„Reflexintegration“ als Behandlungsansatz für Lern- und Verhaltensschwierigkeiten von Kindern?


Barbro Walker

Seit einigen Jahren fallen auf dem gewerblichen Lebenshilfemarkt Angebote auf, die Pädagogen und Eltern, deren Kinder unter Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten leiden, eine wirksame Hilfe versprechen: Unter Schlagwörtern wie „Reflexintegration“ oder „Integration frühkindlicher Reflexe“ werden Behandlungen für Kinder angeboten, die angeblich unter einer „Persistenz frühkindlicher Reflexe“ leiden. Zur Thematik werden auch entsprechende Schriften und Übungsmaterialien angeboten.

Die Anbieter behaupten, dass einige Kinder angeborene frühkindliche Reflexe nicht überwänden und in der Folge in ihren psychischen, kognitiven und motorischen Kompetenzen beeinträchtigt seien. Dies mache sich durch Verhaltensauffälligkeiten und insbesondere durch Lernschwierigkeiten bemerkbar. Mit spezifischen körpernahen Behandlungstechniken könnten die persistierenden Reflexe angeblich „integriert“ werden. Dadurch verlören sie ihre störende Wirkung[1]

Die folgende Abhandlung wird der Frage nachgehen, ob die Idee von der „Reflexintegration“ wissenschaftlich fundiert ist und ob sie als Behandlung von Verhaltens- und Lernschwierigkeiten bei Kindern empfohlen werden kann. Kriterien für eine wissenschaftliche Fundierung sind die Plausibilität und Widerspruchsfreiheit der getätigten Annahmen sowie ihre Konsistenz mit wohlbestätigten wissenschaftlichen Erkenntnissen und darüber hinaus die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der propagierten Behandlung.

Funktion frühkindlicher Reflexe

Reflexe sind angeborene motorische (und zum Teil auch physiologische) Verhaltensreaktionen, die sich auf spezifische äußere Schlüsselreize hin zeigen. Als natürliche Verhaltensrepertoires sind sie im phylogenetischen Erbe des Menschen verankert und laufen durch Signalübertragung über Nervenbahnen des Rückenmarks völlig automatisiert und ohne Beteiligung der Großhirnareale ab[2].

Viele Reflexe haben lebensrelevante Schutzfunktionen und verhindern Verletzungen: Wenn wir beispielsweise mit der Hand eine heiße Herdplatte berühren, ziehen wir den Arm instinktiv blitzschnell zurück. Ein neugeborenes Baby ist mit einer Vielzahl solch angeborener Reflexe ausgestattet. Ein klassisches Beispiel ist der Greifreflex: Er stammt evolutionär betrachtet aus einer Zeit, in der sich das Menschenkind noch im Fell des Erwachsenen festhielt. Schon durch eine leichte Berührung der Handinnenfläche eines Babys wird er ausgelöst: das Baby greift fest zu. Von Erwachsenen oft als Zeichen der Zuwendung zur eigenen Person interpretiert, ist der Reflex lediglich eines von verschiedenen angeborenen Verhaltensmustern, das im Stadium des noch unreifen kindlichen Gehirns auf einen Auslösereiz hin sichtbar wird. Beim Suchreflex führt eine leichte Berührung der Wange des Neugeborenen dazu, dass das Baby sich suchend mit seinem Gesicht umherbewegt, um auf die Milchquelle zu stoßen.

Viele der postnatal beobachtbaren Reflexe verschwinden im Laufe der frühkindlichen Lebensphase jedoch wieder, weil sie durch erlernte effektivere motorische Mechanismen abgelöst werden. Bereits innerhalb des ersten Lebensjahres eines Kindes ersetzt der motorische Kortex viele der Reflexe durch die immer besser werdenden willkürlichen Bewegungen (vgl. Eliot, 2010, S. 388). Einige Reflexreaktionen (wie z.B. den Liedschlussreflex zur Befeuchtung und zum Schutz des Auges) behalten Menschen sinnvollerweise jedoch ein Leben lang.

