das Gurke oder Tomate?' So hat Edi die Chance, sein daheim erworbenes Wissen einzubringen. Sonst ist er eigentlich ziemlich zurückhaltend, aber beim Kochen ist er stolz und taut richtig auf.
Die freie Wahl zwischen Angeboten ist meines Erachtens für die Kinder ganz wichtig und ihrer Entwicklung sehr förderlich. Wichtig ist allerdings die Elternarbeit. Eltern wollen nämlich oft nicht verstehen, dass sich ihre Kinder für etwas entscheiden, was ihnen selbst unwichtig und nicht förderdienlich erscheint. Hier gilt es, Eltern aufzuklären, insbesondere über die Motivation zum aktiven Lernen. Dann bauen sie nach geraumer Zeit ihre Vorbehalte ab."
Gruppenübergreifende Angebote können im Einzelfall auch als eine Aktivität für alle Kinder verstanden werden (allerdings nur bei zwei- oder eventuell dreigruppigen Einrichtungen). Hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Kindergartenpraxis:
Für die Kinder unserer beiden Gruppen spielten wir Erzieherinnen häufig Theater - nein, kein wohlvorbereitetes oder gar eingeübtes Theaterstück, sondern ein "Spontantheater" zu einem aktuellen Thema aus unserem Rahmenplan. Wir griffen zu dieser Form des Angebotes, wenn wir an die Kinder auf ganz unkonventionelle Art Informationen herantragen wollten. Quasi durch die Hintertür vermittelten wir ein bestimmtes Wissen.
Einmal wählten wir das Thema: "Wie kleide ich mich bei welchem Wetter richtig?" Manche Einrichtung hätte vielleicht ein Arbeitsblatt gewählt, die Kinder hätten beim Symbol der Regenwolke den Regenschirm, die Gummistiefel, den Schirm und den Regenmantel angekreuzt. Wir hingegen spielten Theater. Die Bühne war unser Bauteppich. Auf ihm lagen in der Ecke alle unsere Kleiderschätze aus der Klamottenkiste. Diese war bei uns eine wahre Fundgrube und enthielt vom Kinderlätzchen bis zum Brautkleid, von den Stiefeln bis zum Hut, von der Handtasche bis zum Modeschmuck einfach alles.
Anmerkung: Die Schätze lieferten uns die Eltern. Sie übernahmen bei Bedarf auch das Waschen der Klamotten, so dass der Unterhalt der Kleider kein Problem war. Übrigens bevorzugten wir Erwachsenenkleidung...
Gespannt saßen alle Kinder auf dem Boden und warteten. Wir spielten zu viert. Jede von uns verkleidete sich und schlüpfte somit in eine fremde Rolle. Alle waren wir nun Kinder. Während eine nach der anderen ihr Aussehen veränderte, stellten wir uns vor: "Also, ich heiße Marianne, ich geh' in den Kindergarten, ... ich trage so gerne Spitzenblusen und schöne Halsketten." Dann wurde über unsere Kleidung einfach die Bluse gezogen. Ein Kind eilte herbei, um die Halskette zu schließen.
Eine Kollegin sagte, dass sie gerne eine elegante Dame sein möchte, und fragte: "Was soll ich denn anziehen?" Die Kinder hatten viele Vorschläge. Ich selbst war in die Rolle einer Zeitungsreporterin geschlüpft und moderierte quasi die Aufführung.
Jetzt konnte das inhaltliche Spiel losgehen. Ich las aus einer Zeitung vor, dass es bald heftig regnen würde. Meine drei Mitspielerinnen lachten. Die elegante Dame sagte: "Ach was, ich sehe kein Wölkchen am Himmel. Der Wetterbericht irrt. Ich nehme doch keinen Regenmantel mit oder gar einen Schirm."
