Aus: DIE ZEIT, 13/2003
Petra Pinzler
Guten Tag, ich bin die Wetterfrau..." Das kleine Mädchen druckst ein wenig herum, bis Sébastien, der Kindergärtner, ihre Hand nimmt und hilft: "Heute ist ... na?" Schließlich flüstert sie schnell: "Heute ist Mittwoch, der 29. Januar, und es ist wolkig." Dann drängelt sie sich wieder auf die kleine Bank zwischen die anderen Kinder. Alle klatschen.
Jeden Morgen übt Sébastien Rabinowicz mit seinen Dreijährigen Datum, Wetter und Jahreszeit. Ein Kind darf auf dem Kalender die Zahlen des Datums durchstreichen, ein anderes klebt das Wetterzeichen daneben. Heute hängt dort eine dicke Wolke. "Sie sollen lernen, dass es Zeit und Jahreszeiten gibt", erklärt der Kindergärtner und sagt dann: Drüben bei den Größeren könne man sehen, wie viel die Kleinen in zwei Jahren wissen werden.
Ganztägig betreut zum Nulltarif
Ein normaler Mittwoch in der École No. 10 in Brüssel. Schule Nr. 10 ist eigentlich ein Kindergarten, an den sich im selben Gebäude die Schule Nr. 9 für die Grundschulkinder anschließt. In Belgien ist das nicht ungewöhnlich. Anders als in Deutschland sind Kindergärten dort ein fester Teil des Schulsystems, und 95 Prozent aller belgischen Kinder im Kindergartenalter besuchen auch einen solchen. Was sich unter Bildungspolitikern und Eltern hierzulande erst langsam herumspricht und deutschen Erzieherinnen nun in Fortbildungen beigebracht werden soll, ist vielen Nachbarländern dabei seit langem bekannt: Die Jahre vor der offiziellen Einschulung sind zu wichtig, um sie allein mit Spielen, Basteln und Kuscheln zu verbringen.
In Belgien etwa gehört die École maternelle schon längst zum Alltag. Häufig ist sie einer normalen Schule angegliedert, wird fachlich beaufsichtigt und kann von Kindern ab zweieinhalb Jahren besucht werden - vorausgesetzt, sie brauchen keine Windeln mehr. Zur École No. 10 werden die Kinder ab acht Uhr von ihren Eltern gebracht und müssen spätestens abends um halb sieben wieder abgeholt werden. Kosten: null. Nur für das Mittagessen und die Betreuung am späten Nachmittag müssen die Eltern etwas bezahlen. Noch ist der Besuch für die Kleinen in Belgien keine Pflicht - was sich für die Fünfjährigen allerdings bald ändern könnte.
Spielerisch werden in diesen Vorschulen die ersten Lese- und Schreibfertigkeiten geübt. In der Gruppe der Fünfjährigen etwa fragt Marie Lopez wie an jedem Morgen: "Wer findet den Mittwoch?" Viele Kinder zeigen auf. Sie nickt einem kleinen Jungen zu, der packt das Schild und klebt es an die Wand. Ein anderer nimmt eines mit der Aufschrift "heute", und schließlich prangt der Satz an der Tafel: "Heute ist Mittwoch der 29. Januar 2003."
"Bald werden wir üben, den Tag zu schreiben", sagt Lopez und setzt einschränkend hinzu: "Sie können natürlich noch nicht wirklich schreiben. Aber sie üben, den Bleistift richtig zu führen. Das müssen sie ja in der Schule können." Da geht die Tür auf, und eine Krankenschwester kommt herein: Sie schaut einmal die Woche vorbei und prüft, ob die Kinder ihre psychomotorischen Fähigkeiten altersgemäß entwickeln. Lopez hat derweil ein paar Hefte aus einem Haufen herausgekramt. In dem einen: leere Blätter. "Bestimmt ein Junge", lächelt sie und zeigt ein anderes vor: Dort stehen unter einer bunten Zeichnung von Asterix und Obelix auch deren Namen geschrieben.
In angeleiteten Runden, die immer wieder von freiem Spiel unterbrochen werden, sollen die Kinder nicht nur Fingerfertigkeit, sondern auch Konzentration lernen. "Sie stehen unter keinem Leistungsdruck und müssen keine Ergebnisse vorlegen", sagt Lopez und setzt dann hinzu: "Aber sie wollen lernen. Schließlich haben sie ja die Großen als Vorbild." Durch den Kontakt mit den "richtigen" Schulkindern wird nicht nur der lange Schultag kurzweiliger. So erfolgt auch der Wechsel vom Kindergarten zur Schule ganz unbeschwert, und das Lernen wird normaler Teil des Alltags.
