Erdmute Partecke
Die pädagogische Fachliteratur – nicht zuletzt auch das Online-Kita-Handbuch – weist eine Fülle an interessanten und wissenschaftlich fundierten Praxisanregungen für frühkindliche Bildung auf, die offenbar auch viele Leser/innen finden. Und dennoch vermisst man vielerorts die standardisierte Umsetzung pädagogischer Ansätze für eine zukunftsweisende Kleinkindpädagogik. Gut qualifizierte und besonders engagierte Erzieher/innen bedauern oftmals, dass der Kita-Alltag kaum Raum und Zeit lässt, um beispielsweise Bildungsarbeit in einem zuverlässigen Rahmen zu leisten. Sie beklagen zu große Gruppen, zu kleine Räume, unvollständiges Material in Spiel- und Lernwerkstätten. Viele Mitarbeiter/innen haben sich in jahrelanger Berufsausbildung noch niemals in strukturierter Projektarbeit versucht, sondern allenfalls gelegentliche Mal- und Bastelarbeiten angeboten.
In dieser Misere eröffnet die Corona-Krise ungeahnte Chancen für eine Überprüfung und Erneuerung der pädagogischen Arbeit in der Kita. Pädagogische Begabungen und die Liebe zum Beruf bekommen jetzt ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Denn Verordnungen für kleine Gruppen (an Vor- bzw. Nachmittagspräsenz in täglichem Wechsel für ausgewählte Kinder) ermöglichen nunmehr mit leichter Hand ein pädagogisches Handeln, das vielfach vorher undenkbar erschien. Da Abstand halten auch für die Kleinsten oberste Bürgerpflicht ist, sind die Räume aufgeräumt und von diversem Material, das ständig unbenutzt schon immer gestört hat, befreit, so dass eine klare Raumgestaltung deutlich wird. Überzählige Tische und Stühle sind in Kellern und Kammern verbannt worden, um für eine Kleingruppe genügend Spiel- und Gestaltungsraum und gleichzeitig den geforderten Abstand der Kinder zueinander zu gewährleisten. In einer solchen Umgebung lässt sich Bildungsarbeit verwirklichen, von der manch eine Erzieherin, ein Erzieher bisher nur träumen konnte. Die nachfolgende Checkliste kann eine nützliche Gedankenstütze sein:
Ich mache Ordnung
Auch wenn die kleine Gruppe einen lockeren Schlendrian über eine relativ kurz bemessene Zeit der Anwesenheit der Kinder in der Einrichtung nahelegt, so sorgen Erzieher/innen ganz bewusst für klare Strukturen. Denn Übersichtlichkeit in Raum und Zeit gibt den Kindern erhebliche Verhaltenssicherheit – besonders in der augenblicklichen Situation der allgemeinen Ratlosigkeit. Somit werden pädagogische Bildungsangebote, Mahlzeiten und Hygienemaßnahmen, Spiel im Freien und Aufräumarbeiten sowie sprachliche Kommunikation in der Gruppe auf einen definierten Zeitplan festgelegt, der dann allerdings auch nach besonderen Bedürfnissen der jeweiligen Kinder zeitweilig korrigiert werden kann. Somit wird die Mitwirkung der Kinder an ihrer Lebensgestaltung hinsichtlich eigener Wünsche und Regeln für ein soziales Miteinander in einem überschaubaren Rahmen verwirklicht. Dies ist sowohl für den Besuch in ihrer Kita als auch als Arbeitsmodell für ein Leben Zuhause von hohem Wert für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Denn in einem übersichtlichen Rahmen findet jetzt jedes Kind auf seine ganz eigene Weise zu einer Autonomie, die es ihm erlaubt tatkräftig seine Ich-Stärke auszubauen. Die geordnete Selbsttätigkeit der Kinder, in der durch den Corona-Abstand bedingten Überschaubarkeit erleichtert es den Erzieher/innen nachfolgend ganz erheblich ihre Bildungsarbeit engagiert zu erproben und die Selbstbildung der Kinder zu unterstützen.
Ich schau dir in die Augen
Der tägliche Auftakt zu einer engagierten Pädagogik zeigt sich durch die Präsenz der Erzieher/innen an der Tür, beim Ankommen der (jetzt weniger!) Kinder. Der Blickkontakt und ein lächelndes Gesicht kommen einer Liebkosung gleich und schaffen somit eine innige emotionale Nähe. Gleichzeitig signalisiert die Aug-in-Aug-Kommunikation Wertschätzung und baut ein tragfähiges Selbstwertgefühl des Kindes auf – noch bevor eine sprachliche Kommunikation eingesetzt hat. Ein solcher „Flirt“, den wir schon von Säuglingen kennen, bleibt tragfähig und erleichtert eine freundliche Kommunikation über den ganzen Tag. Die Begrüßung des jeweils ankommenden Kindes und ihrer Begleitperson ist getragen von Empathie und signalisiert mit kleinen Nachfragen interessierte Zuwendung. Alle Botschaften der Ankommenden bezüglich persönlicher Sorgen, Hoffnungen und Erwartungen werden von Erzieher/innen behutsam entgegengenommen und ggf. zu einem späteren Zeitpunkt im Gruppengespräch wieder aufgegriffen.