Da hüpfte ein Kind (Erzieherin) herbei und lachte: "Die wird's schon sehen, dann ist sie pitsche patsche nass. Also, ich ziehe mich richtig an. Aber was ist richtig?" Fragend schaute sie auf die Kinder. Sofort kamen gute Ratschläge. "Such Dir Gummistiefel. Siehst Du die gelbe Regenjacke dort?" Die Kollegin griff die Vorschläge nicht gleich auf, sondern fragte nach. "Warum soll ich denn unbedingt die Gummistiefel anziehen?" Die Kinder erläuterten es ihr.
Bald war sie regenfertig ausgestattet und lief hin und her. Da begegnete ihr die elegante Dame. Diese schüttelte den Kopf: "Was soll denn das? Wie sich dieses Kind gekleidet hat!"
Mittlerweile hatte die dritte Kollegin an einige Kinder mit Erbsen gefüllte Tamburine verteilt und einige Regenstäbe. Alle waren gespannt. Auf ein Zeichen hin begannen die Kinder mit dem Regenmachen. Die Kinder ohne Regeninstrument klopften mit den Findernägeln auf den Boden. Die Zeitungsreporterin legte den Zeigefinger an den Mund, es regnete sachte, auf Handzeichen kam es zum Platzregen.
Die Kollegin im Regenzeug hüpfte fröhlich auf und ab. Die elegante Dame rannte und rannte, fand aber erst nach einiger Zeit einen Platz zum Unterstellen. Sie spielte, als wäre sie pitsche patsche nass, leerte pantomimisch das Wasser aus ihren Schuhen, sie nieste, sie zog die Jacke aus und wand das Regenwasser heraus, sie strich sich den Regen aus dem Gesicht. "dass der Regen aber so plötzlich kommt. Meine Frisur kaputt, alles nass. Niesen muss ich auch schon, bloß jetzt keinen Schnupfen..."
Das Kind kam herbei: "Der Regen war doch angesagt. Schau, ich bin nicht nass. Durch die Gummistiefel kommt kein Wasser. Und am Regenmantel läuft das Wasser einfach ab. Schau, drunter bin ich trocken. Der ist nämlich wasserdicht."
Bei solchen Theaterstücken signalisieren die Kinder durch ihre Beiträge, wie es weitergehen kann. Sie sind begeistert bei der Sache. Während des ganzen Spiels sind wir für die Kinder übrigens nicht mehr die Erzieherinnen - schon die geringste Verkleidung lässt uns für die Kinder zu anderen Menschen werden.
Nachdem wir dann in unsere Erzieherrolle zurückgeschlüpft sind, bilden wir in der Regel Gruppen und lassen die Kinder vom Theater berichten: "Du, da war 'ne ganz elegante Frau, und die ist pitschenass geworden. Es hat doch geheißen, dass es regnet, und die hat's nicht geglaubt."
3. Offenes Arbeiten in Funktionsräumen
Bis vor kurzem nutzten die meisten Einrichtungen ihre Räume ganz traditionell: Im Gruppenraum wurden Spiele und Beschäftigungen durchgeführt, im Gruppennebenraum besondere Förderangebote gemacht (z.B. für die Fünfjährigen), im Turnraum wurde nur geturnt oder Rhythmik angeboten. Die anderen Räume waren für Kinder tabu. Große Flure nahmen nur die Garderobe auf. Die Küche war aus welchen Gründen auch immer für Kinder nicht zugänglich. Das Büro gehörte der Leiterin, das Personalzimmer den Mitarbeiterinnen. Abstellräume wurden abgeschlossen, um sie für Kinder unzugänglich zu machen. Somit wurden oftmals bis zu 50% der Fläche eines Kindergartens für den größten Teil des Tages nicht genutzt. Was ist dagegen zu tun?
Wie Erfahrungsberichte aus Kindergärten zeigen, bedarf es manchmal besonderer Ereignisse...