Auch Angebote in den Sommerferien
Nicht alle Belgier sind von dem angeleiteten Lernen begeistert. "Die Kinder werden viel zu früh gedrillt", seufzt Elaine Gudt. Die Leiterin eines alternativen belgischen Kindergartens hält wenig davon, den Kleinen ein festes Programm oder gar klare Lehrziele vorzugeben. "Lasst sie doch Kinder sein", fordert sie und sagt bestimmt: "Kinder müssen spielen. Dabei lernen sie genug." In ihrem Kindergarten im Süden Brüssels sucht man vergeblich bekannte Märchenfiguren. Hier haben die Kleinen ihre Bilder frei erfunden, bei den Dreijährigen zieren bunte Farbklecksereien die Wände. Hier lautet die Devise: Kinder sollen ihre Umwelt selbst entdecken und ihre eigene Kreativität erleben. Wichtig sei vor allem, ihnen die Lust am Entdecken und Lernen nicht durch zu frühes Pauken zu nehmen. Gudt und ihre Kollegen folgen den Ideen des Pädagogen Ovide Decroly - und gehören zu einem ganzen Reigen belgischer Reformschulen.
Die Belgier sind Individualisten, und so lässt auch ihr Erziehungssystem eine große Wahl: Nicht selten liegt in einem Stadtviertel neben dem staatlichen Kindergarten der katholische oder einer, der den Ideen von Reformpädagogen wie Montessori, Steiner oder eben Decroly folgt. Der größte Nachteil der Vielfalt: Er forciert die soziale Auswahl schon sehr früh, denn bei den begehrten privaten Instituten muss man sich früh anmelden. Die Beiträge für Schulmaterial, Essen oder Aufsicht liegen deutlich höher als bei den staatlichen. Doch so groß die Unterschiede sind - im Vergleich mit Deutschland eint fast alle Institute zweierlei: Zum einen gilt es als selbstverständlich, dass die Aufsicht meist von morgens um acht bis abends um sechs angeboten wird, Mahlzeiten gemeinsam gegessen werden - und in den langen Sommerferien ganztätige Freizeitangebote den berufstätigen Eltern manche Sorge nehmen. Zum anderen verstehen sich die Kindergärten nicht als "Garten", Verwahranstalt oder reine Spielstätte. Lernen sollen die Kleinen. Was, kann allerdings je nach Einrichtung heftig variieren.
"Ich habe zwei Jungen, die sich sehr für Naturwissenschaften interessieren. Und die wollten mehr über Skelette wissen", sagt Nathalie Vancranem. Sie beaufsichtigt in der Schule Nr. 10 eine Gruppe Vierjähriger, und die wissen inzwischen nicht nur, wie Röntgenbilder und Totenköpfe aussehen. Sie können Gebisse kneten, haben aus Nudeln Skelette gebastelt und die Dinosaurier im Naturwissenschaftlichen Museum besucht. Das Programm für kommende Woche steht auch schon fest: "Vulkane."
Zu viel Drill? "In Deutschland sind wir häufig Basteltanten", antwortet Evelyn Demendi spontan. Die Kindergärtnerin aus Baden-Württemberg arbeitet in Brüssel und hat die andere Einstellung ihrer Wahlheimat schätzen gelernt. Sie erinnert sich mit Schrecken an deutsche Kindergärten: "Da ist es oft verpönt, den Kindern etwas beizubringen." Manche könnten zu Schulbeginn noch nicht einmal einen Stift halten. So etwas sei genauso kontraproduktiv wie das französische System, in dem der Drill zu früh begänne. "Dort habe ich Kinder stundenlang weinen sehen, weil sie überfordert waren", erinnert sich Demendi an ihre Zeit in Frankreich. Inzwischen arbeitet sie im Kindergarten einer internationalen Schule, in dem Gruppen je nach Sprache und Kultur zusammengefasst werden. Diese Erfahrung bringt sie zu einem ganz klaren Fazit: Gute Kindergärten sind Teil eines Bildungssystems, das die Erzieherinnen entsprechend schult und bezahlt - und schon kleine Kinder als lernwillig und interessierte Menschen begreift.
In der École No. 10 üben die Fünfjährigen begeistert ein Lied. "Hoofd, schouders, knie en teen", singen sie auf Niederländisch. Einmal in der Woche kommt eine Flämin in der französischsprachigen Schule vorbei und übt mit der Gruppe die ersten niederländischen Brocken. In Belgien - hier sind Französisch, Niederländisch und Deutsch Amtssprachen - hat das einen hoch politischen Hintergrund. Wenn die Mehrsprachigkeit verloren geht, droht dem Land die Spaltung. In der Schule No. 10 allerdings macht die neue Sprache den Kleinen zunächst einfach großen Spaß. Und zum Abschied kräht die Gruppe fröhlich: "Tot ziens" - "Tschüs."