Auffälligkeiten und Probleme: Prävention und allgemeine Erziehungsmaßnahmen

Aus: Martin R. Textor (Hrsg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim, Basel: Beltz 1996, S. 48-59

Ingeborg Becker-Textor

Fast klingt es etwas befremdend, wenn wir in der Pädagogik von Prävention sprechen – einem Begriff, den wir in der Regel in viel engerem Bezug zur Medizin sehen. In die Alltagssprache übertragen bedeutet Prävention: Durch handelndes Sich-Einmischen kommt es vorbeugend bzw. verhütend zur Ausschaltung von schädlichen Faktoren. Prävention will krankmachende Faktoren ausschalten bzw. sie günstig durch Interventionen oder pädagogisches Handeln beeinflussen. Verhalten soll geändert, als negative Auslöser wirkende soziale Bedingungen sollen verbessert werden. Ziel ist also im weitesten Sinn eine Verhaltensänderung. Wie einfach klingt dies, und wie schwierig ist Prävention aber gerade im Bereich der Pädagogik!

Wie es in der Überschrift zu diesem Beitrag heißt, sollen Auffälligkeiten – die über das „normale“ Verhalten hinausgehen – und Probleme verhindert oder zumindest günstig beeinflusst werden. Dies soll durch allgemeine, ganz alltägliche Erziehungsmaßnahmen möglich sein? Das Wort „Erziehungsmaßnahmen“ klingt dabei sehr streng und erinnert an Bestimmen oder Anordnen (wir kennen diesen Begriff noch aus dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz). Gemeint sind damit in diesem Beitrag jedoch die Möglichkeiten und Grenzen, die der Alltag in einem Kindergarten in sich birgt, wie mit Auffälligkeiten und Problemen umgegangen werden kann.

Alle Erziehung wird geprägt von Werten und Normen, die sich individuell und gesamtgesellschaftlich, kultur- und religionsabhängig bestimmen lassen. Damit wird deutlich, dass es die Werte und Normen der Erziehung in einer allgemein gültigen Einheitlichkeit gar nicht geben kann. Die Einschätzung und Würdigung von Verhalten sind immer subjektiv geprägt, eine für alle Fragen der Erziehung geltende Richtschnur ist kaum denkbar. Dasselbe gilt für Auffälligkeiten und Probleme, wie folgendes Fallbeispiel verdeutlicht:

Karla, 5 Jahre alt, ist das erste von drei Kindern und besucht seit zwei Jahren einen Kindergarten, der gleichzeitig der Lehrkindergarten einer Fachschule für Sozialpädagogik ist. Seit Wochen schon will Karla nicht mehr in den Kindergarten. Sie klagt über Übelkeit, Kopfschmerzen und Bauchweh; medizinisch lässt sich aber keine Ursache feststellen. Die Kindergartenleiterin bittet die Mutter zum Gespräch und beklagt die Auffälligkeiten von Karla: „Karla ist trotzig. Sie hält sich überhaupt nicht an Regeln, und immer muss sie alles anders machen als die übrige Gruppe. Wir sind ein Lehrkindergarten, und da muss alles wie am Schnürchen laufen. Sie sollten mit dem Kind 'mal zu einer Beratungsstelle gehen. Wenn Karla in einem Jahr in die Schule kommt und sich dann immer noch so verhält, dann sehe ich schwarz.“