Es wird angenommen, dass Reflexe als genetische prädisponierte Verhaltensmuster auch dem Erlernen komplexerer motorischer Abläufe als Ausgangspunkt dienlich sind. Ein Beispiel ist der Schreitreflex, der vermutlich das Erlernen des Laufens erleichtert. Es ist anzunehmen, „dass dieses Reflexmuster ein Vorläufer des reifen lokomotorischen Systems ist“ (Kandel et al., 1996). Vom Greifreflex wird beispielsweise angenommen, „(…) dass er die Basis für den Aufbau einer späteren gezielten Greifbewegung bildet. Die ursprüngliche Reflexbewegung wird dabei in überformter Weise in einen Bewegungsablauf integriert“ (Lohaus/ Vierhaus, 2015, S. 93). Erst ab dem 3./ 4. Lebensmonat ist das Greifen keine reine Reflexhandlung mehr, sondern unterliegt der Kontrolle des motorischen Kortex der Großhirnrinde (vgl. Eliot, 2010, S. 397).

Einige Reflexe haben also Bedeutung für das Überleben, „(…) andere ergeben die Grundlage für spontane motorische Fertigkeiten und wieder andere tragen zu frühen sozialen Beziehungen bei“ (Berk, 2011, S.151).

Können frühkindliche Reflexe fehlen oder persistieren?

Im Rahmen der pädiatrischen Früherkennungsuntersuchungen, die alle Kinder in Deutschland durchlaufen, werden die frühkindlichen Reflexe überprüft. Die automatisierten Reflexreaktionen und die Zeitfenster, in denen sie auftreten, sind ein Indikator für den Reifegrad und die Funktionsfähigkeit des kindlichen Zentralnervensystems. Während kurz nach der Geburt noch angeborene unmittelbar überlebenssichernde Verhaltensreaktionen dominieren, reifen die kortikalen Areale durch Erfahrungen, die das Kind mit seiner Umwelt macht, rasch aus.

Im Zuge dieser Entwicklung verschwinden einige der postnatal noch beobachtbaren Reflexe, weil sie durch willentliche motorische Abläufe abgelöst werden: „Viele Reflexe werden von älteren Hirnteilen (dem sog. Hirnstamm) kontrolliert. Sobald jedoch das Großhirn in seiner Entwicklung weit genug vorangeschritten ist, übernimmt dieses Steuerungsfunktionen. Aus diesem Grund verschwinden viele Reflexe, die für das Neugeborene kennzeichnend sind. (…). Der Übergang der Kontrolle von älteren zu jüngeren Hirnteilen erfolgt in der Regel reibungslos (…)“ (Mietzel, 2019, S. 115).

Zu den verschwindenden Reflexen zählen beispielsweise der Schreitreflex oder der Greifreflex. Für die verschwindenden Reflexe gibt es jeweils spezifische Zeitfenster, in denen sie sich zurückbilden (vgl. z.B. Wilkening, 2013). Das Verschwinden einzelner angeborener Reflexreaktionen ist im Rahmen der normalen Entwicklung ein ganz natürliches Geschehen, das bei gesunden Kindern, die in einer zumindest durchschnittlich anregungsreichen Umwelt aufwachsen, völlig automatisch geschieht.

Ein Fehlen eines frühkindlichen Reflexes im Säuglingsalter kann auf eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems hinweisen. Dies kann beispielsweise bei neurologischen Beeinträchtigungen wie sie etwa bei Zerebralparesen, intrakraniellen Läsionen, Epilepsien, peripheren Muskelerkrankungen vorliegen, beobachtet werden (vgl. z.B. Frankenburg et al., 1986). Auch ein Persistieren von Reflexreaktionen, die einem frühen  Reifegrad eines kindlichen Gehirns entsprechen, ist in Ausnahmefällen zu beobachten wie z.B. bei geistig behinderten oder motorisch stark beeinträchtigten sowie bei blind geborenen Kindern, bei denen die fehlende visuelle Stimulation zu einer verzögerten Entwicklung der Motorik führen kann.

Dass in einem späteren Lebensalter bereits abgelöste angeborene Reflexmuster wieder in den Vordergrund treten, wäre bei einer plötzlichen Schädigung höherer Gehirnregionen denkbar (denn auch wenn die frühkindlichen Reflexe nicht mehr auftauchen, so bleiben sie doch als evolutionäres „Erbe“ in unserem Nervensystem enthalten). Die erwähnten Beispiele stellen jedoch klinische Störungsbilder da, die im Rahmen ärztlicher Untersuchungen diagnostiziert würden.  

