Kindererziehung an Kindergärten in Ungarn

Monika Jäger-Manz

Zur Geschichte der Kindergartenerziehung

Die Kindergärten feierten im Jahre 2018 das 190-jährige Bestehen des Kindererziehungswesens in Ungarn.

Am 1. Juni 1828 eröffnete Therese Brunswick den ersten Kindergarten Ungarns und zugleich den ersten in Mitteleuropa für die Kinder armer Familien. Im Engelsgarten achteten nach englischem Vorbild aus dem Jahre 1819 Männer auf die 120, später 500 Kinder. Der erste Erzieher hieß Máté Kern. Die Eltern waren glücklich, ihre Kinder in Sicherheit zu wissen, solange sie arbeiten. Die 2 bis 7-jährigen Kinder kamen von der Straße ohne Aufsicht in den Kindergarten von Brunswick, wo sie Betreuung und Versorgung erlebten. Die Gebühren betrugen eine symbolische Summe, einen Kreuzer. Das Erziehungspersonal bemühte sich nicht nur um die Betreuung, sondern auch um eine Grundbildung und Erziehung durch Gebet, biblische Geschichten, Sprichwörter, Spiele, Singen, Naturkunde und vieles mehr. Die älteren Kinder wurden auch mit dem Lesen und Schreiben bekannt gemacht. Brunswick formulierte ihre nächsten Ziele: Schulen für die Kinder armer Familien zu eröffnen sowie sich für die Gleichberechtigung der Frauen einzusetzen und sie für die Kindergartenerziehung auszubilden.

Therese Brunswick war eine der ersten Personen Anfang des 19ten Jahrhunderts, die die Aufmerksamkeit auf die 2 bis 5-jährigen Kinder gelenkt, hat in der Überzeugung, wie wichtig diese Lebensphase für das spätere Erwachsenenalter ist. Ihr Motto hieß:

„Die frühe Erziehung ist das Wichtigste. Was der Mensch als Kind sieht, das hilft ihm in seinem ganzen Leben, dass es sich nach dem Guten orientiert.”

Der Kindergarten und seine Erziehungsrichtlinien wurden im 19. und 20. Jahrhundert weiterentwickelt und mit der Erziehung vor und nach dem Kindergartenalter abgestimmt.

Die Gegenwart

Im Erziehungsjahr 2017/18 wurden in 4 579 Kindergärten 322 700 Kinder von 31 500 pädagogischen Fachkräften betreut. Im landesweiten Durchschnitt sind in einer Kindergruppe 21,7 Kinder. Das bedeutet aber, dass in der Hauptstadt Budapest und Umgebung sowie in Großstädten diese Zahl höher, in den Dörfern mit wenig Arbeitsmöglichkeiten für junge Familien die Zahl der Kinder in Kindergärten viel niedriger ist.

In den 1990er Jahren wurden die Kinderkrippen als „unnützige Einrichtungen” geschlossen, erst 2008 erschienen Krippengruppen innerhalb der Kindergärten. Ab September 2018 existieren Kindergärten und Kinderkrippen als getrennte Erziehungsanstalten, die Zahl der Kinderkrippen steigt ständig, um die Mütter auf dem Arbeitsmarkt zu unterstützen.

Eltern können für ihre Kinder im Alter von 3-6/7 Jahren eine staatliche oder eine private  Einrichtung wählen. In den staatlichen Kindergärten muss ausschließlich für das Essen des Kindes bezahlt werden. Wenn nachmittags extra Sport- oder Fremdsprachenkurse von auswärtigen Fachleuten angeboten werden und die Eltern diese für ihr Kind in Anspruch nehmen wollen, müssen sie diese Förderungen bezahlen. In den Privatkindergärten können die Kinder gegen hohe Monatskosten an intensiven Reit-, oder Schwimmstunden teilnehmen, es gibt aber auch viele englisch- oder deutschsprachige Kindergärten mit muttersprachlichen Erzieher/innen, aber auch einige mit Montessori- und Waldorf-Pädagogik als konzeptionellen  Schwerpunkt (ca. 14 und 8 Kindergärten).

Richtlinien der Kindererziehung

Die pädagogische Arbeit mit 3-6/7-jährigen Kindern basiert auf den Inhalten eines für alle Kindergärten des Landes gültigen pädagogischen Kindergarten-Programmes. Zusätzlich arbeitet jeder Kindergarten nach einem individuellen Lokalen Erziehungsprogramm.

1. Das Landesgrundprogramm der Kindergartenerziehung (ONOAP, 1990, 1996, seitdem mehrfach überarbeitet) baut auf den Traditionen und Werten des Kindergartenwesens sowie auf den Ergebnissen der psychologischen, pädagogischen Forschungen auf und legt die Bausteine für die pädagogische Arbeit in den ungarischen Kindergärten.

