Ekaterina Iordanova
Die aktuelle Praxis
Die Vorschulbildung in Bulgarien umfasst die pädagogische Praxis der Erziehung der Kinder von drei bis sieben Jahren. Der Besuch des Kindergartens ist freiwillig. Er ist vorgesehen für Kinder, die zwischen drei und fünf bzw. sechs Jahre alt sind. Im Jahr 2005/2006 haben 73,7% der Kinder einen Platz im Kindergarten bekommen, im Jahr 2006/2007 sind es 73,9% gewesen (National Statistical Institut 2007, S. 21). Die meisten Kindergärten werden durch den Staat oder durch die Gemeinde finanziert, wobei die Eltern noch zusätzlich Gebühren bezahlen, die von dem Gemeinderat bestimmt werden (Gesetz für lokale Steuern und Gebühren).
Im Jahr 2006/2007 waren durchschnittlich 84 Kinder in einem Kindergarten, wobei in Städten die durchschnittliche Zahl in einer Gruppe bei 23 Kindern und in Dörfern bei 18 Kindern lag (National Statistical Institut 2007, S. 22). Meistens besuchen die Kinder altershomogene Gruppen. In den letzten Jahren wurden in den Großstädten immer mehr private Kindergärten gegründet, die bessere Bedingungen bieten und das Früherlernen von Englisch, Deutsch oder Französisch anbieten.
Im Jahr 2007 waren 90,3% der Kindergärten ganztags oder halbtags geöffnet. Es gibt auch wöchentliche, heilpädagogische, spezielle und Saisonkindergärten. Die pädagogische Arbeit sowohl in den staatlichen als auch in den meisten privaten Kindergärten und in der Vorschule entspricht den vorgegebenen Programmen des Bildungsministeriums. Diese Programme werden von Lehrer/innen umgesetzt, von denen im Jahr 2006/2007 62,9% über einen Bachelor- oder Magisterabschluss verfügten (National Statistical Institut 2007). Die Kernfachkräfte für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in den Kindergärten werden gleichzeitig entweder als Grundschullehrkräfte oder als Fremdsprachenlehrkräfte ausgebildet (Oberhuemer/ Schreyer/ Neuman 2009, S. 16).
Die im Kindergarten begonnenen Bildungsprozesse werden in der Vorschule fortgesetzt oder neu gestartet. Der Besuch der Vorschule in Bulgarien ist seit 2002 Pflicht, setzt ein Jahr vor dem Schulbesuch ein und ist für fünf- bis sechsjährige Kinder vorgesehen. Die Eltern bezahlen keine Gebühren. Nach dem Besuch der Vorschule bekommen die Kinder eine Bescheinigung über die erreichten Bildungsstandards mit dem Lerninhalt der Vorschulerziehung. Die Vorschule findet entweder im Kindergarten oder in der Schule statt.
Herausforderungen
Die jetzige Entwicklung der Kindergarten in Bulgarien spiegelt einerseits die für die ehemaligen osteuropäischen Länder typischen Probleme und andererseits eine alte, fast 130-jährige Tradition und spezifische ethnokulturelle Bedingung wider. Seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wird ein einheitliches sozialpädagogisches System von Kindergarten und Schule angestrebt. Die neuen Modelle und Strukturen der Vorschulbildung sollen den Bedürfnissen und Möglichkeiten jedes Kindes entsprechen und die spezifischen Vorschulbildungsstrategien, die gegen das Lesen und Schreiben in der Vorschule sind, erhalten.
Es wird in einer Situation mit sinkenden Geburtenraten und soziokulturellen Sprachproblemen aufgrund des multiethnischen Charakters der Gesellschaft auf aufeinander abgestimmte Stufen von Vorschule und Schule gesetzt. Die Zusammensetzung der drei größten ethnischen Gruppen in Bulgarien (Bulgaren, Türken und Roma) verändert sich und verlangt nach Änderungen auch in der Bildungspolitik.
Anfang 2011 hat der Minister für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sergey Ignatov, den aktuellen ethnokulturellen Stand der Gesellschaft geschildert und dargestellt, dass 48% der Erstklässler in Bulgarien eine Muttersprache hätten, die nicht Bulgarisch sei (Ignatov 2011).
