Aus: Norbert Kühne: Wie Kinder Sprache lernen. Grundlagen - Strategien - Bildungschancen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ca. 200 Seiten, Darmstadt 2003
Dorothea Moss ist Headstart Teacher in der Sandcreek Elementary School, Colorado Springs, Colorado, USA. Sie ist seit 25 Jahren in der amerikanischen Vorschulerziehung tätig.
Norbert Kühne: Frau Moss, Sie arbeiten in einer Institution der Vorschulerziehung. Kann man das so sagen? Können Sie Ihre Einrichtung kurz beschreiben?
Dorothea Moss: Headstart ist ein Vorschulprogramm, das von der Regierung unterstützt und finanziert wird. Es ist in allen 50 Staaten der USA vorhanden. Nebenher gibt es natürlich auch andere Vorschulprogramme - private, von Firmen unterstützte und andere in verschiedenen Schulbezirken.
N. K.: Wie alt sind die Kinder, die Sie erziehen und betreuen? Spielen feste und variable Gruppen in Ihrer Einrichtung eine Rolle? Variable zum Beispiel, wenn es um spezifische Förderungsbemühungen geht?
D. M.: 3 bis 5 Jahre alt. Es ist eine Kombination zwischen typischen Kindern und Kindern mit Sprach- und Bewegungsstörungen (Special Need for Speech and Motor).
N. K.: Sieht man sich die Unterlagen zur Sprachförderung in Ihrer Institution an, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre der gängige Kindergarten in Deutschland eine Einrichtung aus der mittleren Steinzeit. Sie haben dagegen differenzierte Konzepte der Sprachförderung, so scheint es. Welche Ansprüche hat Ihre Institution an Spracherziehung und Sprachförderung?
D. M.: Spracherziehung und Förderung für Vorschulkinder sind gesetzlich verankert, und damit sind wir verpflichtet, im Schuldienst diesen Bedarf der Kinder in den Stundenplan einzubauen. Jedes Special Needs Child hat einen IEP (Individualized Education Plan), der mit ihm in den verschiedenen Klassenstufen mitgeht, von der Vorschule an, dann erste und zweite Klasse usw. Jedes Jahr wird dieser Plan entweder beibehalten, geändert oder völlig neu geschrieben - je nach Bedarf. Die Lehrer, Eltern, Therapeuten, der Arzt des Kindes und das Schulpersonal, also alle, die mit dem Kind zu tun haben, kommen vor Schuljahresbeginn zu einem IEP-Meeting zusammen und stellen gemeinsam diesen Plan auf, wobei sehr viel Wert darauf gelegt wird, was das Kind zu Hause tut und was für Ziele die Eltern haben, da sie ja ihr Kind am besten kennen. Wenn das Kind zusätzliche Hilfe in der Schule braucht, wird das in diesem Plan vermerkt, und der Schulbezirk ist dann gesetzlich verpflichtet, diesen Service zu stellen. In meiner Vorschulklasse habe ich einen Sprachtherapeuten und eine Bewegungstherapeutin, die beide ein Mal in der Woche kommen. Das ist zusätzlich zu allem, was ich im Klassenzimmer lehre.
N. K.: Können Sie die äußerst differenzierten Zielvorgaben denn im banalen Erziehungsalltag einlösen?
D. M.: Wir bekommen sehr viel Training auf diesem Gebiet und laufende Fortbildungskurse. Ich muss sagen, dass ich schon ein Experte bin - nach alle den Jahren. Ich hatte letztes Jahr ein Angebot, ein Jahr für die Regierung in Washington zu arbeiten und somit die neuesten Theorien in die Praxis umzusetzen, was allerdings aus familiären Gründen nicht möglich war. Unser Alltag ist nicht banal. Die Fortschritte, die die Kinder machen, sind unser Dasein wert.
N. K.: Müssen Sie Fortschritte durch Fördern bei einzelnen oder allen Kindern dokumentieren? Falls ja - wie?
D. M.: Dokumentieren muss ich bei allen Kindern. Kinder, die einen IEP haben, bekommen natürlich zusätzliche Dokumentationen - auch wöchentliche von den Therapeuten, die mit ihnen arbeiten. Alle halbe Jahre wird der IEP revidiert (biannual review) und ergänzt, wo es notwendig ist.