Die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte wird nach dem Landes-Erziehungsprogramm/ONOAP in folgende Bereiche unterteilt:

  • pflegerische Aufgaben und Erziehung zur gesunden Lebensweise,
  • Tätigkeitsformen des Kindes: das Spiel, arbeitsähnliche Tätigkeiten, das ins Spiel integrierte Lernen,
  • Bildungsbereiche: Sprachliche, literarische, musikalische Erziehung, Bewegungserziehung, ästhetische-bildnerische Erziehung, Umwelterziehung sowie mathematische Erfahrungen.

2. Das Lokale Erziehungsprogramm enthält neben den allgemeinen Richtlinien die speziellen Erziehungsinhalte des gegebenen Kindergartens wie zum Beispiel „religiöse Erziehung” oder „Grüner Kindergarten” (ca. 890 Kindergärten).

Kindergartenpflicht ab 3 Jahren

Laut einer Verordnung (2011) sind die Kinder, die bis zum 31. August 3 Jahre alt geworden sind, ab dem 1. September kindergartenpflichtig und sollen täglich mind. 4 Stunden an der Betreuung im Kindergarten teilnehmen. Bis 2011 hatten die Eltern mit Kindern ab 3 Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und ab 5 Jahren war der Kindergarten verpflichtend.

Schulpflichtig ist das Kind, das bis zum 31. August des gegebenen Jahres sein sechstes Lebensjahr erreicht hat – bis dahin besucht das Kind den Kindergarten. Wenn die Leitung des Kindergartens oder die Eltern bzw. eine Erziehungskommission laut Schulreifetests darüber entscheiden, dass das Kind die Schulreife nicht erreicht hat, bleibt das Kind noch ein Jahr im Kindergarten.

Räume und Ausstattung

Die Gruppenräume werden entweder nach Farben (rote, grüne, blaue Gruppe), nach Tieren (Schmetterlings-, Igel-Gruppe) oder auch nach Märchenfiguren (Pumukli usw.) benannt.                                                                                                                                                                                        Zusätzlich wird das Wir-Gefühl dadurch gestärkt, dass jede Kindergruppe über einen eigenen Gruppenraum, eine Garderobe und einen Waschraum verfügt. Die gemeinsamen und die gleitenden Mahlzeiten werden in dem Mehrzweckraum oder bei Platzmangel im Gruppenzimmer eingenommen.

Die Kinder verbringen am Tag die meiste Zeit in ihren Gruppenräumen, die in der Mitte auf einem großen Teppich für den Morgenkreis, für Kreisspiele, Puppentheater oder für die gezielten Förderungen in der Gesamtgruppe genug Platz sichern.

Die Räume werden in Spielbereiche gegliedert und – je nach Bedarf und Wunsch der Kinder – jährlich mehrmals flexibel umgestaltet. So können die Räume beispielsweise folgende Elemente enthalten:

  • Rollenspielecken wie Puppenküche, „Arztpraxis“ oder Friseursalon,
  • Bauecke mit Holz-Bausteinen und Tierfiguren, Autos usw.,
  • Kuschelecke,
  • Basteltisch usw.

Die Kinder werden in einer Bezugsgruppe (blaue Gruppe oder Schmetterling-Gruppe) betreut, wo sie Geborgenheit und Liebe erfahren können. So können die Kinder zu zwei bis drei, für sie ständig erreichbare Pädagog/innen des Kindergartens eine starke emotionale Bindung aufbauen und sich jederzeit vertrauensvoll mit ihren kleinen und großen Freuden / Sorgen an diese festen Bezugspersonen wenden. Aber auch längerfristige Freundschaften und Spielgruppen bilden sich besser innerhalb einer Kindergruppe mit konstanten Mitgliedern der Gemeinschaft.

Die Angebote und die gezielten Beschäftigungen sowie die Ruhe- bzw. Schlafphase nach dem Mittagessen finden meistens innerhalb der Bezugsgruppe in den Gruppenräumen statt. Das Kennenlernen der Kinder aller anderen Gruppen des Kindergartens wird auf dem Hof / im Garten oder bei gemeinsamen Mahlzeiten, Feiern sowie Projekt-Präsentationen ermöglicht.

Eine solide Ausstattung mit viel Holzmöbeln, Spielzeugen und von den Pädagog/innen selbst hergestellte Lern- und Spielmaterialien charakterisieren die Kindergärten.

