Hans-Joachim Rohnke
Auch mit den beachtlichen Befunden der NUBBEK-Studie (2012) und der darin enthaltenen Aussagen über die besonderen Qualitäten der offen arbeitenden Einrichtungen1 scheint u.a. die Diskussion um das sogenannte Fachfrauenprinzip in der offenen Arbeit nicht beendet. Bei einigen Teilnehmer/innen der Fachszene gibt es die Phantasie und die Erwartung, dass "spezialisierte" Erzieher/innen persönlich besser motiviert sind und daher z.B. mehr Begeisterung und Identifikationsmöglichkeiten in den pädagogischen Alltag einer Kindertagesstätte einbringen können.
Abgesehen davon, dass es für diese Behauptung, nach meiner Kenntnis, keine belastbaren wissenschaftlichen Belege oder Forschungsergebnisse gibt2, bilden die nachstehenden Überlegungen und Fragestellungen wichtige, zu klärende Anhaltspunkte3 für eine Auseinandersetzung zu diesem umstrittenen Thema:
- Welche neuen entwicklungspsychologischen oder z.B. aus der Lernforschung stammenden Erkenntnisse legen es nahe, dass in Deutschlands Kindergärten bestimmte fachthematische Kenntnisse und besondere methodisch-didaktische Vorgehensweisen insbesondere im Konzept der offenen Arbeit durch dafür dauerhaft ausgewählte Personen eingebracht werden müssten?
- Welche Themen, Inhalte, Formen und Vorgehensweisen können dabei -wissenschaftlich begründet - empfohlen oder als wie auch immer erfolgreich oder zielführend angesehen werden?
- Falls es denn diese Erkenntnisse gäbe, wo und durch wen werden diese Inhalte und die dazugehörigen Methodiken/ Didaktiken erworben, erlernt und vermittelt? Gibt es hier eine Form der Qualitätssteuerung oder entwickeln sich diese Dinge naturwüchsig nach Belieben und Gusto der jeweils vor Ort tätigen Akteur/innen?
- Wir wissen heute, dass z.B. für gelingende Bildungsprozesse positive Beziehungen eine zentrale Bedeutung haben. Sympathien, Nähen und Distanzen sind aber zwischen Menschen sehr unterschiedlich gegeben. Wenn nun Erzieher/innen nur noch in einem bestimmten Funktions- oder Themenraum in Erscheinung treten, dann kann es sein, dass "meine" Erzieherin nicht mehr dabei ist. Es wächst die Gefahr, dass dieser Ort als Lernort für viele an Attraktivität verliert und sich umgekehrt quasi ein "Fanclub" um die "Spezialistin" bildet.
- Grundsätzlich wird mit der Rolle der Fachfrau eine Zunahme an instruktionspädagogischen Interventionen und Strategien wahrscheinlich. Sie muss den Nachweis (die Legitimation) erbringen, dass sie die richtige Frau am richtigen Ort ist. Dies geht vor allem über Aktivität. Es steht zu befürchten, dass sie unter besonderen Innovations- und Leistungsdruck gerät und vor allem Eltern diesbezügliche Erwartungen befeuern werden (Was gibt es denn heute Neues und war mein Kind dabei?).
- Diese zu erwartende Dynamik steht im Gegensatz zu modernen Verständnissen der Fachkraftrolle. Erzieher/innen sollen die Initiativen der Kinder sehen, ermuntern, spiegeln und unterstützen. Die Erzieherin folgt dem Kind und "hilft ihm, es selbst zu tun" (Montessori). Im besten Fall entstehen z. B. Lern- und Forschergemeinschaften, die alle zu Lernenden machen.
