Chancengerechtigkeit in Zeiten von Corona

Natascha Wolter

Es ist schon ein wenig absurd. Während im Kita-Alltag eigentlich unser Dauerthema Personalknappheit ist, kehren Corona und die mit dem Lockdown verbundene Notbetreuung die Verhältnisse einfach mal kurz um: Auf einmal trifft viel Zeit auf wenig Kinder. Für die Kinder der Familien sogenannter systemrelevanter Berufe braucht es in der Regel nur einen kleinen Teil des Teams. Was nun?

Die Kitas aufräumen, Angebote und Projekte planen. Briefe, E-Mails oder Newsletter verschicken. Via Homepage, Signal, WhatsApp oder Facebook Anregungen für die Familien bereitstellen. Vielleicht sogar kleine Videos drehen… Ideen gibt es viele. Und es sind viele richtig tolle Ideen darunter. Als nach dem letzten Lockdown der Regelbetrieb wieder anlief, zeigte sich gerade bei den Kindern mit Sprachauffälligkeiten, dass es in der Zeit zu Hause an der gewohnten alltagsintegrierten sprachlichen Bildung in der Kita gefehlt hat. Wie lange die Krise andauert, wissen wir nicht. Wann wir zum Regelbetrieb zurückkehren können, ist unklar.

Die Frage ist also: Wie erreichen wir mit unseren Maßnahmen die Kinder, die uns gerade in dieser Situation am meisten brauchen? Wie kann unter Corona Chancengerechtigkeit gelingen?

Aktuell haben wir einen eher sehr guten Betreuungsschlüssel für die Kinder in der Kita. Für die Kinder zu Hause und ihre Familien werden liebevoll Ideen erarbeitet und auf verschiedensten Wegen verteilt. Und doch herrscht auf Nachfrage Einigkeit, dass davon vor allem die Kinder profitieren, die auch sonst zu Hause eher gut gefördert werden.

Die Kinder, die am meisten Unterstützung benötigen, sind überwiegend zu Hause. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann es gelingen, dass wir mit unseren Ideen und Anregungen die Kinder erreichen, die uns am meisten brauchen?

Wir können natürlich überlegen, ob unsere Notbetreuung uns Raum lässt, gezielt Kinder einzuladen, die z.B. von einer Unterstützung in der Sprachentwicklung profitieren. Doch das ist durchaus nicht überall mit den Regularien vereinbar.

„Es geht nur, wenn Sie zu uns kommen“, sagte kürzlich eine Leitung im Gespräch zu diesem Thema. Doch geht es wirklich nur dann, wenn Sie zu uns in die Kita kommen? Wir kamen überein, die vorhandenen zeitlichen Ressourcen zu nutzen und dem mal ein wenig auf den Grund zu gehen. Ausgehend von der Frage „Wie erreichen wir die Kinder mit alltagsintegrierter sprachlicher Bildung, die uns brauchen, aber nicht in die Kita können?“ sichteten die Fachkräfte der mitwirkenden Kitas ihre Gruppen, welche Kinder konkret aus fachlicher Sicht pädagogische Unterstützung benötigen.

Im nächsten Schritt wurde für jedes Kind im Team kollegial beraten (virtuell oder präsent mit dem nötigen Abstand), was genau die optimale Unterstützung wäre. Doch wie kann es nun gelingen, dass auch die geeigneten Maßnahmen beim Kind ankommen?

Abb. 1 Wie finden wir neue Wege?

Was heißt eigentlich „Out of the box“ Denken? Antworten finden wir dort, wo mit Höchstgeschwindigkeit ständig an neuen Ideen und Lösungen gearbeitet wird: im Bereich der Digitalisierung. Der Wandel, in dem wir uns befinden, ist so grundlegend und rasant, dass man nicht mehr von Innovation, sondern von Disruption spricht – von der Zerschlagung der Märkte im „Digitalisierungs-Tsunami“ (vgl. von Boeselager 2018).

Für Unternehmen ist es notwendiger denn je, sich vorausschauend, schnell und kreativ zu entwickeln, wenn sie überleben wollen. Und Bereiche wie die Softwareentwicklung und die Digitalisierung machen vor, wie das gelingt. Wo komplexe Probleme neue Lösungen brauchen, wird „agil“ gearbeitet, z.B. mit Scrum, Kanban und Design Thinking. Zentral dabei sind:

  • der Einsatz von Kreativitätstechniken,
  • klare, kurze Zeitfenster,
  • interdisziplinäre Teams,
  • … und Spaß.

Das können wir auch im Kita-Bereich. Beziehen wir unsere Teams mit ein in unseren Denkprozess. Denn je mehr Menschen mit überlegen, desto bunter werden die Lösungsansätze. Das gelingt allerdings dann am besten, wenn die Beteiligten auch Lust haben und offen sind, ein wenig zu experimentieren. Die Mitwirkung sollte deshalb unbedingt freiwillig sein. Wie kommen wir aber nun ganz konkret an neue Ideen? Dazu lade ich ein, die folgenden zwei Kreativitätstechniken zu unserer Frage im Team durchzuspielen:

  • Braindumping,
  • und Reizwort-Technik.