"Es begann mit einem Umweltprojekt... Als wir dann anlässlich eines Projektes zum Thema 'Umwelterziehung' Umweltberater eingeladen hatten, die mit ihrer Aktion alle Kinder und Eltern erreichen wollten, waren wir gezwungen, den Eingangs- und Garderobenbereich sowie den Gang des Kindergartens als Ort für die Veranstaltung zu wählen. Und damit war auch der Anstoß gegeben, diesen Bereich zukünftig in unserem Kindergarten intensiver zu nutzen. Heute bilden die Garderobe und der Zugang zu den Gruppenräumen eine große Spielfläche, auf der die Kinder (und Eltern) aller Gruppen zusammentreffen. Sie ist das Zentrum der Kommunikation für die Kleinen und Großen.
Dieser Bereich ist während des Tages allen Kindern aller Gruppen zugänglich. Eine autonome (von Erwachsenen unabhängige) gruppenübergreifende Begegnung wurde für die Kinder unserer Erfahrung nach erst dadurch möglich, dass wir einerseits bestimmte Materialien (z.B. großes Konstruktionsmaterial; Couch und Bilderbücher ...) gezielt in diesen Bereich verlagerten und andererseits gemeinsam mit den Kindern Regeln für das Benützen des 'Ganges' entwickelten...
Darüber hinaus haben wir gelernt, unser Kommunikationsforum vor den Gruppenräumen auch für gelenkte Angebote zu nutzen. Dieser Platz eignet sich besonders gut für Tätigkeiten, wie z.B. Spiele und Tänze, für die wir viel Platz brauchen. Immer wieder bieten wir derartige Aktivitäten für die Kinder unserer Gruppen auch außerhalb des Gruppenraumes an, dabei ergeben sich oft gruppenübergreifende Kontakte, wenn z.B. Kinder aus anderen Gruppen, die sich gerade im Eingangsbereich aufhalten, mitmachen wollen - und meist auch dürfen. Aber auch gezielte gruppenübergreifende Angebote, zu denen die Kinder (aller) anderer Gruppen von den verschiedensten Mitgliedern unseres Teams explizit eingeladen werden, sind in unserem Haus mittlerweise zur Gewohnheit geworden." (Team des Städtischen Kindergartens Graz-Rosenhain 1996, S. 84-85)
In vielen Kindergärten vollzieht sich eine derartige Öffnung (insbesondere wenn es sich um drei- und mehrgruppige Einrichtungen handelt) jährlich nach einer bestimmten Eingewöhnungszeit der neuen Kinder. Wenn sich die jungen Kinder im Kindergarten zurechtfinden, beginnen viele Erzieherinnen mit der Öffnung.
"Obwohl es in unserem Haus selbstverständlich war (und auch jetzt noch ist), dass die Kinder soziale Strukturen zuerst innerhalb der eigenen Gruppe erleben und festigen, und obwohl jede Kindergärtnerin stets bemüht war, die Kinder 'ihrer' Gruppe bestmöglich durch verschiedenste Bildungsangebote zu fördern, stellten wir dennoch fest, dass sich unsere Arbeit vom üblichen Nebeneinander immer mehr zum Miteinander entwickelte. Wir Kolleginnen tauschten Meinungen aus, berichteten einander von Aktivitäten und Angeboten, stellten Fragen und gaben Antworten bzw. machten Vorschläge.
Dabei merkten wir, dass jede von uns Kindergärtnerinnen ein besonderes Interessensgebiet hat. Nun ist es ja so, dachten wir, dass jeder Mensch die Tätigkeiten, für die er begabt ist, mit besonders viel Liebe, Freude und Überzeugung ausführt und auch Wissenswertes aus dem eigenen Interessensgebiet besser vermitteln kann. Wir überlegten daher, wie wir diese Erkenntnisse für unsere Arbeit im Kindergarten nützen können. Aus dem Bemühen heraus, die uns anvertrauten Kinder durch variantenreiche Angebote bestmöglich zu fördern, entstand die Idee des gruppenübergreifenden Arbeitens." (Praxisbericht von Regina Nachbarganer, Birgit Reithner und Monika Teufel, Nö. Landeskindergarten Loosdorf II/Österreich, 1996)
Von solch einer Entscheidung ist es dann nicht mehr weit zum Einrichten von Funktionsräumen, zur Nutzbarmachung bisher ungenutzter Flächen: Der Flur wird zum Malatelier, die kuschelige Ecke in der Garderobe zur Erzählecke, der Vorraum des Sanitärbereiches zur Töpferwerkstatt, der Gruppennebenraum zur Kinderbibliothek und zum Lesezimmer etc. Hierzu möchte ich noch Beispiele aus meiner eigenen Kindergartenpraxis anführen:
Unser Gruppennebenraum lag abseits der beiden Gruppenräume. Zum Turnen war er zu klein, zum nur selten genutzten "Intensivraum" für Einzelspiele oder Kleinstgruppengespräche zu schade.