Ich erzähl dir was
Nach dem Ankommen werden in einem weitgefächerten Stuhlkreis alle Aktivitäten des Tages vorbereitet. Das gemeinsame Singen und Reimen in guter Kindergarten-Tradition muss in der Zeit erhöhter Ansteckungsgefahr leider ausfallen. Stattdessen eröffnen Erzieher/innen eine ausführliche sprachliche Kommunikation im Kreis. Dafür gilt die Faustregel: Erzieher/innen sprechen immer zuerst und es gibt ein deutliches Sprachvorbild bzgl. der Thematik und Sprachkomplexität. Als Ich-Erzähler/in wird ca. 2 Minuten lang im Zusammenhang über eigene Erlebnisse und Erfahrungen hinsichtlich solcher Ereignisse, die auch Kinder zurzeit bewegen gesprochen (Als ich gestern…, da sah ich…). Erzieher/innen begleiten ihre Erzählung mit lebhaften Gesten und suchen immer wieder neu den Blickkontakt mit einzelnen Kindern. Dadurch fühlt sich das jeweils kontaktierte Kind sehr deutlich angesprochen, und Erzieher/innen erkennen im Ausdruck des Kindes sogleich, ob es jetzt selbst zu der angesprochenen Thematik etwas sagen könnte. Daraufhin übergibt die Erzieherin, der Erzieher dem jeweiligen Kind umgehend das Wort und fördert die Kommunikation in der Gruppe. Unterstützend können Erzieher/innen mit interessiertem Nachfragen den Redefluss einzelner Kinder in Gang halten. Dabei wird aber weitgehend auf sogenannte Lehrerfragen, die Wissen abrufen wollen, verzichtet, da dies die Sprachfreudigkeit vieler kleiner Kinder einschränkt. Aus ihren eigenen Erzählungen und den weiterführenden Ergänzungen der Kinder leiten Erzieher/innen Mal- und Bastelarbeiten, Lernwerkaktivitäten oder Spielformen ab, die abschließend im Gruppenkreis sprachlich vorbereitet werden. Dafür wird deutlich das demokratische Mitspracherecht der Kinder für eine anschließende Gruppenaktion betont.
Ich spiele mit dir
Die tiefe zwischenmenschliche Bindung, die durch Blickkontakt und die zugewandte sprachliche Kommunikation (vgl. Abschnitt “Ich schau dir in die Augen“ und „Ich erzähl dir was“) zwischen jedem Kind und dem Erwachsenen entsteht, erleichtert die weiteren Aktivitäten in der Kindergruppe nachhaltig und stabilisiert manch ein vorerst störanfälliges Kind eindrucksvoll. Besonders tragfähig für die Bildung sozialer Kompetenzen der Kinder sind Spielaktivitäten, an denen Erzieher/innen selbst teilnehmen. Dafür wird die Rolle als Aufsichtsperson zurückgestellt und Erzieher/innen zeigen sich als einfühlsame Spielpartner/innen. Dies folgt dem pädagogischen Konzept der "Bodenzeit" (Greenspan 2003), indem Erzieher/innen geistig-seelisch ganz und gar bei einem ausgewählten Kind sind und sich dessen Spielhandlungen in gebotenem räumlichem Abstand anschließen. Gleichzeitig wird die ganze Spielgruppe im Blick gehalten und Erzieher/innen zeigen sich als ein Vorbild für freundliche Kooperation auch in Konfliktmomenten, indem sie von Kontrahenten im Gruppenspiel Lösungsvorschläge sammeln und diese deutlich honorieren. Bei einer Fortführung des Gruppenspiels an einem weiteren Gruppentreffen in der Kita schließen sich Erzieher/innen unauffällig einem anderen Kind an. Ihr eigener Spielspaß fördert nachhaltig die Spielfähigkeit besonders solcher Kinder, die bisher wenig Anschluss an Spielgruppen finden konnten.
Für den gebotenen Corona-Abstand bieten sich Bau-Spiele mit großem Material an (Wir bauen uns mit Tischen, Bänken, Stühlen, Decken etc. jeder eine Wohnungen für Menschen und Tiere) oder weitläufige Rollen- und Sportspiele im Freien (Wir sind wilde Tiere in Afrika). Im Zusammenhang mit solchen Spielen, in denen die Kinder in eine Rolle ihrer Wahl schlüpfen, lernen sie, dass sie wenig herkömmliches Spielzeug benötigen, dafür aber Zeug zum Spielen, mit dem sie ihre Spielideen umsetzen können. Dies ist auch eine brauchbare Erfahrung für ihre Beschäftigung Zuhause an Kita freien Tagen.
