Aus: DIE ZEIT vom 25.11.2004 (Nr. 49)
Martin Spiewak
Vor kurzem war Bernadette Duffy Gast in der Downing Street bei Gordon Brown, dem britischen Schatzkanzler. Auch beim Premierminister eine Hausnummer weiter war sie schon eingeladen - zum Gegenbesuch, nachdem sich Tony Blair ihren Arbeitsplatz angeschaut hat: das Thomas Coram Children's Centre, einen Kindergarten im Norden Londons. Das Interesse der mächtigsten Männer Großbritanniens für kleine Kinder ist derzeit ungewöhnlich groß. "Das Thema ist heiß, alle wichtigen Politiker in unserem Land reden über die frühkindliche Erziehung", lautet Duffys Antwort.
In der Versorgung mit Kindergartenplätzen hat England bis heute einen großen Nachholbedarf, doch seit 1998 wird aufgeholt: Rund 100.000 neue Kita-Plätze hat die Blair-Regierung schon geschaffen. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf der Kinderbetreuung in sozialen Brennpunkten. Der englische Guardian bezeichnet das Kindergartenprogramm der Regierung als "die Kronjuwelen der Labour-Politik". Besonders hell funkeln sie im Thomas Coram Children's Centre, einem der Vorzeigeprojekte britischer Bildungspolitik.
Wie immer beginnt der Tag hier mit der gemeinsamen Begrüßung: "Good morning, Sabah el kheir, Buenos días, Namaskar..." Aus zwei Dutzend Nationen stammen die Kinder. Das verlängert das Morgenritual, da jedes Kind in seiner Muttersprache empfangen wird. Knapp zwei Drittel der Ein- bis Vierjährigen stammen aus Migrantenfamilien. Und viele der englischen Jungen und Mädchen kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, in denen Arbeitslosigkeit und Armut zu Hause sind.
Gerade solchen Kindern will das Thomas Coram Centre einen guten Start ins Leben ermöglichen. Es ist einer von 500 dieser frühpädagogischen Stützpunkte, den Early Excellence Centres, die in den vergangenen sieben Jahren unter dem Motto "Sure Start" entstanden. Bis 2008 sollen es 2.500 sein - eine Mischung aus Luxuskindergarten für sozial Benachteiligte und Elterntreffpunkt. Sie gelten derzeit als eines der international innovativsten Konzepte frühkindlicher Erziehung.
30 Lehrer, Erzieher und pädagogische Hilfskräfte, viele selbst aus Migrantenfamilien, kümmern sich im Thomas Coram Centre um 106 Kinder. Sie musizieren im Klangraum, lesen in Kuschelecken Bücher vor oder helfen dabei, wenn die Knirpse mit dem Computer die Welt der Buchstaben entdecken. Im "Science Garden" erhalten die Kinder erste naturwissenschaftliche Lektionen, im "Meditation Garden" erproben sie die Stille. Jeder Gruppenraum des weitläufigen Neubaus ist voll gestellt mit pädagogischen Spielen, Büchern, Bau- und Bastelmaterial.
"Choice" laute die oberste Devise ihres Zentrums, sagt Bernadette Duffy. Mit pädagogischer Wahllosigkeit habe das Konzept jedoch nichts zu tun, versichert sie. Denn wie alle staatlichen Kitas ist das Centre dem nationalen Rahmencurriculum verpflichtet. Der dicke Ordner schreibt vor, wie die englischen Drei- und Vierjährigen zu fördern sind: im Gruppenleben und beim Sport, beim Sprechen und mathematischen Verstehen. Von der Regierung erlassen, vom Kindergarten im Schrank verwahrt - vermutet der Besucher aus Deutschland. Doch er irrt sich. Zwei andere Ordner, von der Kitaleiterin herangeschleppt, beweisen: Die Theorie ist konkret, sie trägt nun einen Namen: Sheila. Auf Hunderten von Seiten dokumentieren die Mappen die Bildungsbiografie der Vierjährigen - ihre Bilder und Basteleien, ihre Vorlieben und Handicaps, ihre Freundschaften und wie sie mit Konflikten umgeht. Fotos halten typische "Sheila-Situationen" fest. Lerntagebücher geben Auskunft über Sheilas Fortkommen beim Spielen, Sprechen und Verstehen.