Beim Braindumping geht es ähnlich wie beim Brainstorming darum, möglichst schnell möglichst viele Ideen zu generieren. Bei einer Dienstbesprechung in der Kita können mit entsprechendem Abstand für jedes Teammitglied Haftnotizblöcke und Stifte verteilt werden.

Abb. 4 Braindumping

Abb. 2 Erste Ergebnisse des Braindumpings

Bei einer digitalen Dienstbesprechung geht es auch, wenn jede(r) sich Schreibpapier und Stifte bereitlegt. Ist das Vorgehen erläutert und allen Beteiligten klar, wird die Stoppuhr auf 3 Minuten gestellt. In dieser Zeit schreiben alle ihre Ideen und Assoziationen zur Fragestellung auf. Danach werden alle Ergebnisse z.B. am Whiteboard gesammelt und vorgestellt.

Während ein Teammitglied seine Ideen vorstellt, notieren die Zuhörenden wiederum, was ihnen dazu spontan durch den Kopf geht. Diese weiteren Ideen werden dann am Whiteboard ergänzt und ebenfalls erläutert, nachdem alle vorgetragen haben. Dabei gilt die Regel: Alles aufschreiben, ohne Filter, Schönschrift und Bewertung.

Hier ein Beispiel, wie so ein Braindumping aussehen kann. Die hier zusammengetragen Ergebnisse wurden auf einem Whiteboard im Rahmen eines Zoom-Meetings mit insgesamt 5 Teilnehmenden gesammelt.

Abb. 3 Aufbereitung der Ergebnisse des Braindumpings

Die Ergebnisse wurden dann sortiert und geclustert, bevor es weiter ging.

Abb. 4 Cluster der Ergebnisse

Und nun? Kommen wir zum nächsten Schritt: der Reizwort-Technik. Das sogenannte „Reiz-Wort“ wird nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Dazu braucht es eine Zeitschrift – egal, welchen Inhaltes. Ein Teammitglied wählt eine beliebige Seitenzahl, ein weiteres eine Spalte, dann jemand eine Zeile und schließlich das x-te Wort.

Abb. 5 Reizwort-Technik

In unserem Fall war es das fünfte Wort, in der dritten Spalte, auf Seite 55 einer Garten-Zeitschrift. Das Wort war „Wasser“. Das nächste wäre Hefeteig gewesen, denn es handelte sich um ein Rezept. So vielfältig, wie es Worte gibt, können die „Reizwörter“ also sein. Bei Füll- und Bindewörtern empfiehlt es sich allerdings, vielleicht auf das nächste Wort rechts oder links auszuweichen.

Jetzt werden wiederum alle Ideen, Gedanken und Assoziationen zu diesem Wort frei notiert: jede(r) für sich auf, einem Blatt oder Klebezetteln, in 3 Minuten. Auch diese Ergebnisse werden dann auf einem Whiteboard zusammengetragen. In unserem Fall sah das Ergebnis zu „Wasser“ so aus:

Abb. 6 Ergebnisse Reizwort-Technik "Wasser"

Abb. 7 Verknüpfung der Ergebnisse

… und erneut nehmen wir uns ein leeres Blatt. Die Stoppuhr wird wieder auf 3 Minuten gestellt. Dann lassen wir unseren Blick über die beiden Whiteboards bzw. Bilder wandern. Welche Verknüpfungen fallen uns ein? Welche neuen Ideen kommen uns? Was auch immer uns dazu durch den Kopf geht, wir schreiben unsere spontanen Gedanken dazu ungefiltert, auf ein drittes, leeres Blatt. In unserem Beispiel sah das Ergebnis so aus:

Abb. 8 Endergebnis nach Abschluss der Methode

Inklusive Vorstellens der Methoden waren die vereinbarten 1,5 Stunden um. Ein wesentliches Ergebnis: Unter allen Teilnehmenden herrschte am Ende Optimismus und eine enorme Motivation, die Ideen nun im Team weiter auszufeilen. Aus der Defensive war das Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückgekehrt. Und Lust darauf, die Kita-Räumlichkeiten zu verlassen, um mit Kindern und Eltern neue Räume zu entdecken. Und auf einmal stand die Frage im Raum: Braucht die Kita-Arbeit eigentlich unbedingt eine Kita?

Das war so motivierend, dass ich mit unserem Beispiel dazu einladen möchte, es einfach selbst in der Kita auszuprobieren. Natürlich nur mit denen, die Lust haben, im Sinne von Chancengerechtigkeit neue Wege zu gehen. Die Freude daran wird sich dann von selbst verbreiten. Der oben erwähnte Aspekt der Interdisziplinarität soll dazu einladen, den Kreis der Kreativen Schritt für Schritt weiter auszubauen:

  • z.B. durch Einbeziehen von Heilpädagogen,
  • Schulen usw., aber auch durch Einbeziehung von Kindern und Eltern, denn dann haben wir automatisch diverse Berufe am Tisch – bzw. hinter dem Bildschirm.

Ich bin gespannt, was daraus weiter erwächst. Wenn Sie Lust haben, lassen Sie mich teilhaben. Dann machen wir einen digitalen Markt der Möglichkeiten.

In diesem Sinne: Viel Spaß und gutes Gelingen!

Literatur

von Boeselager, F. (2018). Das D für Digital in CDO. In Der Chief Digital Officer (pp. 1-17). Springer Vieweg, Wiesbaden.

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