Sicherlich ist diese Art des Gesprächs mit der Mutter nicht als besonders „glücklich“ zu bezeichnen. Es erfolgen Schuldzuweisungen an das Kind und gleichzeitig auch Kritik am Erziehungsverhalten der Mutter. Die Mutter ist sehr betroffen von den Aussagen der Erzieherin, zumal ihr auch seit Wochen auffällt, dass Karla nicht glücklich ist. Auf Fragen, was Karla im Kindergarten nicht gefällt, reagiert das Kind nur mit einem Kopfschütteln. Die Mutter bittet die Erziehungsberatungsstelle um einen Termin. Karla wirkt beim gemeinsamen Spiel mit der Psychologin recht ängstlich, fragt immer wieder: „Darf ich das wirklich?“ „Und wenn ich das anders mache?“ Schon nach dem zweiten Beratungstreffen sagt die Beraterin der Mutter, dass Karla „in Ordnung“ sei, aber wohl Angst hätte, etwas falsch zu machen, und sich deshalb nicht entscheiden könne oder wolle. Ob das wohl auf die hohen Erwartungen im Lehrkindergarten zurückgeführt werden kann?

Das Problem „löst“ sich dadurch, dass die Leiterin des Kindergartens ein Gespräch mit der Erziehungsberatungsstelle ablehnt und statt dessen der Mutter mitteilt, dass der Träger des Kindergartens von seinem Ermessensspielraum Gebrauch machen möchte und sie bittet, das Kind aus dem Kindergarten abzumelden. Verzweifelt wendet sich die Mutter erneut an die Erziehungsberatungsstelle und bekommt von dort die Adresse einer anderen Einrichtung. Zum ersten Besuch nimmt die Mutter Karla nicht mit. Als die Mutter von den Schwierigkeiten berichten will, wird sie von der Leiterin gebeten, Karla einfach ein paar Tage als Gastkind zu bringen. „Wissen Sie, ich möchte keinen Bericht über den anderen Kindergarten. Mir ist es viel lieber, wenn ich mir selbst ein Bild machen kann. Wenn Sie Lust haben, können Sie auch gerne gemeinsam mit Karla hierbleiben. Ich werde den Kindern in der Gruppe sagen, dass Karla uns während der nächsten Tage besuchen wird und dann vielleicht auch ganz bei uns bleibt.“

Die Mutter verlässt erleichtert die Einrichtung und berichtet Karla von ihrem Besuch. Bereits am nächsten Tag kommen die beiden in den Kindergarten. Michaela, 6 Jahre, geht fragend auf Karla zu: „Bist Du Karla? Ich weiß schon, Du besuchst uns. Komm ich zeig' Dir alles. Deine Mutter kann auch spielen, was sie will.“ Michaela geht mit Karla zur Bilderbuchecke und zeigt ihr ein neues Bärenbuch. Verstohlen wirft Karla immer wieder einen Blick auf ihre Mutter. Frau S. ist anfangs auch unsicher. Da kommt Petra, 4 Jahre, auf sie zu: „Spielst Du mit in der Puppenecke? Weil, weißt Du, keiner will die Oma sein. Und wir brauchen eine Oma, die muss das Baby ausfahren.“

Der Vormittag verläuft völlig problemlos. Mutter und Tochter gehen zufrieden heim. Die Erzieherin bittet die Mutter, am Nachmittag kurz anzurufen, sozusagen zur Reflexion. Bei dem Telefonat sagt die Mutter: „So viel hat mein Kind seit Wochen nicht mehr geredet. Es hat ihr sehr gut gefallen. Und darf ich Sie etwas fragen? Die Kinder waren alle so ganz selbstverständlich selbständig und sicher. Sie haben gar nicht immerzu Aufgaben verteilt. Ich habe mich auch sehr wohlgefühlt. Und Karla hat meines Erachtens gar nicht gestört. Kommt das vielleicht erst in ein paar Tagen?“

Es kam auch nach Tagen nicht. Vielmehr fielen die Phantasie und die Kreativität von Karla auf. Sie fand originelle und ausgefallene Lösungen und verstand es, andere Kinder zu motivieren und mitzureißen. Bereits nach wenigen Tagen gab die Erzieherin der Mutter eine feste Platzzusage. Übrigens hatte sich auch die Kinderkonferenz für die Aufnahme von Karla entschieden.