Eines Tages wurde uns vom Dekanat ein riesiger Teppich als Geschenk angeboten. Ein Kindergarten hatte bereits abgelehnt, uns kam er gerade recht. Er deckte fast den ganzen Fußboden im besagten Raum. Für das Fenster hatten wir einen dunkelblauen Cordvorhang genäht, um totale Dunkelheit erstellen zu können. Jetzt fehlten zur Ausstattung nur noch einige Matratzen, mit Überzügen in gedeckter Farbe, und einige Kissen. Da der Raum auch noch als Schlafraum genutzt werden sollte, verzichteten wir auf Betten und legten dafür die Kissen im Raum bereit.
Wir fanden auch einem Namen für den Raum - entsprechend seiner vielfältigen Zweckbestimmung: Knuddelzimmer. Betreten werden durfte er, so die Entscheidung der Kinder, nur auf Strümpfen. So signalisierten die vor dem Zimmer aufgereihten Hausschuhe gleich die Anzahl der dort befindlichen Kinder. Noch eine Regel stellten die Kinder auf: "Es muß ruhig sein. Wer denkt, er kann da Krach machen, fliegt raus!" Dies wurde auch akzeptiert.
Wozu diente nun der Raum? Neben Kissen und Matratzen befanden sich dort ein Kassettenrecorder, ein Plattenspieler (für die Kinder zugänglich und auch selbst zu bedienen) sowie unser ganzer Schatz an Bilderbüchern. Ich war schon immer dagegen gewesen, alle Bilderbücher im Leiterinnenzimmer aufzubewahren und nur zum jeweiligen Thema passende Bücher in den Gruppenraum zu holen. So standen alle unsere Bücher in den Bücherregalen des Knuddelzimmers. Die Kinder hatten ein eigenes Ordnungssystem entwickelt, das mit jeder neuen Kindergeneration wieder leicht verändert wurde. Außerdem beobachtete ich, dass viele Kinder ihr Lieblingsbilderbuch ganzjährig "lasen". Felix, er kam aus einem anderen Kindergarten mit fünf Jahren zu uns, sagte: "Gott sei Dank, dass ich jetzt die Weihnachtsbücher das ganze Jahr anschauen kann. Bloß zu Weihnachten, das war mir im alten Kindergarten immer zu kurz."
Wenn wir über eine Pflanze oder ein Tier sprachen, dann erteilte ich den Kindern auch oft den Auftrag, nach einem entsprechenden Buch oder Bild in unserer "Bibliothek" zu suchen. So wurde es für sie z.B. ganz selbstverständlich, in einem Bilderlexikon nachzuschlagen.
Im Knuddelzimmer betrachteten wir auch Dias oder trafen uns zum autogenen Training. Solche Stunden kommentierten die Kinder als "Ruhestillsein-Stunden" und forderten sie auch immer wieder ein.
Solch offenes Arbeiten in Funktionsräumen ist eine Öffnung nach innen, d.h., im Kindergarten selbst werden erst einmal alle Möglichkeiten der Öffnung erprobt. Es wäre ja auch unmöglich, in jedem Gruppenraum Angebotsecken für alle nur erdenklichen Aktivitäten einzurichten. So sollte jedes Team einmal eine Raumanalyse durchführen und dann vielleicht z.B. Abstellkammern entrümpeln und anders nutzbar machen.