Das Personal

Die Betreuung, Bildung und Erziehung wird ausschließlich von pädagogischem Personal geleitet und begleitet, die speziell für die Arbeit mit Kindern im Kindergartenalter ausgebildet sind. In einer Kindergruppe arbeiten einerseits zwei  Kindergartenpädagogen/innen in einem Schichtsystem, die eine ca. von 7 bis 14 Uhr und die andere von 10 bis 17 Uhr sowie eine Helferin oder ein Helfer. Die pädagogischen Fachkräfte werden in bestimmten Tagesphasen zusätzlich von einer pädagogischen Assistentin und – nach Bedarf – bei einzelnen Kindern von einer Logopädin unterstützt. Im Kindergarten sind noch das Küchenpersonal und der Gärtner angestellt.

Die pädagogisch Tätigen arbeiten täglich 6,5 Stunden direkt am Kind, dazu kommen noch die Aufgaben der Beobachtung und Entwicklungsdokumentation eines jeden Kindes, die Planung der pädagogischen Arbeit sowie Organisation der nächsten Veranstaltungen und Programme sowie die Teamsitzungen. Gemeinsame Programme mit den Eltern werden für Nachmittage, manchmal auch für Samstage geplant.

Der Tagesablauf

Da auch die Mütter hauptsächlich in Vollzeit arbeiten müssen, existieren in Ungarn ausschließlich Ganztagskindergärten, die von 6-7 Uhr bis 17-18 Uhr geöffnet sind. Der Tagesablauf ist nach Tagesprogrammen, Projekten, Jahreszeiten flexibel gestaltet:

Uhrzeit (ca.)

Aktivität

06:00 – 08:00 Uhr

Empfang der Kinder

08:00 – 09:00 Uhr

Freispiel, gleitende Brotzeit/zweites Frühstück

09:00 – 10:30 Uhr

Aktivitäten, offene Angebote, gezielte Beschäftigungen

10:30 – 11:30 Uhr

Spaziergang, Aufenthalt und Spiel auf dem Hof/ im Garten

12:00 – 12:30 Uhr

Mittagessen

12:30 – 14:30 Uhr

Mittagsruhe für alle – für die älteren Kinder, Kleingruppenbeschäftigungen, Förderung in Kleingruppen.

14:30 – 15:00 Uhr

Jause (Vesper, Brotzeit)

15:00 – 17:00 Uhr

Freispiel und Abholzeit

Die Dynamik des Tagesablaufes wird nach den wechselnden Phasen gewährleistet: Orientierungs-, Bewegungs-, mehrmalige Konzentrations-, Ruhe- und Ausklangsphasen dominieren während eines Tages.

Leben in einer Kindergruppe

In fast allen Kindergärten Ungarns werden altersgermischte Kindergruppen organisiert, nur in großen, mehrgruppigen, städtischen Kindergärten kann Altershomogenität in der Gruppenzusammensetzung (Kinder in der jüngeren, mittleren und älteren Gruppe) vorkommen. Es wird großer Wert darauf gelegt, dass die Kinder soziale Erfahrungen im Umgang mit anderen und damit die Regeln innerhalb der Kindergruppe / Gesellschaft erleben können. Das Kind begegnet in jeder Aktivität und jedem Angebot Möglichkeiten, die Welt zu entdecken und zu erleben.

Die Kinder dürfen / sollen sich beim Beginn ihrer Kindergartenzeit ein Zeichen wählen, das sie 3 bis 4 Jahre lang behalten und womit sie sich identifizieren können (z.B. Sonne, Teddy, Erdbeere usw.). Diese kommen beispielsweise auf ihre Zeichnungen, an das Garderoberegal oder an den Handtuchhaken im Bad.

Ein/e Helfer/in und ein/e pädagogische/ Assistent/in unterstützen die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte abwechselnd in zwei Kindergruppen. Die Anregungen und Beschäftigungen werden in den unterschiedlichsten Sozialformen angeboten: typisch sind Einzel-, Partner-, Klein- und Teilgruppenarbeiten sowie Aktivitäten für die Gesamtgruppe.

Der Kindergarten sichert den Kindern ein zweites Frühstück und eine Jause sowie ein warmes Mittagessen. Alle Kinder essen im Kindergarten frisch gekochte Speisen.

Seit 2011 ist es vorgeschrieben, beim Zubereiten der Speisen auf die Krankheiten (wie Diabetes) oder Nahrungsmittelallergien (wie Zöliakie, Laktose) der Kinder zu achten und eine spezielle Kost anzubieten. Seit 2014 sind Kindergärten verpflichtet, salz-, zucker- und fettarmes Essen zuzubereiten.

Die Integration von Kindern mit besonderen (Betreuungs-)Bedürfnissen wird zunehmend angestrebt. Dabei kann von problemlosen Fällen bis zu physischen und moralischen Konflikten innerhalb der Kindergruppe sowie der Belastung des pädagogischen Teams und der Eltern berichtet werden.

Kontakte

Die Kontakte innerhalb und außerhalb des Kindergartens öffnen die Welt für das Kind und werden als wichtige Faktoren der Sozialerziehung betrachtet.