Ein Fehlen oder Persistieren von Reflexen wäre somit ein Indikator für ein schwerwiegendes Krankheitsgeschehen, das bei gesunden Kindern nicht zu erwarten ist. Dass frühkindliche Reflexe bei gesunden Kindern persistieren könnten und später gar Ursache von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten sein könnten, wird in der einschlägigen fachwissenschaftlichen Literatur daher auch nicht diskutiert[3] (vgl. z.B. Michaelis/ Niemann, 2017; Steinhausen, 2006; Resch, 1999; Petermann et al., 2000; Gold, 2011)[4].

Sind die Annahmen und propagierten Behandlungstechniken plausibel und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar?

Die Anbieter der Reflexintegrations-Behandlung gehen davon aus, dass Lernschwierigkeiten und Verhaltensproblem bei Kindern durch eine „Persistenz frühkindlicher Reflexe“ verursacht werden können. Diese Idee wird vor allem über die Webseiten und Schriften der Anbieter verbreitet; wissenschaftliche Abhandlungen finden sich kaum.

Da –wie oben bereits beschrieben– die wissenschaftlichen Fachdisziplinen die Annahme von der Persistenz frühkindlicher Reflexe als Ursache für Lern- oder Verhaltensprobleme nicht kennen, bleiben die Vertreter eine Antwort auf die Frage schuldig, wie sie hierauf kommen. Die Sichtung der einschlägigen Quellen bietet diesbezüglich jedoch kein befriedigendes Bild: Meist bleibt es bei der bloßen Behauptung, dass frühkindliche Reflexe persistieren und dann störend auf Lern- und Verhaltensprozesse einwirken sollen; vielfach werden wechselnde Erklärungen gegeben, die inhaltlich nebulös bleiben. So heißt es beispielsweise, die Lern- und Verhaltensschwierigkeiten entstünden dadurch, dass die persistierenden Reflexe höheren Gehirnfunktionen Energie raubten, weil sie dann von diesen angeblich kontrolliert und willentlich unterdrückt werden müssten. Dadurch stehe dem Gehirn nicht mehr genügend Kapazität zur Verfügung:

„Ist nun ein frühkindlicher Reflex nicht vollständig integriert, so werden die Ausführungen aller nachfolgenden Aktionen in höher gelegenen Gehirnarealen in dem Maße begrenzt, wie die frühkindlichen Reflexe noch motorische Reaktionen aufzeigen.(…) Dies bindet sehr viel Potential in den bewussten Gehirnarealen, das somit für intellektuelle Leistungen nicht mehr zur Verfügung steht “ (Hölscher, 2013, S. 14).  

Wie jedoch diese Persistenz überhaupt zustande kommen soll, wo nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bei gesunden Kindern die Ablösung frühkindlicher Reflexe durch die zunehmende Ausreifung des Großhirns völlig automatisch geschieht, bleibt im Dunkeln. Zudem wird die Vorstellung von zerebraler Funktion als Ergebnis einer Energieverteilung zwischen einzelnen Gehirnarealen, die durch Reflexe angeblich gedrosselt werden kann, der hochkomplexen Funktionsweise des Gehirns nicht gerecht. Unklar bleibt daher beispielsweise, wie ein persistierender Reflex isoliert Lernschwierigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens auslösen soll.

Die Vertreter behaupten zwar, dass die motorische willentliche Unterdrückung des Reflexes dem kindlichen Gehirn zu viel Energie raube. Wie dadurch aber dezidiert die Rechtschreibung, die primär eine kognitive und keine motorische Leistung darstellt, beeinträchtigt werden soll, wird nicht deutlich. Selbst wenn man davon ausginge, dass es so etwas wie das Persistieren einzelner Reflexe bei gesunden Kindern gäbe, so wäre allenfalls eine Beeinträchtigung bestimmter motorischer Abläufe plausibel. Nicht zuletzt zeichnen sich Reflexe ja auch gerade dadurch aus, dass sie einer bewussten und willentlichen Steuerung nicht zugänglich sind, was die angebliche willentlich durchgeführte Unterdrückung wenig plausibel macht.