N. K.: Wie beziehen Sie eigentlich Eltern in die Spracherziehung ein?
D. M.: Die Eltern spielen wohl die größte Rolle im Schulwesen. Sie haben Rechte, die gesetzlich verankert sind - oder welcher Service für die Kinder geleistet werden muss. Das ist schriftlich niedergelegt und im IEP festgelegt. Außerdem haben die Eltern die Möglichkeit, bei ihrem Kind im Klassenzimmer dabei zu sein - sooft sie wollen oder können. Wir lernen von ihnen, sie lernen von uns. Die Beziehung zwischen Eltern und Erziehungspersonal ist sehr herzlich und warm; da sind die Amerikaner halt freier. Wir machen außerdem zwei Hausbesuche und halten zwei Elternkonferenzen mit jeder Familie im Laufe des Schuljahres. Einmal im Monat haben wir einen Elternabend im Klassenzimmer - Essen für alle und Babysitting für die Geschwister sind vorhanden. Es sind eigentlich die Eltern, die den Abend gestalten. Ein typischer Abend enthält ein Gespräch über ein Thema und ein persönliches Zusammensein zwischen den Familien. Hier können sie sich auch über Probleme und Konflikte austauschen. Zusätzlich haben die Eltern die Möglichkeit, an verschiedenen Ausschüssen oder Komitees teilzunehmen, Vorsitzender zu werden oder Kurse über Kindererziehung mit zu machen. Sie haben auch eine Stimme bei Wahlen oder Diskussionen innerhalb dieser Ausschüsse.
N. K.: Sie scheinen über konkrete und wissenschaftlich fundierte Hilfsmittel bei der Diagnose und der Förderung von Sprachdefiziten zu verfügen. Sind solche Unterlagen in den USA üblich? Oder werden neue Konzepte von Ihnen, Ihren Kolleginnen und Wissenschaftlern gemeinsam entwickelt?
D. M.: Da wir bei der Aufstellung des IEP dabei sind, ist vorausgesetzt, dass wir ausreichende Kenntnisse haben. Da wir viele Fortbildungen haben - ich habe gerade 2 Semester für Special Needs absolviert - ist es für uns keine Schwierigkeit, Sprach- oder Bewegungsservices im Klassenzimmer zu implementieren, selbst wenn wir keine Therapeuten hätten. Meist werden wir Lehrer - solche, die schon mehrere Jahre Erfahrung haben, - dazu verpflichtet, Einblicke oder Kurse zu geben. In den letzten Monaten wurde ich engagiert, zwei Videosegmente zu filmen, die dann zur Fortbildung in anderen Schulen und Programmen benutzt wurden. Wissenschaftliche Unterlagen, Dokumentationen und eine Unmenge von Hilfsmitteln stehen uns jederzeit zur Verfügung. Ich habe zu Hause Aktenschränke voll, geordnet von A - Z, was Du Dir nur im Traum vorstellen kannst. Ich als Lehrerin fühle mich auf diesem Gebiet sehr sicher.
N. K.: Wie erfolgreich ist Ihre Methode hinsichtlich Sprachentwicklung? Worauf legen Sie besonderen Wert?
D. M.: Da wir eine sehr gute Balance zwischen Schülern und Lehrern haben, können wir uns täglich mit jedem Kind sehr bewusst befassen (15 Kinder - 3 Lehrerinnen) und in kleinen Gruppen arbeiten. Außerdem haben wir die Unterstützung der Therapeuten in der Klasse. Manchmal arbeite ich mit einem Kind mehrere Wochen lang, während sich meine Assistenzlehrerin mit den anderen Kindern beschäftigt. Jeder hat seine Arbeiten zu dokumentieren, und ich setze mich dann am Ende des Tages mit ihnen zusammen und schaue nach, dass alles in Ordnung ist. Besonderen Wert lege ich auf die Individualität, die bei jedem Kind durch ein spezielles Programm angesprochen wird.
N. K.: Gibt es spezifische Sprachdefizite amerikanischer Kinder, die Sie besonders häufig vorfinden?
D. M.: Die häufigsten Sprachdefizite liegen auf dem Gebiet der Aussprache, der Formulierung von Wörtern, bei Konsonanten wie d und t, k und g, b und p - und auch Doppelkonsonanten vor allem in der Anfangsposition wie bl, gl, kl, sl usw. Manche Kinder haben Schwierigkeiten, ganze Wörter zu bilden, erst recht ganze Sätze. Viel fehlt auf dem Gebiet der Mund-, Lippen- und Zungenstellung. Wir haben viele Übungen, die wir mit den Kindern machen, um die Fehler zu korrigieren.