Ich arbeite mit dir
Auch bei Mal-, Werk- und Bastelarbeiten sitzen Erzieher/innen mit einigen Kindern an einem der weit gestellten Tische und verhalten sich auch hier mehr als Beteiligte und weniger als Unterrichtende. Sie gestalten ebenso wie die Kinder nach ihren eigenen Ideen kleine Kunstwerke, achten jedoch darauf, im Zeitmanagement und in Kunstfertigkeit hinter den Kindern geringfügig zurückzubleiben, sich jedoch auch bei eigenen Schwierigkeiten als Vorbild für eine solide Arbeitshaltung zu zeigen. Gleichzeitig kommentieren sie mit Wertschätzung die Arbeit einzelner Kinder und nehmen mitfühlend an Freude und Frust einzelner Kinder Anteil. Dabei regen sie Lösungen bei Problemen an, ohne selbst vorschnell Verbesserungsvorschläge zu machen.
Ich tröste dich
Während all der genannten Aktivitäten soll der gemeinsame Spaß im Vordergrund stehen, den die Erzieher/innen fortlaufend als Erwachsene mit den Kindern teilen. Es ist davon auszugehen, dass es vielen Kindern somit gelingen wird, die notwendige Resilienz zu entwickeln, um mögliche Einschränkungen und Entbehrungen sowohl von Zuhause als auch in der Kita während der Corona-Epidemie zu kompensieren. Allerdings wird sich dennoch in vielen Kindern immer wieder neu Kummer breit machen – sei es durch Enttäuschungen, kleine Missgeschicke, Streit oder aber auch durch Trennungsschmerz, weil der wieder geforderte Kitabesuch vielfach eine neuerliche Eingewöhnung verlangen wird. Traditionelle Tröstungen durch körperliche Nähe (auf den Arm oder auf den Schoß nehmen) sind jetzt nicht möglich. Dies ist nicht zuletzt ein gravierender Grund dafür, dass kleine Kinder nach Meinung mancher Verantwortlicher zurzeit keine öffentliche Einrichtung besuchen sollten. Und dennoch hält der verordnete Corona-Abstand auch für solche emotionalen Herausforderungen eine Chance bereit. Nämlich einmal mehr die Erkenntnis, dass es in erster Linie die emotionale Bindung zwischen den Menschen ist, die Trost und zugleich Eigenständigkeit verspricht. Die sprachliche Zuwendung der Erzieher/innen ist bereits für sehr kleine Kinder erstaunlich wirksam, wenn sie Worte für differenzierte Gefühlsqualitäten finden (Bist du traurig, weil . . .? Bist du enttäuscht, weil . . .? Bist du wütend, weil . . ?). Tröstend wirkt die emotionale Nähe, die die Erzieher/innen durch Sprache anbieten. Die Verbalisierung von Gefühlsqualitäten vermittelt dem unglücklichen Kind die Gewissheit nicht allein zu sein, zumal Stimmlage und Gesichtsausdruck des Erwachsenen dem Kind die Gewissheit vermitteln, dass jemand mit ihm seine Befindlichkeit teilt. Das Gefühl der Verbundenheit lindert seinen Schmerz. Eine solche grundlegende Erfahrung ist die beste Voraussetzung dafür, dass ein Kind lernt, sein inneres Gleichgewicht wieder zu finden und sich selbst zu helfen. Denn die Geborgenheit in dem Wir-Gefühl ist die beste Schule des Lebens.
Ich wünsch mir was
Die Erzieher/innen runden ihre Kita-Arbeit vielversprechend ab, wenn es ihnen gelingt, Brücken zwischen dem Gruppentreffen und dem Zuhause der Kinder zu schlagen. Eine gute Möglichkeit ist mit Sicherheit, dass sie im Abschlusskreis die Kinder regelmäßig bitten, ihnen einen Wunsch zu erfüllen. Im Kontext gemeinsamer Erlebnisse mit jedem einzelnen Kind kann beispielsweise anregt werden, zu dem nachfolgenden Kitabesuch etwas von Zuhause mitzubringen. Somit bekommen die Kita-Kinder ähnlich wie die Schulkinder Hausaufgaben (Damit wir noch schöner zusammenspielen und arbeiten können: male ein Bild, schneide etwas aus, suche etwas im Wald, bringe etwas Besonderes mit). Wenn notwendig, verteilen Erzieher/innen für die Beschäftigung Zuhause notwendiges Material. Als Anreiz kann zusätzlich in Aussicht gestellt werden, dass die Gruppe zur Erinnerung an die Corona-Abstand-Zeit ein gemeinsames Gruppenbuch gestalten kann, in dem Fotokollagen und Kinder-Erzählungen ein eindrucksvolles Zeichen für das ganz besondere Wir-Gefühl der Kindergruppe belegen – nicht zuletzt auch um Ansätze für lebendige Bildung in ungewöhnlichen Zeiten unter Beweis zu stellen und um soziale Kreativität in das zukünftige Kita-Leben hinüber zu tragen.
Literatur
Greenspan, St.: Das geborgene Kind. Zuversicht geben in einer unsicheren Welt.Beltz Verlag, 2003.
Partecke, E.: Spring vom Tisch, Luigi. Den Alltag mit Krippenkindern zukunftsweisend gestalten. Beltz Verlag 2014.
Autorin
Erdmute Partecke, Diplompsychologin und Psychotherapeutin,
Autorin von Fachliteratur über Kleinkindpädagogik.