Aus: Welt des Kindes 2004, Heft 1
Norbert Kühne
Dorothea Schirner Moss ist seit ca. 25 Jahren im US-Vorschulbereich als Lehrerin/ Direktorin tätig. Sie spricht vier Sprachen (Französisch, Spanisch, Deutsch, Englisch). D. Moss studiert zur Zeit zusätzlich Kinderpsychologie. Neben ihrer Funktion als Lehrerin ist sie häufig Mentorin für andere Vorschulen.
Vorbemerkung: In den USA scheint die Elementarerziehung präzise strukturiert und verbindlicher zu sein. Im Rahmen des staatlichen Headstart-Programms wird deswegen auch exakt festgelegt, was Kinder zum Abschluss der "Kindergarten"-Zeit z.B. sprachlich können sollen. Solche Ziele sind den sozialpädagogischen Mitarbeiterinnen stets vor Augen. Eltern werden nicht nur regelmäßig animiert, in der Institution mitzuarbeiten und ihr Kind zu Hause zu fördern, sondern sie erhalten auch z.B. in Gesprächen präzise und differenzierte Hinweise sowie Entwicklungsberichte.
KÜHNE: In Deutschland kann jede Kindertageseinrichtung mehr oder weniger selbst bestimmen, welche Lerninhalte in der Einrichtung im Vordergrund stehen. In den USA ist das System der Elementarerziehung viel strukturierter. Welche Konsequenzen hat das für Ihre Arbeit als Erzieherin?
MOSS: Da das Headstart-Programm von der amerikanischen Regierung und von einzelnen Staaten (Local Government) gefördert wird, müssen wir als Vorschullehrer nach einem bestimmten Prinzip und auch innerhalb einer vorgeschriebenen Struktur arbeiten, um am Ende jedes Schuljahres Rechenschaft ablegen zu können über die Fortschritte und Erfolge jedes einzelnen Kindes. Im großen Rahmen gesehen müssen alle 50 Staaten dasselbe Jahresziel erreichen. Wie das Vorschulprogramm aber aufgebaut ist, das ist von Staat zu Staat verschieden, je nach geographischer Lage und finanziellen Bedingungen. So sieht z.B. Headstart in Alaska anders aus als in Großstädten wie New York oder Chicago (slums, ghettos) oder in einem Indianerreservat. Das Prinzip der Vorschulerziehung im Headstart Programm ist in allen Staaten gleich, die lokale Ausführung aber ist freigestellt.
Meine persönliche Arbeit steht auf einem höheren Niveau, da ich täglich alles dokumentieren muss, woran wir mit den Kindern arbeiten, welche Fähigkeiten sie zeigen, wo ihre Schwächen und Stärken liegen, mit welchen Methoden jedes einzelne Kind am besten lernt, aber auch, ob das Kind fähig ist, innerhalb einer Gruppe zu interagieren. Die Dokumentation beginnt schon bei der Einschulung: In den Sommermonaten füllen Eltern Fragebögen über ihr Kind aus. Schon früh wird eine Akte für jedes Kind angelegt; so kann ich mir vom Kind schon ein Bild machen, bevor es in einer Gruppe ist. Der nächste Schritt sind die Hausbesuche im August - bei allen 30 Kindern. So bekomme ich von den Eltern weitere Informationen.
Ich kann also feststellen, ob Eltern und Kinder etwas benötigen (Möbel, Kleidung, Lebensmittel, Krankenversicherung, Sprachkenntnisse usw.). Headstart besteht nicht nur aus der Vorschulerziehung, sondern bezieht die ganze Familie im sozialen Rahmen mit ein.
Bei den Hausbesuchen gebe ich den Eltern einen Einblick in das Vorschulprogramm. Ich lade die Eltern ein, als aktives Mitglied im Klassenzimmer mit dabei zu sein und an der Vorschulerziehung ihres Kindes teilzunehmen, z.B. sich durch Kurse weiterzubilden - sie werden von Headstart kostenlos für Familien angeboten -, Elternabende zu gestalten und mit ihren Kindern zu Hause zu arbeiten.
Bei Kindern mit Behinderungen sind die Vorbereitungen noch intensiver. In einem Meeting mit Eltern, Therapeuten, Gesundheitspersonal (Ärzte, Schwestern, Psychologen usw.) und mir wird ein Lernplan für das Kind aufgestellt - entsprechend seinen Fähigkeiten - und ein Ziel gesetzt für das Ende des Schuljahres. Dieser Individual Education Plan wird durch Unterschrift aller Beteiligten ein gesetzliches Dokument.