Die Ärzte der Arbeitsgemeinschaft „ADHS Deutschland e.V.“ weisen dementsprechend in einer kritischen Stellungnahme darauf hin, dass es nicht einleuchte, dass die phylogenetisch uralten und nur kurzzeitig auftretenden angeborenen Reflexe in irgendeiner Form mit komplexen Verhaltens- und Lernvorgängen in der Kindheit interferieren könnten. Es mache „keinen Sinn anzunehmen, komplexe menschliche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen könnten in ihrer Gestalt oder auch Pathologie durch diese überkommenen Reflexe bestimmt sein. Ihre langfristige biologische Anlage in der Entwicklungsgeschichte lässt sie beim heutigen Menschen völlig losgelöst von der Frage seiner individuellen Lernfähigkeit auftreten und verschwinden.

Zwar legen die symptomatischen Auffälligkeiten im Fall fortbestehender Reflexe wie des Asymmetrisch-tonischen Nackenreflexes (ATNR) z. B. bei spastischen Lähmungen nahe, dass Reflexe einen generellen Einfluss auf die Entwicklung haben, doch gilt das nur, wenn sie auf physischer Ebene altersübliche Entwicklungsschritte verhindern. Warum jedoch sollte beispielsweise der unbewusste Greifreflex die Entwicklung des Bewusstseins beeinflussen, die Wahrnehmung oder das Lernen erschweren? Für eine solche Annahme fehlt nicht nur ein logischer Zusammenhang, sondern auch jede wissenschaftliche Evidenz“ (Skrodzki et al., 2017).

Kaum plausibler erscheint die Idee, dass die angeblich persistierenden Reflexe mit einer „Reflexintegration“ wirksam behandelt werden könnten. Je nach Autor/in werden unter diesem Begriff unterschiedliche köpernahe Behandlungstechniken propagiert, die die persistierenden Reflexe „integrieren“ sollen, sodass sie ihre störende Wirkung verlieren. Wie die Behandlungstechniken aber ganz konkret auf den unerwünschten Reflex einwirken sollen, bleibt unklar. Zur Wirkungsweise werden wiederum wechselnde recht diffuse Erklärungen gegeben, die von der Behauptung reichen, das Gehirn bilde neue neuronale Verbindungen und reife nach, bis hin zur Behauptung die Techniken würden energetische Dysbalancen beseitigen.

„Mit der RIT® Reflexintegration kann der Körper die Kompensationsstrategien aufgeben und das neurologische Alter dem chronologischen Alter anpassen. Damit reift das kindliche Gehirn nach und neue Verbindungen werden geschaffen, die das Gehirn sowohl motorisch als auch kognitiv effizienter arbeiten lassen und eine ausgewogene Balance aller Gehirnbereiche schafft. Somit reduzieren sich Symptome wie ADHS und ADS, Lese- und Rechtschreibschwäche. Die Sprachfähigkeit verbessert sich und der Fokus sowie die Merkfähigkeit und das motorische Vermögen nehmen zu“ (https://chiro-meier.de/rit-reflexintegration/)

Ähnlich wie bei der in der Vergangenheit bereits kritisch diskutierten sogenannten „Edu-Kinestetik“ (vgl. Walker, 2004) greifen einige Autoren offenbar auf die Vorstellung von einer unspezifischen „Energie“ zurück, die durch einen persistierenden Reflex vermeintlich aus dem Gleichgewicht gerät (oder gedrosselt wird) und durch die propagierten Übungen wieder in Balance gebracht werden soll. Auffallend häufig wird im Kontext der Reflexintegration auch auf Übungen der Edu-Kinestetik Bezug genommen. So weist Beigel (2018) beispielsweise im Rahmen der Diskussion um Reflexintegration auf die Notwendigkeit der Integration der Gehirnhälften für erfolgreiche Lernprozesse hin. Sie führt diverse Lernschwierigkeiten auf mangelhaft integrierte Hemisphären zurück, weshalb sie für die Reflexintegration auch Überkreuzbewegungen wie sie im Rahmen von „Brain-Gym“ entwickelt worden seien, empfiehlt (ebd., S. 28). Wie bereits im Rahmen der Diskussion um die Edu-Kinestetik ausführlich erläutert, ist jedoch die Vorstellung, das menschliche Gehirn werde von energetischen Dysbalancen heimgesucht, nicht haltbar (vgl. Walker, 2004).

