Norbert Kühne
Frau Olga Klassen ist staatlich anerkannte Erzieherin und Spezialistin für musikalische Früherziehung. In der Sowjetunion arbeitete sie als Lehrerin und Chorleiterin. Das Interview bezieht sich auf die Zeit in der SU vor 1997 und auf die Region Kasachstan.
Norbert Kühne: Frau Klassen, erzählen Sie uns bitte, in welchen Bereichen Sie in der SU pädagogisch gearbeitet haben.
Olga Klassen: In der Sowjetunion arbeitete ich 20 Jahre in einer Pädagogischen Fachschule - als Lehrerin für Gesang, Methodik und Musik (1977-1997). Außerdem habe ich einen Studentenchor geleitet und als Praxislehrerin gearbeitet. Die Praxisstellen waren Grundschulen und Kindertagesstätten.
N. K.: Könnten Sie uns den Tagesablauf in einem Kindergarten schildern?
O. K.: Als Beispiel könnte ich den Tagesablauf der "Märchen-Kindertagesstätte" schildern:
7:00-8:30 Uhr - Aufnahme der Kinder, Freispiel
8:00-9:00 Uhr - Einzelbeschäftigung der Logopädin mit Kindern mit Sprachproblemen
9:30 Uhr - Morgengymnastik mit Musikbegleitung; Aktivitäten und Spiele in der Turnhalle
9:40 Uhr - Frühstück (warmes Gericht: z.B. Brei oder Suppe)
10:00-11:30 Uhr - Beschäftigung der Erzieherin und der Logopädin mit den geteilten Gruppen, danach mit den ganzen Gruppen (verschiedene Aktivitäten)
11:30-12:30 Uhr - Spaziergang und Spiele auf dem Spielplatz, Beobachtungen der Natur und der Umwelt
12:30-13:00 Uhr - Mittagessen aus 3 Gängen
13:00-15:00 Uhr - Mittagschlaf
15:00-15:30 Uhr - Aufwachen der Kinder, Gymnastik, Sinneserfahrungen
15:30-16:00 Uhr - Nachmittagleckerbissen oder Obst, Saft- und Milchgetränke
16:00-17:00 Uhr - Spiele, Einzelbeschäftigung mit den Kindern nach einem Auftrag der Logopädin, mit dem Psychologen oder mit der Lehrerin für Deutsch
17:00-18:00 Uhr - Spaziergang, Spiele, Beobachtungen
18:00-19:00 Uhr - Abendessen, Spiele, Elterngespräche beim Kinderabholen
Außerdem wurden die Kinder im Laufe der Woche altersabhängig in verschiedenen Bereichen gebildet und gefördert (Musik, Kunst, Theater, Sport, Sprache - auch Fremdsprache usw.). Großen Wert wurde auf Fein- und Grobmotorik, Hygiene und die gesunde Ernährung der Kinder gelegt.
Die Kindertagesstätte bestand aus 12 Gruppen: 1 Klasse (begabte 6-jährige Kinder), 2 Vorschulgruppen (6- bis 7-Jährige), 2 Älteren-Gruppen (5- bis 6-Jährige), 2 Gruppen mit 4- bis 5-Jährigen, 2 Gruppen 3- bis 4 Jähriger, 2 jüngere Gruppen aus 2- bis 3-Jährigen, 1 Krippe-Gruppe ( 1-bis 2-Jährige). Insgesamt 300 Kinder ( 25 Kinder pro Gruppe).
Es gab zwei Erzieherinnen pro Gruppe, die in zwei Wechselschichten gearbeitet haben (eine Schicht von 7:00 bis 13:00 Uhr und die zweite Schicht von 13:00 bis 19:00 Uhr), und eine Kinderpflegerin, die von 8:00 bis 16:00 Uhr arbeitete. Das Abendessen für die Kinder wurde von einer Pflegerin vorbereitet, dafür bekam sie Überstunden bezahlt. Die Kinderpflegerin hatte auch als Aufgabe, die Kinder zu füttern und für die Sauberkeit in dem Gruppenraum und im Schlafzimmer zu sorgen.