Nach Schulbeginn kommen die Therapeuten 1x wöchentlich ins Klassenzimmer und arbeiten mit den Kindern entweder einzeln oder auch in Gruppen - je nach Bedarf, wobei ich als Lehrerin stets dabei bin, damit ich die therapeutische Behandlung alleine fortsetzen kann.
Im November ist die erste Elternkonferenz fällig. Die Eltern bekommen den ersten intensiven Einblick in das Vorschulleben ihres Kindes - anhand von Dokumentationen, Berichten der Therapeuten und den vielen Photos, die wir mit unserer Digitalkamera machen. Im Februar gibt es dann wieder einen zweiten Hausbesuch und im April die Jahresabschlusskonferenz mit dem Abschlusszeugnis.
KÜHNE: Wie überprüfen Sie, ob die Kinder Lernfortschritte machen, ob Ihre eigene Arbeit also effektiv ist?
MOSS: Die Anzahl der Kinder pro Lehrer ist genau vorgeschrieben. Das Verhältnis ist 1 zu 5, mit einer Begrenzung von 15 Kindern pro Klasse. Ich habe 30 Kinder - 15 am Morgen und 15 am Nachmittag. Bei jedem Kind muss ich dokumentieren, auf welchen Gebieten es während der Woche gearbeitet hat und welche Fortschritte ich sehe. Am Ende jedes Quartals - Herbst, Winter, Frühjahr - muss ich dann alle Dokumentationen in ein Zeugnis übertragen und die Fähigkeiten der Kinder in Stufen klassifizieren, sodass man am Ende des Schuljahres an Hand einer Kurve den Erfolg messen kann. Meine Eintragungen werden in unser Hauptbüro weitergeleitet und dort im PC gespeichert; am Ende des Schuljahres werden die Resultate in einem Zentralcomputer in Washington registriert.
KÜHNE: Welche Möglichkeiten haben Sie, Kinder zu fördern, die in ihren Familien weniger gut versorgt werden oder gar benachteiligt sind?
MOSS: Das Headstart Programm wurde 1964 ja deswegen eingerichtet, um benachteiligte Kinder im frühen Alter zu fördern und ihnen den Einstieg in die Grundschule zu erleichtern und einen gewissen akademischen Erfolg zu sichern.
KÜHNE: Inwieweit sind Sie in Ihrer Arbeit an Vorgaben gebunden und wo liegen Ihre Freiräume?
MOSS: Headstart hat seine Grundsätze und Richtlinien, an die jedes Klassenzimmer gebunden ist. Jedes Jahr müssen wir eine interne Begutachtung durchführen und alle drei Jahre wird die Überprüfung durch Abgeordnete von Washington vorgenommen. Den Freiraum, den wir als Lehrerinnen haben, besteht darin, dass wir unseren Unterricht mit viel Flexibilität gestalten können, solange er auf den Headstart-Grundsätzen aufgebaut ist. Wir haben zur Zeit 40 Headstart-Klassen in Colorado Springs und jede hat seine eigene Identität.
KÜHNE: In manchem Kindergarten in Deutschland gibt es inzwischen mehr Kinder aus Migranten- denn aus deutschen Familien. Für die Einrichtungen wirft das Probleme auf. Wie gehen Sie in den USA mit dem multikulturellen Hintergrund um?
MOSS: Hier in Colorado haben wir sehr viele Migrantenfamilien aus Mexiko, die oft sehr wenig Englisch sprechen. Wir sind durch Headstart-Grundsätze dazu verpflichtet, das Personal so einzusetzen, dass zumindest eine Lehrperson in jedem Klassenzimmer die einheimische Sprache (Spanisch) beherrscht. Ich selber beherrsche vier Sprachen (s.o.). Den spanisch sprechenden Eltern werden kostenlos Englischkurse angeboten, und sie lernen oft bei ihren Kindern mit.
KÜHNE: Wie ließe sich Ihrer Meinung nach das System in den USA verbessern?
MOSS: Das Headstart Programm steht mit seinen weit umfassenden Dienstleistungen weit an der Spitze der Vorschulerziehung. Es gibt natürlich auch private und korporative Vorschulen, die aus finanziellen Gründen diesen Service nicht vorweisen. In den letzten Jahren hat Headstart eine Partnerschaft mit anderen Vorschulen angetreten. Als Mentorin werde ich oft mit einbezogen, an dieser Integration teilzunehmen, Klassenzimmer an anderen Schulen einzurichten, dem Lehrpersonal zu Seite zu stehen und auch mein Klassenzimmer als Ausbildungsstätte zur Verfügung zu stellen.
KÜHNE: Herzlichen Dank für das Gespräch.