Die Variationsbreite der unter dem Begriff „Reflexintegration“ propagierten Behandlungsformen ist groß und reicht von Massage- und Akkupressurtechniken über Bewegungs- oder Gleichgewichtsübungen bis hin zur Empfehlung, spezifische Nahrungszusätze und elektromagnetische Strahlung zu meiden (vgl. z.B. Sieber/ Queißer, 2020). Neben Edu-Kinestetik werden auch andere Verfahren, wie etwa das Neurolinguistische Programmieren oder Techniken aus der Osteopathie zur Reflexintegration genutzt. Angesichts der großen Menge und Vielfalt der propagierten Behandlungstechniken sowie der inkonsistenten Erläuterungen zu ihren angeblichen Wirkungsweisen, ist nicht davon auszugehen, dass diese Gegenstand wissenschaftlicher Forschung waren[5].

Die wenig spezifische und sich ständig erweiternde Menge ist vielmehr ein Indiz dafür, dass es sich bei der Reflexintegration nicht um eine klar umrissene wissenschaftlich fundierte Methode handelt, sondern um ein Potpourri körpernaher Behandlungstechniken, das je nach Anbieter variiert und nach Belieben erweitert wird. 

Die Fragwürdigkeit der Idee von der Persistenz frühkindlicher Reflexe offenbart sich am deutlichsten bei der Sichtung der kindlichen Symptome, die angeblich in der Folge auftreten können. Je nachdem, welche Quelle herangezogen wird, reichen die beschriebenen Symptome von Problemen beim Schreiben und Lesen lernen über eine unschöne Handschrift, Sprachschwierigkeiten, soziale Ängste, Bettnässen, Vergesslichkeit, Unordentlichkeit bis hin zu Hyperaktivität und Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten (vgl. z.B. Beigel, 2018; Hölscher, 2013; Goddard Blythe, 2019; Ritter, 2018, Sieber/ Queißer, 2020).

Dabei fällt nicht nur die große Menge, sondern auch die inhaltliche Variationsbreite der potenziellen Symptomatologie auf; sie weitet sich in einigen Schriften auch auf gesundheitliche Probleme wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Sehschwächen und Allergien aus. Schlussendlich scheint es kaum ein Symptom zu geben, das sich nicht auf eine angebliche Persistenz frühkindlicher Reflexe zurückführen ließe. Wäre die Symptomatologie das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, so müssten Symptome klar umschrieben und Begrifflichkeiten operationalisiert sein. Die auffallend große Menge und Vielfalt unerwünschter Verhaltensweisen, die angeblich Folge persistierender frühkindlicher Reflexe sein können, ist ein weiteres Indiz für die fehlende wissenschaftliche Fundierung des Ansatzes.

Welche Belege liegen für die Wirksamkeit der propagierten Behandlung vor?

Die Frage nach wissenschaftlichen Belegen für Zusammenhänge zwischen persistierenden Reflexen und Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten oder der Wirksamkeit der propagierten Behandlungen erübrigen sich theoretisch mit der mangelnden Plausibilität der Annahmen: Solange es keinen Hinweis darauf gibt, dass persistierende frühkindliche Reflexe bei gesunden Kindern überhaupt existieren, ist die Frage nach wissenschaftlichen Evidenzen obsolet. Möglicherweise auftretende statistische Zusammenhänge können daher auch nicht als Kausalität gedeutet werden. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie auf andere Ursachen (z.B. den Placebo-Effekt) zurückzuführen sind.

Die von einigen Protagonisten auf ihren Webseiten aufgeführte Liste angeblicher wissenschaftlicher Studien erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig überzeugend: Die meisten der dort genannten „Untersuchungen“ wurden von den Vertretern selbst durchgeführt und können daher kaum als unabhängig und objektiv erachtet werden[6].