N. K.: In Deutschland ist der Kindergarten multikulturell und mehrsprachig - jedoch nur auf der Seite der Kinder. In vielen, ja den meisten Kindergärten werden mehrere Sprachen gesprochen. Manchmal sicherlich bis zu 10 Muttersprachen. Die meisten Erzieherinnen ignorieren diesen Sachverhalt. Gibt es in den USA ebenfalls Kindergärten, in denen die Kinder aus mehreren Muttersprachen kommen? Wie gehen amerikanische Erzieherinnen/ Lehrerinnen damit um?
D. M.: Unser Programm ist auch multikulturell. Durch die geografische Lage von Mexiko haben wir Spanisch sprechende Kinder - zum Beispiel. Auch Familien aus dem Orient wohnen hier bei uns. Da nicht jeder alle vorkommenden Sprachen beherrscht, haben wir in der Stadt oder der Gemeinde Menschen, die von der Schule angesprochen werden zu helfen. Diese Leute machen das freiberuflich und bieten ihren Service frei an. Bevor sie ins Klassenzimmer kommen können, werden sie natürlich überprüft und besitzen danach die entsprechenden Papiere. Wenn ich Hilfe brauche, kommen sie und helfen - nicht nur im Klassenzimmer und mit den Eltern. Sie übersetzen auch Papiere und Dokumente und gehen mit, wenn wir Hausbesuche machen oder Elternkonferenzen halten. Ich habe zum Beispiel seit Jahren einen älteren Herrn, der pensioniert ist. Er hat in einer Botschaft in Südamerika gearbeitet. Er ist Amerikaner und spricht fließend Spanisch. Da er Zeit und Geduld hat, ist er unter der Woche in verschiedenen Klassen - wo er gerade gebraucht wird.
Wir Lehrer haben die Möglichkeit, Sprachkurse zu belegen. Ich habe gerade einen Spanischkurs und einen in Zeichensprache gemacht. Außerdem werden den Eltern Englisch-Kurse von der Schule angeboten. Meine alten Kenntnisse aus der Schulzeit wurden schon oft gebraucht. Ich hatte etwa ein Mädchen aus Afrika, das nur Französisch sprach; auch hatte ich schon deutsche Kinder. Jetzt geht es bei mir auch mit den spanischen Kindern besser. Nebenher bin ich Nachhilfelehrer in der 1. Klasse - eine Stunde pro Tag für ein deutsches Kind, das wenig Englisch kann. Großer Wert wird auf die Fortbildung der Lehrer gelegt. Selbst wenn Du eine abgeschlossene Ausbildung hast, muss jeder Lehrer mindestens 12 Stunden pro Jahr eine Weiterbildung machen.
N. K.: Neurologen sagen heute, die erste und zweite Fremdsprache würde besser im Kindergarten erlernt. Das erspare dem Kind alle späteren Probleme mit Fremdsprachen. Was halten Sie davon?
D. M.: Ich sehe aus erster Hand, dass es den Kindern leichter fällt, im frühen Alter Fremdsprachen zu lernen. Ich habe zurzeit drei Jungen in der Klasse, die Spanisch und Englisch sprechen. In dem Alter ist kein Zwang dahinter, und die Kinder lernen Sprachen in einer sehr unkomplizierten Weise untereinander. Ich habe auch Bücher und Bildbände im Klassenzimmer - in verschiedenen Sprachen, mit denen nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer lernen. Meine eigenen Kinder habe ich von Anfang an in zwei Sprachen aufgezogen.
N. K.: Frau Moss, haben Sie auch pädagogische Wünsche für Ihren Kindergarten in Colorado? Oder ist alles perfekt?
D. M.: Mehr Ausbildung für Assistenzlehrer, bevor sie ins Klassenzimmer kommen, da ich auf dem Gebiet viel selber machen muss - training on the job. Das nimmt natürlich Zeit in Anspruch, die ich besser mit den Kindern verbringen könnte.