Abschließende Klarstellung: Es geht hier nicht darum, Erzieher/innen gewisse Spezialkompetenzen (Talente oder Fähigkeiten) streitig zu machen. Natürlich sind diese auch weiterhin willkommen und erwünscht. Sie sollen mit Leidenschaft und Überzeugungskraft dargestellt und gelebt werden. Aber Erzieher/innen sollen sich nicht darauf zurückziehen oder darauf reduziert werden können (indem sie z.B. jahrelang in Funktionsräumen stationiert werden). Die Kinder haben ein Recht darauf, ihre Erzieher/innen in möglichst vielen, unterschiedlichen und realitätsnahen Handlungskontexten zu erleben. Lernen am Modell bedeutet dabei zu sehen, dass jede/r Stärken und Schwächen hat. Es ist für Kinder sehr wichtig zu erleben, dass es ganz unterschiedliche Herangehensweisen für ein und dieselbe Aktivität geben kann. Es ist im Leben hilfreich und nützlich, ein möglichst großes Repertoire an Handlungsalternativen für unterschiedliche Situationen zu haben. Dazu aber braucht es die Kenntnis von möglichst zahlreichen Mustern und Herangehensweisen. Bereichernd ist die Vielfalt der Möglichkeiten! Dabei müssen nicht immer Spitzenergebnisse entstehen. Schön ist die Gewissheit, dass auch ich ein brauchbares Ergebnis zustande bringe und dass ich nicht verzweifelt aufstecken muss, wenn nicht jedes Mal etwas Überragendes dabei herauskommt. Es gilt die Freude am Tun zu bewahren. Der Weg ist das Ziel! Vielleicht geht es ja beim nächsten Mal schon anders.
Ein wichtiger Gesichtspunkt scheint mir abschließend noch mit dem Hinweis auf das sogenannte "lebenslange Lernen" gegeben zu sein. Seine Notwendigkeit gilt heute als unumstößliche Gewissheit, um in den raschen Wandlungsanforderungen des Lebens bestehen zu können. Meine Frage lautet daher: Wie wollen wir denn von den Kindergartenkindern glaubhaft erwarten, dass sie sich möglichst an vielen Orten in der Kita zeigen, aktivieren und einlassen, wenn wir Pädagog/innen selbst uns die "Rosinen" herauspicken und uns an unsere Lieblingsbeschäftigungen klammern und an bevorzugten Orten dauerhaft einquartieren?
Es bleibt daher bei dem Hinweis, dass Rotationsmodelle in der offenen Arbeit nach wie vor wichtige und bewährte Modelle sind, um der Vielgestaltigkeit von Erfahrungsmöglichkeiten inhaltlicher und personeller Art gerecht werden zu können!
Endnoten
(1) Es hat sich gezeigt, "dass die pädagogische Qualität in den untersuchten Kindertageseinrichtungen signifikant höher liegt, wenn die Teams offen arbeiten". "Die pädagogische Qualität zeigte sich in zahlreichen Merkmalen in allen Bereichen der pädagogischen Arbeit, das heißt bezüglich Platz und Ausstattung, dem Handling von Betreuungs- und Pflegesituationen, der sprachlichen und kognitiven Anregung, dem Spektrum an ermöglichten Aktivitäten, in der Interaktion zwischen Fachkraft und Kind, aber auch in der Strukturierung der pädagogischen Arbeit" (Haug-Schnabel, G./ Bensel, J.: Offene Arbeit in Theorie und Praxis. Kindergarten heute. Freiburg: Herder Verlag 2017, S. 75.
(2) "Während der Schwangerschaft und - wenn das Umfeld nicht gestört ist - auch im Säuglingsalter sorgt die Natur in beeindruckender Weise für eine intelligenzförderliche Entwicklung des Nachwuchses. Die in Mittel- und Oberschichtfamilien verbreitete Frühförderhysterie bringt den Kindern aus wissenschaftlicher Sicht gar nichts. Sie brauchen Wärme, Milch, später Brei und ihnen zugewandte und mit ihnen sprechende Bezugspersonen, sonst nichts. Die leider auch von verantwortungslosen Forschern verbreitete Angst, es würden sich früh sogenannte Lernfenster schließen, hat sich als grundlos erwiesen" (Elsbeth Stern/ Aljoscha Neubauer: Wir brauchen die Schlauen. DIE ZEIT, 21.03.2013, Nr. 13).
(3) "Die Existenz zeitlich gestaffelter sensibler Phasen für die Ausbildung verschiedener Hirnfunktionen führt zu dem Postulat, dass das Rechte zur rechten Zeit verfügbar oder angeboten werden muss. Es ist nutzlos und womöglich sogar kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, die nicht adäquat verarbeitet werden können, weil die entsprechenden Entwicklungsfenster noch nicht offen sind. ... Es sollte demnach ausreichen und wäre wohl auch die optimale Strategie, sorgfältig darauf zu achten, wofür sich das Kind jeweils interessiert, wonach es verlangt, und wodurch es glücklich wird" (Wolf Singer: Was kann ein Mensch wann lernen? Werkstattgespräch McKinsey bildet. Frankfurt/Main 2004).
Autor
Hans-Joachim Rohnke
Dipl.- Päd. & Dipl.-Sup., DGSv
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