Gesetzliche Grundlagen, Dokumente und Veröffentlichungen
Im Jahr 2002 wurde per Gesetz ein einheitliches sozialpädagogisches System "Kindergarten - Grundschule" geschaffen. Die Vorschulvorbereitung wurde verbindlich und erfolgt nun in Gruppen oder Klassen für ein Jahr, bevor die Kinder zur Schule gehen (Amtsblatt 90, 2002). Im Jahr 2003 wurde das Programm für die Vorschulgruppe/ -klasse veröffentlicht.
Im Jahr 2005 wurden die nationalen Bildungsstandards für die frühkindliche Bildung und für die Vorbereitung der Kinder auf die Grundschule gesetzlich verankert (Amtsblatt 70, 2005). Das Curriculum für die Vorschulgruppen/ -klassen beinhaltet die zu erreichenden Kentnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, die das Ergebnis von frühkindlicher Bildung und Fürsorge (von drei bis sieben Jahre) in den verschiedenen Bildungsrichtungen sein sollen. Es ist mit den kulturellen und Bildungsinhalten aus Art. 10 des Gesetzes für die Bildungsstufen, dem allgemeinen Bildungsminimum und dem Schulcurriculum abgestimmt (Amtsblatt 70, 2005).
Das Curriculum ist wie folgt in verschiedene Bildungsbereiche aufgeteilt:
- Bulgarische Sprache und Literatur (Anlage 1),
- Mathematik (Anlage 2),
- Orientierung in der sozialen Welt (Anlage 3),
- Orientierung in der Natur (Anlage 4),
- Bildende Kunst (Anlage 5),
- Sportaktivitäten (Anlage 6),
- Musik (Anlage 7),
- Konstruktion und technische Aktivitäten (Anlage 8),
- Lernen durch Spielen (Anlage 9).
Bis Jahr 2006 wurden sieben Programmsysteme, Programme und Lernsätze veröffentlicht, die verschiedene Technologien für die Lehrer-Kind-Interaktion anbieten.
Im Jahr 2005 erschien das nationale Programm für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Roma (2005 - 2015).
Im Jahr 2006 wurde das nationale Programm für Schulbildung und Vorschulerziehung und Vorbereitung 2006 - 2015 veröffentlicht. Das Programm wurde von der Volksversammlung am 07.06.2006 beschlossen. Es legt die bildungssystematischen Ziele und die Curriculumziele von der Vorschule bis in die Sekundarstufe fest und berücksichtigt die Entwicklung der Schlüsselkompetenzen. Die Akzente werden auf einen erweiterten Zugang zu Bildung und auf die Möglichkeiten für ein lebenslanges Lernen gelegt (Ministry of Education and Science 2007, S. 28). Die Erfüllung der im Programm vorgegebenen Ziele wird durch regelmäßige Berichte, auch im Internet, belegt.
Allgemeine Grundlagen und Prinzipien im Programm für die Vorschulgruppe/ -klasse
Das im Jahr 2003 veröffentlichte Programm soll für einen fließenden und kontinuierlichen Übergang von der Vorschule zur Schule sorgen. Das ist die Basis, auf der die konkreten Bildungsprogrammsysteme und Bildungsmaterialien weiterentwickelt werden.
Das Programm beleuchtet den Prozess der Integration der fünf- bis siebenjährigen Kinder in der verbindlichen Vorbereitungsgruppe. Es basiert auf den gegenwärtigen Untersuchungen über den Erwerb der literarischen Formen der bulgarischen Sprache in einem multiethnischen Raum. In den im Programm vorgesehenen Gruppen sind Kinder zusammen, die Bulgarisch oder seine Dialektformen sprechen oder aber zu den türkischen oder Roma-Minderheiten gehören. Daher wird der Bildungsinhalt der Wochenstunden differenziert dargeboten.
Die pädagogische Situation ist die Grundform für die Schulvorbereitung. Daher sind mehr Situationen in der Bildungsrichtung "Bulgarische Sprache" vorgesehen. Der Lehrer stellt für jedes einzelne Kind ein Programm zusammen.
Das dargestellte Modell für die Vorschulbildung beruht auf einem Konzept, bei dem die allgemeine und die spezielle Bereitschaft, zur Schule zu gehen, unter zugrundeliegender Berücksichtigung der sozial-persönlichen Vorbereitung erworben wird. Im Programm wird auf Kontinuität beim Übergang vom Kindergarten zur Vorschule gesetzt. Diese Kontinuität wird bei den Zielen, bei den erwarteten Resultaten und bei der pädagogischen Interaktion beachtet.