Warum dieses Fallbeispiel? Es macht deutlich, wie subjektiv die Beschreibung von Auffälligkeiten und Problemen sein kann und wie abhängig ein Kind in der Kindertagesstätte von den Einschätzungen, Werten und Normen der dort wirkenden Erzieher/innen ist. Kann es dann allgemeine Anregungen zur Prävention von Verhaltensauffälligkeiten geben?

Hermann Hesse (1971, S. 85) umschreibt diese Problematik: „Auch rechnet man ja so vieles zu den Unarten, nur weil es die Eltern stört, während das Kind mit bestem Gewissen tut, was ihm natürlich ist und unverfänglich scheint“ (für das Wort Eltern kann man natürlich auch das Wort Erzieher/innen einsetzen). Hier beginnen die Herausforderungen an die Pädagogik und die Pädagogen/innen: „Wir haben uns deshalb zu fragen, in welcher Weise Pädagogik verändert werden müsste, um zu einer Erziehung zu führen, die den Menschen befähigt, in seinen Lebenssituationen – auch den nicht vorhersehbaren – kritisch, verantwortungsbewusst und kompetent handlungsfähig zu werden. Eine solche Pädagogik setzt voraus, gegenwärtige gesellschaftliche Situationen zu analysieren... Sie [die Pädagogik] muss ihrem eigentlichen Wesensmerkmal gerecht werden, einen offenen Blick für Entwicklungen der Zukunft zu haben, da das Kind nicht für die gegenwärtigen, sondern für die in seiner Zukunft entstehenden Lebenssituationen erzogen und handlungsfähig gemacht werden muss“ (Hansen/ Pausewang 1986, S. 15 f.).

Prävention beginnt also bereits mit jeglicher Erziehungsmaßnahme. Damit wird erneut indirekt der Anspruch erhoben, dass wir eine neue Pädagogik brauchen bzw. uns auf das eigentliche pädagogische und erzieherische Handeln rückbesinnen müssen. Erziehung und Erziehungshilfe zielen auf dauerhafte Veränderungen und zukünftige Entwicklungen ab: „Die aber können nur eintreten, wenn sich zugleich die soziale Infrastruktur, der Lebenskontext, ändert. Wie viel Autonomie – als Ziel der Erziehung – sich im einzelnen System ausbildet, hängt von seiner Umwelt ab. Es war Paul Moor, der den heilpädagogischen Schlüsselsatz geprägt hat: 'Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende!' Heilpädagogik ist keine Reparaturpädagogik“ (Speck 1991, S. 219). Pädagogik und Heilpädagogik haben demnach also präventiven Charakter und wirken im Feld der Erziehung stabilisierend. Sie sind nicht erst gefragt, wenn Auffälligkeiten auftreten, sozusagen als Heilmittel, sondern müssen in rechter Weise in den erzieherischen Prozess integriert werden. Dann wirken sie präventiv und damit auch problemverhindernd oder -mildernd.

Die Vielzahl der auffälligen Kinder und die immer wieder sehr differenziert beschriebenen Probleme zeigen, dass dem Präventionsgedanken bisher kaum, auf alle Fälle aber zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Vielmehr werden Auffälligkeiten beschrieben und dann wird nach Hilfe bzw. Abhilfe verlangt. Viel zu kurz kommen eine gründliche Ursachenforschung, eine Analyse des Verhaltens des Kindes und des Verhaltens der Personen in seinem Umfeld sowie die Untersuchung des Erziehungsverhaltens der pädagogischen Mitarbeiter/innen in den Kindertageseinrichtungen. Gerade letztere klammern häufig ein Nachdenken über ihre Wirkung als Erziehende auf das kindliche Verhalten aus und verlangen nach heilpädagogischen Interventionen und therapeutischen Angeboten für auffällige Kinder, die aber letztlich oftmals nur Symptomträger für eine kranke Umwelt sind.