Auf diese Art entstand in einem Kindergarten ein "Licht-Dunkel-Zimmer". Erst war es eine Abstellkammer, jetzt finden sich dort Taschenlampen, eine Stehlampe und allerhand Utensilien, die für Schattenexperimente gebraucht werden. So kann in einem Kellerraum auch eine Werkstatt entstehen, im Flur eine Bewegungsbaustelle etc.
Mit dem Einrichten solcher Aktivitätszentren allein ist es allerdings nicht getan - auch konzeptionell muss Bewegung in den Kindergarten kommen. Methodische und didaktische Überlegungen müssen parallel erfolgen, wenn diese Art der Öffnung gelingen soll. Das letzte Beispiel in diesem Kapitel, das vielleicht die Angst vor dem "Chaos" mindern wird, verdeutlicht, dass Regeln unverzichtbar sind, wenn wir die Gruppen öffnen und dennoch die Übersicht behalten wollen:
"So macht auch die Regel mit dem Stoppschild Sinn. Es hängt an jeder Tür. Im Gegensatz zur grünen Seite macht die rote Seite deutlich, auch dem Erwachsenen, dass man in dem Raum ungestört sein will. Für die Benutzung der Galerie hat sich in einigen Gruppen bewährt, dass nur eine begrenzte Anzahl Kinder gleichzeitig dort spielt. Dazu gibt es in diesen Gruppen folgende Regel: An dem Treppenaufgang zur Galerie hängen so viele 'Eintrittskarten' an Bändern, wie Kinder dort oben allein spielen dürfen. Jedes Kind hängt sich ein solches Schild um, wenn es nach oben geht. So kann auch ein sehr kleines Kind überprüfen, ob es zu diesem Zeitpunkt auf der Galerie spielen kann, ob noch eines der 'Umhängeschilder' frei ist. Regeln, die die Vielfältigkeit im Alltag strukturieren helfen, werden in jeder Gruppe eigenständig entwickelt. Es gibt aber auch gruppen- und hausübergreifend verbindliche Regeln. Einige Gruppen entwickeln Symbole für bestimmte Aufenthaltsorte, die die Kinder an einer Pinnwand ihrem Namen zuordnen. So wird auf einen Blick klar, wer sich wo aufhält, wer gerade in Räumen oder Gruppen außerhalb der eigenen 'Wohneinheit' ist." (Englert et al. 1994, S. 38-39)
Das Konzept der Öffnung von Gruppen braucht auch eine neue Pädagogik - eine Pädagogik, die ständig im Fluss bzw. Prozess ist und auch beim Erreichen von Teilzielen nicht erstarrt.
Die Vielzahl der offenen Räume und die Formen offener Angebote werfen auch immer wieder Fragen auf, die vom Gesamtteam einer Einrichtung - ich verstehe darunter die pädagogischen Mitarbeiterinnen, die Kinder, die Mütter/Väter, den Träger - immer wieder speziell für diese Einrichtung diskutiert werden müssen:
"Wie sicher bewegen und orientieren sich Kinder? Wie wichtig ist und bleibt die Bezugsperson, die Erzieherin, wenn sie nicht mehr Gruppenleiterin ist? In der Beobachtung des einzelnen Kindes, der Kleingruppe, in der Reflexion unserer Rolle als Erzieherin, versuchen wir die Antworten auf die gestellten Fragen und Anforderungen zu finden. Das einzelne Kind steht mehr im Mittelpunkt als im 3-gruppigen Kindergarten. Diese neue Sichtweise zwingt uns zu einer neuen Form der Pädagogik..." (Braun 1992, S. 96)Wenn Sie also an einer neuen, prozesshaften Pädagogik interessiert sind, dann können Sie sich auf den Weg machen und die Öffnung von Gruppen in ihrer Einrichtung vorbereiten. Schritt für Schritt.