Natürlich pflegt der Kindergarten gute Kontakte zu den Eltern. Beim Abholen des Kindes gibt es Möglichkeiten für tägliche kurze Elterngespräche. In der Organisation der Gruppen und des Kindergartens finden regelmäßige Elternabende und gemeinsame Programme mit Kindern, Eltern und pädagogischen Fachkräften (Ausflüge, Sportprogramme, Projektpräsentationen, Feiern, Bastelnachmittage, Oma-Tage usw.) statt.

Außerdem pflegt der Kindergarten Kontakte zu den Schulen, anderen Kindergärten, u. a. zu Museen, Bibliotheken, Kirchengemeinschaften und Altersheimen.

Abschließende Gedanken

Das ungarische Kindergartenwesen erlebt in der pädagogischen Arbeit nach einer jahrzehntelang herrschenden Fremdbestimmung eine bedeutende Öffnung. Die Zahl der Kindergärten, die nach kindzentrierten Konzepten oder Methoden arbeiten, wächst ständig. Auf diesem Gebiet muss aber noch viel getan werden, weil es den Pädagogen/innen oft schwer fällt, ihre eigene leitende Position aufzugeben und stattdessen die Interessen und Initiativen der Kinder aufzugreifen und in den Mittelpunkt zu stellen.

Verbesserungsbedürftig scheinen weitere Eckpunkte der Kindergartenerziehung zu sein. In der pädagogischen Arbeit dominieren neben dem Erleben-Erfahren-Experimentieren auch die oft zu stark kenntnisorientierten Sichtweisen im Kindergartenalltag. An manchen Tagen werden zu viele Beschäftigungen und Angebote durchgeführt, die den Tagesablauf hektisch machen. Die Folge ist, dass die kindlichen Bedürfnisse oft zu kurz kommen. Das Motto „Weniger ist oft mehr” sollte in Zukunft zu einem Leitsatz des ungarischen Kindergartenalltags werden, um die Balance zu finden und dadurch einen größeren Zeitraum für das Freispiel zu ermöglichen.

Ideal wäre die Zahl der Kinder in einer Gruppe bei 20 halten zu können, um ein entwicklungsförderndes, erlebnisvolles Kindergartenleben sichern zu können (mind. 2 m² pro Kind ist Vorschrift, es sollte aber mehr Platz zur Verfügung stehen).

Unter dem Begriff Kindergarten wird nicht mehr eine Institution verstanden, die als Aufbewahrungsstätte fungiert, sondern als wichtiger Betreuungs- und Bildungsort nach der primären familiären Sozialisation des Kindes.

Landesweit zeigt sich ein Nachwuchsdilemma im Zusammenhang mit ausgebildeten Fachkräften in Kindergärten. Gründe dafür sind in erster Linie das niedrige Prestige des Berufes. Tag für Tag erleben die pädagogischen Fachkräfte, dass ihr nicht die Anerkennung in der Öffentlichkeit bekommt, die ihnen gebühren müsste. Problematisch ist das sehr bescheidene Einkommen (als Anfänger/in mit BA-Abschluss ist es kaum höher als der offizielle Lohn), aber auch die außergewöhnliche Belastung durch zusätzliche Dokumentationspflicht erschwert die Entscheidung junger Menschen für den Beruf.

Unter diesen Umständen wird eine besonders schwere Zukunft für die Kindergärten prognostiziert, was das Fachpersonal betrifft: Erstens sank die Zahl der sich um einen Studienplatz bewerbenden Studenten/innen in den letzten 5 Jahren. Zweitens werden in ein paar Jahren die älteren Fachleute in Rente gehen. Drittens suchen viele frischgebackene Absolventen/innen mit Deutschkenntnissen im Ausland (Deutschland, Österreich) nach einer Stelle als pädagogische Fachkraft.

Der Nachwuchsmangel an Kindheitspädago/innen könnte mit der Erhöhung des Gehaltes sowie mit Stipendienprogrammen an den Hochschulen / Universitäten vermindert werden.

Literatur

Czeke Marianne (1938): Brunszvik Teréz naplói. (1808-1814) Budapest. In: Dr. Hornyák Mária (1994): Brunszvik Teréz. Martonvásár: Polgármesteri Hivatal.
13/1996. (VIII. 28) Verordnung mit Modifizierungen (2018): Landesgrundprogramm der Kindergartenerziehung - Óvodai Nevelés Országos Alapprogramja
https://www.ksh.hu/docs/hun/xftp/idoszaki/oktat/oktatas1718.pdf - Angaben zur Erziehung in Kindergärten im Erziehungsjahr 2017/2018 (21. 12. 2018)
http://magyar-irodalom.elte.hu/nevelestortenet/08.01.html (02. 01. 2019)

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