Das Personal der Kindertagesstätte bestand aus insgesamt 70 Mitarbeitern: Die Leiterin und die Vertretung waren für die pädagogische Arbeit zuständig (Leitung und Organisation). Dazu kamen 1 Logopädin, 3 Musikleiterinnen, 1 Psychologe, 1 Kinderarzt, 2 Krankenschwestern, 2 Sportleiter (der eine für die Sportstunden in der Turnhalle und draußen und der andere für das Schwimmbad), 1 Kunstleiter, 1 Lehrer für Fremdsprache, 1 Grundschullehrer für die 1 Klasse, 4 Köchinnen, 2 Wäschereiarbeiter, 1 Putzfrau, 1 Fahrer (Chauffeur) und 3 Wächter.
Für alle Kinder wurde in der Küche gekocht. Die Bettwäsche, die Handtücher usw. wurden im Waschraum gewaschen. Die Leiterin und der Fahrer brachten Lebensmittel in die Kindertagesstätte. In der alltäglichen Arbeit der Erzieherinnen fanden vormittags auch die Sprachentwicklung der Kinder und die Förderung im Mathe-Elementarbereich statt.
Die Arbeit in der Kindertagesstätte war sehr gut geplant und strukturiert (auch die alltägliche Arbeit in den Gruppen), es wurde nach einem funktionsorientierten Ansatz gearbeitet. Auf Wunsch den Eltern wurde den Kindern (altersgemäß) das Alphabet beigebracht (Lesen und Schreiben). Ein wichtiger Aspekt war die Vorbereitung der Vorschulkinder für die Schule. Zweimal pro Tag machten die Kinder Bewegungsspiele, sie beobachteten die Natur und konnten sich selbst beschäftigen. Ausflüge, Kino, Zirkus, Theaterbesuche fanden statt.
Auf dem Spielplatz befanden sich Sandkästen, Schaukeln, Häuschen, Kletterleitern, Rutschen, Märchenfiguren aus Holz.
N. K.: Frau Klassen, könnten Sie etwas über die Elternarbeit sagen?
O. K.: Die Elternarbeit begann schon beim Bringen und Abholen der Kinder morgens und abends (Elterngespräche). Elternabende, Beratungen wurden ein Mal pro Vierteljahr durchgeführt. Jede Gruppe war mit Tafeln und Informationsflächen für die Eltern ausgestaltet, und mit Beratungsmappen, in denen die Eltern sich den Tagesablauf, die Einladungen zur verschiedenen Festen, die Ankündigungen usw. ausschauen konnten. Außerdem befanden sich in der Nähe Regale mit Kinderarbeiten.
Die Eltern wurden zu den Morgenveranstaltungen eingeladen, an denen alle Kinder teilnahmen. Treffen und Gespräche mit Kaffee und Tee wurden für sie durchgeführt. Die Eltern konnten, nach Wunsch, bei jeder Aktivität in der Kindertagesstätte dabei sein. Sie konnten mit ihrem Kind in der Tierabteilung die Tiere beobachten, die Beschäftigung der Kinder im Schwimmbad, in der Turnhalle, im Musikraum usw.
In den Sprachförderungsgruppen hatte jedes Kind ein Heft, in dem es die Aufgaben und die Hausaufgaben der Logopädin machte. Die Erzieherinnen wiederholten nachmittags diese Übungen mit den Kindern, und die Eltern machten das mit ihnen zu Hause.
Die Mitarbeiter hatten einen engen Kontakt zu den Eltern: Jeden Tag erfuhren sie von den Erfolgen ihrer Kinder und hatten die Möglichkeit zu helfen, wenn Fragen auftauchten. Sie konnten eine Beratung von der Logopädin bekommen, sich anschauen, wie die Übungen gemacht werden.
N. K.: Welche Ausbildung hatten pädagogischen Mitarbeiterinnen in diesem Kindergarten? Gab es damals auch schon die Hochschulausbildung für Erzieherinnen? Welche Fortbildungen für pädagogische Mitarbeiterinnen wurden angeboten?
O. K.: Alle Mitarbeiterinnen hatten eine pädagogische Ausbildung (Fach- oder Hochschule). In den letzten 20 Jahren hatten die meisten von ihnen eine abgeschlossene Ausbildung oder ein Studium für Erzieher. Und die Leiterin musste unbedingt einen pädagogischen Hochschulabschluss haben.