Die im Programm beinhalteten Prinzipien beziehen sich
- auf das Kind, den künftigen Schüler mit seinen psycho-physischen und ethno-sozialen Eigenschaften, unter Berücksichtigung seiner Muttersprache;
- auf die Umgebung, in der die Vorbereitung des Kindes stattfindet; der ganze Prozess wird in verbindlichen und geplanten sowie in verbindlichen und nicht geplanten (immer noch verbindlich für die Gruppe, aber mit der Möglichkeit, den Wochentag zu ändern) pädagogischen Situationen angeboten; diese Situationen werden als eine vorher initiierte, sachliche und persönliche Begegnung zwischen den Pädagogen und den Kindern gesehen;
- auf den Inhalt und die Struktur der kindlichen Erfahrung, wobei Erfahrung als System von Vorstellungen, Fertigkeiten und Einstellungen betrachtet wird;
- auf die Traditionen der bulgarischen Bildung, aktualisiert durch den technologischen Fortschritt des 21. Jahrhunderts.
Es wird die Verwirklichung von folgenden Prinzipien der pädagogischen Interaktion angestrebt: Toleranz und Zusammenarbeit; Öffentlichkeit und Offenheit; Tradition und Vision; Multifunktion und Systematik; Intellektualität und Pragmatismus; Kompensation und Fortschrittlichkeit.
In dem Programm für die Vorschulgruppe/ -klasse sind drei miteinander verbundene Ziele dargestellt:
Als Erstes wird die qualitative Schulvorbereitung durch Teilnahme der künftigen Schüler am Prozess der Interaktion angestrebt. Es wird nicht nur die inhaltlich-fachliche Vorbereitung berücksichtigt, sondern auch die Einheit von einer sozialen, kognitiven und speziellen Vorbereitung.
Als Zweites werden das Einhalten von den Prinzipien der pädagogischen Interaktion und die Verwirklichung der pädagogischen Situationen als Formen der Organisation angestrebt. Die von den Kindern in der Halbtags- und Ganztagsbetreuung zu erfahrenden Situationen sind verbindlich und im wöchentlichen Plan vorgeschrieben und sind verbindlich, aber nicht vorgeschrieben für die Wochentage.
Als Drittes soll das Programm einen mobilen Übergang des Kindes von den einen zu den anderen Situationen anbieten, was für seine Selbstregulation, Sozialfähigkeit und künftige Sozialrolle als Schüler wichtig ist.
Die Bildungsziele und die Inhalte der verschiedenen Bildungsrichtungen sind in verschiedene Module aufgeteilt, je nachdem ob die Kinder vor der Vorschule den Kindergarten besucht haben oder nicht. In dem erstem Modul wird als Bildungsinhalt das Erreichen der Schulbereitschaft innerhalb des Vorschuljahres angestrebt. Das zweite Modul ist für die Kinder vorgesehen, die in den vorangegangenen Jahren den Kindergarten besucht haben. Die Module stellen keinen festen Rahmen dar, sondern sie orientieren das Kind und den Pädagogen in einem immer komplizierter werdenden System von Vorstellungen, Fertigkeiten und Einstellungen.
Darstellung von konkreten Materialien aus dem pädagogischen System "Ръка за ръка" (Гюров / Колева / Витанов / Гюрова 2003)
In dem pädagogischen System "Ръка за ръка" (ьbersetzt "Hand in Hand") werden schon für die Drei- bis Vierjährigen einzelne Hefte für jede Bildungsrichtung angeboten. Die folgenden Bildungsbereiche werden berücksichtigt:
- bulgarische Sprache,
- soziale Welt,
- Welt der Natur,
- Mathematik,
- schöngeistige Information und Literatur für Kinder,
- konstruktiv-technische und alltägliche Tätigkeiten,
- bildende Kunst,
- Musik,
- Spielkultur und Darstellen,
- körperliche Kultur.
In den Bildungsbereichen "Bulgarische Sprache" und "Literatur" wird auf das Bereichern der sprachlichen Fertigkeiten des Kindes durch das Kennenlernen von sprachliche Modellen und Strukturen aus der schöngeistigen Literatur gezielt. Es werden vier thematische Blöcke dargeboten: "Wer bin ich?", "Ich und die anderen", "Ich und die Welt um mich herum", "Meine Herkunft".