Welche Probleme und Auffälligkeiten werden von Erziehern und Erzieherinnen am häufigsten genannt? Eine von mir durchgeführte Befragung in 280 Kindergärten brachte bei einem Rücklauf von 190 Fragebögen (aus 190 Einrichtungen) folgende Nennungen:

  • Gewalttätigkeit
  • Streitsucht
  • Aggressivität
  • Unkonzentriertheit
  • mangelnde Fähigkeit zur Konfliktlösung
  • Distanzlosigkeit
  • starkes Liebesbedürfnis
  • Geltungsdrang
  • gewaltsames Auf-sich-aufmerksam-Machen, verbunden mit dem Wunsch nach Zuwendung
  • Kontaktschwierigkeiten
  • Sprachstörungen
  • motorische Unruhe
  • Nervosität
  • persönliche Eigenarten und daraus erwachsende Einordnungsschwierigkeiten
  • übermäßige Zurückhaltung
  • ausgeprägter Egoismus
  • Rechthaberei
  • Starrsinn
  • Kommunikationsstörungen
  • Sprachstörungen
  • Spielunfähigkeit
  • fehlende soziale Kompetenzen usw.

Dieser Aufzählung liegen Bewertungen durch Personen zugrunde, die Auffälligkeiten beschreiben. So kommt es zu einer Abhängigkeit zwischen Personen, die Störungen erkennen und beschreiben, und der Person, die sich aus der Sicht der beurteilenden Personen als auffällig erweist. Subjektiv geleitete Fehldiagnosen und ungerechte Zuschreibungen liegen damit quasi auf der Hand.

In der gleichen Befragung berichteten über 60% der Erzieher/innen, dass dieser gesamte Themenkomplex in ihrer Ausbildung kaum Berücksichtigung gefunden hätte und sie ihr Wissen über Verhaltensauffälligkeiten als völlig unzureichend bezeichnen müssten. Auch würde die Fortbildung, die somit stark gefordert wäre, nur ganz wenige Angebote zu diesem Fragenkomplex machen.

Viele Erzieher/innen erkennen Probleme und machen auch eine Art Ursachenanalyse, fühlen sich aber dann allein gelassen und finden aus dem „Chaos“ nicht heraus. Sie verlangen nach Rezepten und „Reparatur“. Beides hat jedoch nur eine kurzfristige Scheinwirkung. Solange an Ursachen nicht gearbeitet wird und diese nicht wenigstens teilweise behoben werden, solange kann eine dauerhafte Wirkung, die eine Veränderung der Lebensumstände als Grundlage haben muss, nicht eintreten. „Erziehungshilfe hat die Aufgabe, zur Stabilisierung und Verbesserung der Lebenstüchtigkeit von Kindern mit emotionalen und sozialen Schwierigkeiten beizutragen. Sie ist im Wesentlichen auf den Alltag und auf seine Bewältigung bezogen, sei es in der Familie durch Beratung oder sozialpädagogische Familienhilfe... Therapeutische Elemente (Deutungsmuster) sind für die pädagogische Arbeit nützlich, wenn sie darauf gerichtet sind, das Kind als authentisches Subjekt zu begreifen, das sich in Interaktion mit anderen aktiv Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung erschließt“ (Speck 1991, S. 207).