Zudem wurde der Großteil der Studien nicht in einschlägigen wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlich, sodass über die methodische Qualität keinerlei Aussage getroffen werden kann. Lediglich drei der dort genannten Studien sind überhaupt in renommierten Wissenschaftsjournals erschienen[7]. Die Ergebnisse gerade dieser Studien sind jedoch ausgesprochen zurückhaltend formuliert: Obgleich bei Kindern mit bestimmten Lernschwierigkeiten (z.B. beim Lesen) vereinzelt angeblich eine größere Prävalenz für ein Persistieren einzelner Reflexe nachzuweisen war, wird ganz klar darauf hingewiesen, dass dies nicht als Beleg für eine Kausalität zu deuten sei und schon gar nicht als Universalerklärung für spezifische Lernschwierigkeiten: „However, (…) it is stressed that the persistence of primary reflexes cannot be used as a causal model for reading difficulties, including dyslexia“ (McPhillips, 2004, S. 317).

Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Studienlage den Schluss, dass Verhaltensproblematiken wie ADHS durch frühkindliche Reflexe ausgelöst oder begünstigt sein könnten, bisher nicht zulässt und weiterer Forschungsbedarf insbesondere für Längsschnittstudien besteht:

„Thus, further studies that adopt a longitudinal approach are needed before any firm conclusions about the relationships amongst these reflexes, and their links to AD/HD symptomatology and academic achievement, can be drawn“ (Taylor et a., 2004, S. 35).

Einige Vertreter versuchen die unzureichende Studienlage mit positiven Einzelberichten zu kompensieren (vgl. z.B. Beigel, 2018). Die Schriften beinhalten etliche anekdotische Heilsberichte, wie man sie auch von anderen Angeboten des Lebenshilfemarkts kennt. Dass subjektive Eindrücke jedoch äußerst anfällig für allerlei Verzerrungen sind und daher methodisch gut designte Studien keinesfalls ersetzen können, steht aus wissenschaftlicher Sicht außer Frage (vgl. z.B. Ernst, 2021, S. 10f.).

Insgesamt betrachtet besteht zwischen den von den Protagonisten verbreiteten Annahmen und den vielfältigen Heilsversprechen einerseits und der wissenschaftlichen Studienlage andererseits eine erhebliche Diskrepanz. Außenstehenden gegenüber wird dies aber nicht deutlich gemacht - im Gegenteil: Beigel (2018) suggeriert beispielsweise in ihrer Schrift, überzeugende Evidenz für die Persistenz frühkindlicher Reflexe als Ursache für Lern- und Verhaltensschwierigkeiten liege längst vor, wenn sie schreibt: „Aufgrund praktischer Arbeit und wissenschaftlicher Forschung wurde erkannt, dass das Fortbestehen frühkindlicher primitiver Reflexe über ihren normalen fortgeschriebenen Zeitpunkt hinaus zu Auffälligkeiten im Verhalten und Lernen von Kindern führen kann (ebd., S. 109). Skrodzki et al. (2017) formulieren auf dem Hintergrund fehlender wissenschaftlicher Evidenz hingegen ganz dezidiert: 

„Ein Zusammenhang zwischen ADHS, LRS und anderen Lernstörungen einerseits sowie frühkindlichen Reflexen – mögen diese nun altersentsprechend verschwinden oder aber persistieren – besteht nicht“.

Zusammenfassung

Insgesamt lässt sich festhalten, dass es sich bei der Annahme, Lern- und Verhaltensschwierigkeiten seien auf ein Persistieren frühkindlicher Reflexe zurückzuführen, um eine Außenseiterposition handelt, die sich jenseits der etablierten Wissenschaftsdisziplinen bewegt und die kein Fundament in wissenschaftlichen Erkenntnissen und Untersuchungen hat. Schon gar nicht kann davon ausgegangen werden, dass die angebliche Persistenz frühkindlicher Reflexe ein verbreitetes Phänomen bei gesunden Kindern darstellt, das für eine Vielzahl von Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich ist. Zwischen der Vermarktung und Bewerbung der Behandlungstechniken einerseits und ihrer wissenschaftlichen Fundierung andererseits besteht eine auffallende Diskrepanz: Angesichts der unzureichenden Studienlage kann nicht behauptet werden, dass überzeugende wissenschaftliche Evidenzen für die Annahme von der Persistenz frühkindlicher Reflexe vorliegen, ebenso wenig wie dafür, dass die propagierten Behandlungstechniken zur „Reflexintegration“ in spezifischer Weise wirksam sind.