Im Bereich der "Sozialen Welt" wird die Adaptation des Kindes in der Kindergesellschaft und unter den Erwachsenen im näheren Umkreis angestrebt. Es sind sechs thematische Blöcke vorgegeben: "Mein Heim", "Der Kindergarten", "Winterfeste", "Unsere Straße", "Frühlingsfeste" und "Ferien". Es wird ein methodisches Konzept angeboten, nach dem das Kind spielt und gleichzeitig lernt.
Die Kinder orientieren sich in "Welt der Natur" durch die Dynamik von Wahrnehmungen und Vorstellungen von Pflanzen, Tieren und der Naturumgebung. Die vorgegebenen thematischen Blöcke sind: "Der goldblonde Herbst", "Der fruchtbare Herbst", "Die Häuser der Tiere", "Winter", "Schneebilder", "Frühjahrserwachen", "Sonniger Sommer" und "Das Leben auf der Erde".
Im Bildungsbereich "Mathematik" werden die elementarmathematischen Vorstellungen durch vielfältige Tätigkeiten und durch Aufgaben, die sich nach Art und Schwierigkeitsgrad unterscheiden, gebildet. Die thematischen Blöcke sind: "Mengenbeziehungen", "Orientieren im Raum", "Zeitbeziehungen", "Flächenfiguren und Formen".
Die Elementarvorstellungen für die Arbeit und für die Arbeitstätigkeiten werden in dem Bildungsbereich "Konstruktiv-technische und alltägliche Tätigkeiten" entwickelt.
In dem Heft über die "Bildende Kunst" wird die Fortentwicklung der künstlerisch-ästhetischen und visuell-kommunikativen Kultur angestrebt. Es wird auf künstlerisches Wahrnehmen, künstlerisches Wiedergeben und darstellende Kreativität geachtet.
Im Heft, das die Bildungsrichtung "Musik" begleitet, wird darauf geachtet, dass die Kinder sich in einer tönenden Umwelt orientieren. Das Singen, das Musizieren und das Tanzen werden als Voraussetzung für spätere Musikkultur angesehen.
Die "Spielkultur" gibt den Kindern die Möglichkeit, sich Rollen und Regeln der Spielkommunikation anzueignen. Die Kinder werden in die verschiedenen Spielarten eingeführt. Der Inhalt des Heftes hat einen spielerisch-angewandten, spielerisch-praktischen und spielerisch-kognitiven Charakter. Es werden verschiedene Ideen und Varianten zur kreativen Transformation der Spielmaterialien angeboten sowie zum Erfüllen von individuellen und gemeinsamen Spielzielen.
Schlusswort
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Verbindung zwischen Kindergarten, Vorschule und Schule sowohl gesetzlich als auch durch konkrete Programme und Materialien angestrebt wird. Die bulgarische Vorschulbildung hat diesen Weg gewählt, um mehr Kindern, besonders aus sozial schwachen Familien und von Minderheiten, einen erfolgreichen Start in die Schule zu ermöglichen.
Literatur
Ignatov, S. (2011): Half of Bulgarian's First Graders Have Other Mother Tongue. www.novinite.com./view_news.php?id=124736 (06.06.2011)
Ministry of Education and Science. Republic of Bulgaria (2007): National Report - Contribution of Republic of Bulgaria to the 2008 Joing Interrim Report of the Council and of the European Commission on the Progress in Implementation of the Education and Training 2010 Work Programme. http://ec.europa.eu/education/lifelong-learning-policy/doc/nationalreport08/bg07_en.pdf (17.09.2009)
National Statistical Institute: Education in the Republic of Bulgaria 2007. STATPRINT Ltd. 2007
Oberhuemer, P./Schreyer, I./Neuman, M. (2009): Fachpersonal in Kindertageseinrichtungen der Europäischen Union: Ausbildungen und Arbeitsfelder. www.ifp.bayern.de/imperia/md/content/ stmas/ifp/091014_bmfsfj_fachpersonal_eu27_neu.pdf (08.06.2011)
Autorin
Ekaterina Iordaniva ist Doktorandin an der Sofioter Universität "St. Kliment Ochridski". Sie lebt in Alfeld, Deutschland.