Die Fortbildungen für pädagogische Mitarbeiterinnen betrafen verschiedenen Themen: neue Programme und Methoden, wissenschaftliche Untersuchungen über die Erziehung heute, Neues im integrativen Bereich, Fortbildungen für alle Fachleute (Logopäde, Musik und Sport usw.). Sehr viele Fortbildungen gab es für die Leiterinnen, auch Erfahrungsaustausch zwischen den Kindertagesstätten.
N. K.: Können Sie auch etwas über die Ausstattung der Räume und des Hauses sagen? Über die Verpflegung der Kinder, denn sie waren ja den ganzen Tag in der Einrichtung?
O. K.: Die Räume, das Haus und das Gelände waren sehr ästhetisch und geschmackvoll ausgestattet. Vieles wurde von den Fachleuten gemacht, und die Eltern haben sich öfters an der Ausstattungsarbeit beteiligt. Die Erzieher und die Kinder haben die Räume gestaltet. Jede Gruppe hatte eine Spielecke: ein Teppich mit Kindermöbel und Spielzeug; einen Friseursalon, ein Laden, eine Post, eine Ecke, in der die Kinder frei malen konnten, eine Bauecke. Unten im Spielzeugschrank gab es verschiedene Spiele. Die Kinder haben die Tiere in der Tierecke selbst gepflegt, einmal pro Woche das Spielzeug gewaschen und auf die Plätze gebracht. Oben, in den Schränken, war das Material, das die Erzieher für die Bildung und die Förderung der Kinder in der Arbeit verwendet haben.
Jede Gruppe hatte ein Schlafzimmer, in dem jedes Kind ein Bett hatte. Nach dem Mittagschlaf wurden schon im Bett Gymnastikübungen durchgeführt. Danach wurden Sinneserfahrungen gemacht, indem die Kinder z. B. barfuss auf einem Masseurgerät und einem nassen Salzlappen gegangen sind. Neben den Schlafzimmern befanden sich die Waschräume. Nach dem Essen wurden die Zähne geputzt.
N. K.: Nun kann man vielleicht vermuten, dass ein Aspekt der geringen Leistungsfähigkeit deutscher Kindergärten und Kindertagesstätten die mangelnde Kontrolle des pädagogischen Personals ist. Wie sah es in der SU mit der Aufsicht aus?
O. K.: Es gab öfters Kontrolle vom Jugendamt, vom Sanitär- (Hygiene-) Dienst, von der Betriebsaufsicht, wenn die Kitas zum Betrieb gehörten, von der Kreisverwaltung der Volksbildung. Es gab eine gute Zusammenarbeit der Pädagogischen Fachschulen mit den Kitas (Praxisstellen).
In Deutschland sind die Erzieher überfordert, weil sie sehr viel nebenbei machen müssen (das, was zu ihrer Arbeit überhaupt nicht gehört). Deshalb haben sie wenig Zeit für die Arbeit mit den Kindern. Dadurch werden sie oft gesundheitlich kaputt gemacht und verlieren die Motivation zum Arbeiten.
N. K.: Wie ist man in der SU mit speziellen Begabungen der Kinder umgegangen? Zum Beispiel mit besonderen musikalischen oder motorischen Begabungen? Gab es spezielle Förderungsprogramme für diese Kinder?
O. K.: Es gab keine speziellen Förderungsprogramme für die Kinder mit besonderen Begabungen. Nach einer Beratung haben die Eltern ihre Kinder zu den Musikschulen oder zu den Fachleuten ins Kinderzentrum gebracht. Da wurden sie nach speziellen Programmen gefördert. Dafür waren die Kitas nicht zuständig, weil schon so sehr viel Arbeit auf die Mitarbeiter zukam.
N. K.: Sprachförderung wird zur Zeit in Deutschland heiß diskutiert, dabei passiert so wenig in deutschen Kindergärten. Wie hat man in der SU Sprache gefördert?
O. K.: Zwei spezielle Sprachförderungsgruppen gab es in der Kita: Kinder mit besonderen Sprachstörungen konnten ab vier Jahren zwei Mal pro Woche eine spezielle Praxis für die Sprachförderung besuchen.
N. K.: Frau Klassen, haben Sie vielen Dank für Ihre Informationen.