Selbst wenn davon auszugehen ist, dass die meisten der propagierten Behandlungstechniken keine unmittelbar schädliche Wirkung für den kindlichen Körper haben, so besteht grundsätzlich die Gefahr, dass eine tatsächlich notwendige und wirksame Behandlung oder Hilfe dadurch unterlassen wird. Pädagogischen Fachkräften und Eltern wird vermittelt, man könne komplexe pädagogische Probleme mit einfachen körperorientierten Behandlungstechniken beseitigen; Kindern wird suggeriert, ihre Schwierigkeiten seien auf eine neuromotorische Fehlfunktion ihres Körpers zurückzuführen. Einer realistischen Einschätzung und Bearbeitung pädagogischer Fragen und Probleme stehen diese Implikationen entgegen.

Die eingangs gestellte Frage, ob die Idee von der „Reflexintegration“ wissenschaftlich fundiert ist und ob sie als Behandlungsansatz von Verhaltens- und Lernschwierigkeiten bei Kindern empfohlen werden kann, muss daher verneint werden.

Endnoten

[1] Die Initiierung der Behandlung geht ursprünglich auf ein privates „Institut für neuromotorische Entwicklungsförderung“ (Institute for Neuro-Physiological Psychology- abgekürzt „INPP“) zurück, das in England nach eigenen Angaben von Sally Goddard Blythe gegründet wurde. Blythe hat ihre Ideen und Techniken markenrechtlich schützen lassen und bietet im Franchise-System in Deutschland Behandlungen und Lehrgänge  an. Sie gilt als Hauptvertreterin und hat mehrere Schriften u.a. im Freiburger Verlag für Angewandte Kinesiologie veröffentlicht. Rund um die Idee von der Reflexintegration haben sich marktförmige Strukturen gebildet, unter denen der Verkauf der propagierten Behandlungsangebote aktiv vorangetrieben wird.

[2] Dementsprechend wird gelegentlich auch der Begriff „Primitivreflex“ synonym verwendet.

[3] Als einschlägige wissenschaftliche Fachdisziplinen für den Themenkomplex „Frühkindliche Reflexe“ werden die Disziplinen Pädiatrie, Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Neuropsychologie erachtet.

[4] Das Diagnosemanual DSM 5 kennt „Entwicklungsbezogene Koordinationsstörungen“, die auch Komorbidität mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten haben, allerdings wird für keine dieser Varianten ein Persistieren Frühkindlicher Reflexe als mögliche Ursache diskutiert. Auch für die mannigfaltigen Formen von Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten werden im DSM frühkindliche Reflexe nirgendwo als Ursache oder charakteristische Symptome angegeben (American Psychiatric Association, 2015).

[5] Zudem sind viele der aus anderen Ansätzen entlehnten Behandlungstechniken ihrerseits wegen mangelnder wissenschaftlicher Fundierung kritisiert worden.

[6] Eine solche Auflistung findet sich auf vielen Webseiten der Anbieter und z.B. unter folgendem Link: file:///C:/Users/Admin/Downloads/%C3%9Cbersicht%20wissenschaftlicher%20Studien%20zu%20Reflexintegration%20(4).pdf

[7] Nämlich: Taylor et al. (2004); McPhillips/ Sheeny (2004) und McPhillips et al. (2000).  In einigen ergotherapeutischen Fachzeitschriften finden sich Artikel zur Reflexintegration, die sich aber überwiegend auf Therapieempfehlungen ohne empirischen Nachweis beschränken (z.B. Bergerhoff, 2018); eine Ausnahme bilden Bäcker/ Beigel et al. (2006), allerdings ohne dass überzeugende Belege für einen Zusammenhang zwischen angeblich persistierenden Reflexen und Lernschwierigkeiten oder die Wirksamkeit spezifischer Übungen vorgelegt werden konnte.

Literatur

American Psychiatric Association: DSM-5. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. Hogrefe, 2015.