Für jedes der 106 Kinder wurden solche Mappen angelegt. "Die Notizen helfen den Erziehern, sich über die Kinder intensive Gedanken zu machen", sagt Kita-Leiterin Duffy. Auf gesonderten Formularen halten die Erzieher Sheilas erste Lese- und Rechenversuche fest. Das Interesse der Kinder für Buchstaben und Zahlen wird - dem Curriculum folgend - stark gefördert. Überall in der Kita, an Türen, Wänden und Spielzeugen - erwecken Zahlen, Schriftzeichen und Wörter die Aufmerksamkeit, meist in Englisch, mitunter auch in Arabisch oder Hindi. Anders als üblich sind im Thomas Coram Children's Centre keine Symbole aus der Tier- oder Pflanzenwelt über Handtuchhaken und Fächern zu finden. Stattdessen tauchen die Namen der Kinder immer wieder auf. "Ein Kind ist kein Hase, keine Blume", sagt Bernadette Duffy. "Sie heißen Leon oder Thomas. Und diesen Namen sollen sie möglichst bald lesen und schreiben lernen."
Mindestens viermal im Jahr gehen die Erzieher die Diagnosebögen und Notizen in einem langen Gespräch mit den Eltern durch. Die enge Zusammenarbeit mit den Eltern gehört mit zum Kernprogramm der Early Excellence Centre. Schon vor seinem ersten Tag im Kindergarten besuchen die Erzieher ihren zukünftigen Schützling zu Hause, machen sich ein Bild von dessen Entwicklungsstand, seinen Vorlieben beim Spielen und Essen, fragen nach den Sorgen der Familie. Für viele alleinerziehende Mütter seien die Erzieher schließlich über Jahre die wichtigsten Gesprächspartner, erklärt Duffy.
Um diese enge Bindung zu nutzen, wurde das Thomas Coram Children's Centre Stück für Stück zu einer Servicestelle für Familien aus dem Stadtteil ausgebaut. Heute können die Eltern im Kindergarten nicht nur Spiele, Bücher und Videos für ihre Kinder ausleihen. Sie bekommen auch Rat und Hilfe - oder einfach nur einen Raum, um sich bei Tee und Keksen untereinander auszutauschen. Miriam, Gawnor und Tessa kommen fast jeden Tag für ein paar Stunden ins Zentrum. "Bei uns zu Hause ist es recht eng", sagt Tessa. "Da ist man froh, mal zwei Stunden rauszukommen." Zumal, wenn Kind und Mutter etwas geboten wird. Am heutigen Mittwoch steht Babymassage auf dem Programm, morgen Spiel mit Musik, montags Bewegungstherapie. Ein gutes Dutzend verschiedener Kurse - Computerlehrgänge, Kochkreise, Englisch für Ausländer - bietet das Centre für Mütter und Väter an.
Besonders erfolgreich ist die enge Kooperation mit dem Arbeitsamt und den Sozialbehörden. Als Sozialarbeiter und Jobvermittler noch im Amt auf die Mütter warteten, erschien nicht einmal die Hälfte von ihnen zum verabredeten Termin. Heute halten Arbeitsberater, Kinderpsychologen oder Logopäden ihre Sprechstunde im Kindergarten ab, laut Bernadette Duffy "mit einer Beteiligung von über 90 Prozent".
Ein halbes Dutzend arbeitsloser Väter und Mütter fanden ihren neuen Job im Kindergarten selbst. Als pädagogische Hilfskräfte assistieren sie nun beim Spielen, Aufräumen oder Essenverteilen. Die englischen Erzieher haben, anders als ihre deutschen Kollegen, häufig einen Hochschulabschluss. So arbeitete Bernadette Duffy lange Zeit als Lehrerin, was ihr jetzt bei der Zusammenarbeit mit den Grundschulen des Stadtteils hilft. Jedes Kind verlässt die Kita mit einem mehrseitigem Gutachten, das erleichtert den Übergang in die erste Klasse.
Babybetreuung und frühkindliche Bildungsanstalt, Grundschule und Familienberatung: Künftig sollen sie noch stärker verzahnt werden. Und zwar möglichst in einem Gebäude. Aus den Early Excellence Centre sollen Kinder- und Familienzentren werden, welche die Kinder von der Geburt bis zum zehnten Lebensjahr kaum noch verlassen müssen. In England sieht man darin die "konsequente Weiterentwicklung einer Rund-um-Betreuung" (wrap around care), wie Naomi Eisenstadt aus dem britischen Bildungsministerium betont.
Die offizielle Begutachtung der bisherigen Exzellenzzentren bestätigt die Regierung. Ähnlich wie die Schulen des Landes prüft das Amt für Standards in der Erziehung (OFSTED) seit 2001 regelmäßig auch die englischen Kindergärten. Drei Viertel aller Early Excellence Centres, darunter auch das Coram Centre, bekamen dabei gute oder sehr gute Noten. Besonders benachteiligte Kinder, so das Gutachten, würden von dem Konzept profitieren. Verbesserungsbedarf sahen die staatlichen Inspektoren lediglich bei überdurchschnittlich begabten Vorschülern.