Bäcker, Andreas; Dorothea Beigel et al.: Integration primärer Reflexe zur Verbesserung von Lern- und Verhaltensstörungen. In: Praxis Ergotherapie. Jg. 19 (4), 8/ 2006, S. 212-216.

Beigel, Dorothea: Flügel und Wurzeln: Persistierende Restreaktionen frühkindlicher Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten. Verlag für modernes Lernen, 2018.

Bergerhoff, Tobias: Persistierende frühkindliche Reaktionen. Eine kritische Betrachtung aus physiotherapeutischer Sicht. In: pt- Zeitschrift für Physiotherapeuten_60 [2008] 10, S. 1127-1132.

Berk, Laura: Entwicklungspsychologie. Pearson, 2011.

Beuse, Wolfgang: Persistierende frühkindliche Reflexe. Störungen unserer Sinne? Zeitschrift für ganzheitliche Medizin, Ausgabe 2015, S. 7f.

Eliot, Lise: Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. Berlin Verlag, 2010.

Ernst, Edzard: Heilung oder Humbug? Springer, 2021.

Frankenburg, William K.; Susan M. Thornton; Marlin E. Cohrs (Hrsg.): Entwicklungsdiagnostik bei Kindern. Trainingsprogramm zur Früherkennung von Entwicklungsstörungen. Thieme, 1986.

Goddard, Sally: Greifen und Be-Greifen. Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen. Verlag für Angewandte Kinesiologie (VAK), 2019.

Gold, Andreas: Lernschwierigkeiten. Ursachen, Diagnostik, Intervention. Kohlhammer, 2011.

Hölscher, Bärbel: Kraftvoll! Reflexe prägen das Leben. Bod - Books on Demand, 2013.

Institut für Neuro-Physiologische Psychologie (INPP): https://www.inpp.de/ (aufgerufen am 20.04.2020)

Kandel, Eric R.; James H. Schwartz; Thomas M. Jessell (Hrsg.): Neurowissenschaften. Spektrum, 1996.

Kasten, Hartmut: 0-3 Jahre. Entwicklungspsychologische Grundlagen und frühpädagogische Schlussfolgerungen. Cornelsen, 2017.

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Mietzel, Gerd: Wege in die Entwicklungspsychologie. Beltz, 2019.

Petermann, Franz; Kay Niebank, Herbert Scheithauser (Hrsg.): Risiken in der frühkindlichen Entwicklung. Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Hogrefe, 2000.

Resch et al.: Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters. Ein Lehrbuch. Beltz PVU, 1999.

Ritter, Karin: Neuromotorisch fit. Kindernöte: verblüffend einfache Hilfen aus der osteopathischen Praxis. TRIAS Verlag, 2018.

Sieber, Christine; Queißer, Carsten: Wieder im Gleichgewicht. Der bedeutende Einfluss frühkindlicher Reflexe auf das Gehirn unserer Kinder. Kösel-Verlag, 2020.

Skrodzki, Klaus; Anstrid Neuy-Lobkowicz und Johannes Streif: Persistierende Neugeborenen-Reflexe. In: neueAKZENTE (Vereinszeitschrift des Vereins „ADHS Deutschland e.V.“), Nr. 108, 3/2017. https://www.adhs-deutschland.de/Portaldata/1/Resources/pdf/4_5_neue_akzente/2017/Persistierende_Neugeborenen_Reflexe_Leseprobe_neue_AKZENTE_108_3-2017.pdf (aufgerufen am 09.02.2021)

Steinhausen, Hans-Christoph: Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Urban & Fischer, 2000.

Taylor, Myra et al.: Primitive Reflexes and Attention-Deficit/ Hyperaktivity Disorder: Developmental origins of Classroom Dysfunction. In: International Journal of Special Education, 2004, Vol 19, No.1, S. 23-37.

Walker, Barbro: Edu-Kinestetik – ein pädagogischer Heilsweg? Eine kritische Analyse. Tectum, 2004.

https://chiro-meier.de/rit-reflexintegration/ (aufgerufen am 20.2.2021)

Autorin
Prof. Dr. Barbro Walker ist Professorin für Kindheitspädagogik an der Hochschule für Angewandte Pädagogik (HSAP) in Berlin.

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