Prävention und allgemeine Erziehungsmaßnahmen

Heute gilt es – basierend auf den Erkenntnissen der Pädagogik, Psychologie und Medizin (sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie) –, ein verstärktes Augenmerk auf die Prävention zu lenken. Bereits durch einen überlegten und sinnvoll gesteuerten Einsatz allgemeiner Erziehungsmaßnahmen und alltäglicher Erziehungssituationen können viele Auffälligkeiten und Probleme schon in ihren Anfängen erkannt oder gar verhindert werden. Leider wird jedoch dem Bereich der Prävention, und hier insbesondere der Primärprävention, nicht die ausreichende Beachtung beigemessen und außerdem werden ihm kaum oder zu wenig finanzielle Mittel zugedacht (z.B. für Fortbildung oder Supervision). Letzteres mag daran liegen, dass sich der Erfolg eben nicht in Mark und Pfennig darstellen lässt. Es wäre viel einfacher, könnte man die Kosten für präventive Maßnahmen festsetzen und dann den Nachweis erbringen, dass z.B. durch die rechtzeitige Beratung eine therapeutische Intervention, die XX Euro gekostet hätte, unnötig geworden sei und dadurch viel Geld gespart werden konnte. Glücklicherweise lässt sich diese Rechnung aber nicht aufmachen, denn sie würde viel zu schnell zu einem Ausspielen der verschiedenen erzieherischen Angebote gegeneinander oder zu einem Konkurrenzverhalten führen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) rückt präventive Ansätze in den Mittelpunkt seiner Zielsetzungen und der Hilfeplangestaltung. Es sensibilisiert die Verantwortlichen bei Fachverbänden und Kommunen hoffentlich immer mehr für Präventions- und Vernetzungsgedanken.

Doch nicht jede präventive Arbeit braucht gleich neue Strukturen, neue Stellen, mehr Finanzen. Oft gilt es, nur den Erziehungsalltag neu zu strukturieren, die Sichtweise vom Kind zu überprüfen und das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren – gepaart mit der Bereitschaft, sich selbst als Erzieher/in zu verändern und neue Wege zu gehen. Die Arbeit in vielen unserer Kindertagesstätten ist jedoch eintönig und festgefahren. Kinder, die sich nicht in den allgemeinen „Trott“ einordnen lassen, werden ausgegliedert (siehe Fallbeispiel). Der alte „Trott“ geht in der Einrichtung weiter. Bildung wird überbewertet; soziales Verhalten und die soziale Erziehung werden zwar als wichtig dargestellt, im Tagesablauf jedoch vernachlässigt. Dies führt oft zu dem Ergebnis, dass Kinder auffallen müssen, wollen sie gehört oder beachtet werden.

Maria Montessori hat deshalb bereits vor vielen Jahren die Forderung nach der „neuen Lehrerin“ aufgestellt. Die Grundhaltung, sich als Erwachsener zurückzunehmen und statt dessen das Kind zu beobachten, seine Fähigkeiten zu entdecken und selbst bereit zu sein, als pädagogische Fachfrau oder Fachmann vom Kind zu lernen, will sie in den Mittelpunkt rücken. Und Ellen Key zeigt uns in ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ aus dem Jahre 1902 auf, dass wir mit „wachsweichen Kinderseelen“ nicht umgehen dürfen, als wären sie aus „Ochsenleder“. Noch deutlicher formuliert sie: „Der Erzieher will das Kind mit einem Schlage fertig und vollkommen haben; er zwingt ihm eine Ordnung, eine Selbstbeherrschung, eine Pflichttreue, eine Ehrlichkeit auf, die die Erwachsenen sich dann mit staunenswerter Geschwindigkeit abgewöhnen! Wenn es sich um die Fehler des Kindes handelt, siebt man im Hause wie in der Schule Mücken, während man täglich die Kinder die Kamele der Erwachsenen schlucken lässt!“ (Key 1991, S. 80).

Obwohl Ellen Key in all ihren Schriften nie das Wort Prävention verwendet, gibt sie uns viele Tipps und Anregungen. Sie fordert uns mit ihren Worten auf, unser Erziehungsverhalten zu verändern und auf verstärkte Prävention Wert zu legen: „Die verantwortungsvolle Verpflichtung gegen die Kinder wird umso strenger werden, je mehr die Gesellschaft es lernt, als eine ihrer vornehmsten Aufgaben die Verhinderung alles unverschuldeten, sinnlosen Leidens zu betrachten“ (Key 1991, S. 35). Und wir können hier gleich mit Hansen und Pausewang (1986) fortfahren, denn sie sagen uns, wo unsere Aufgabe in der Prävention liegt: „Wenn wir das Kind dazu befähigen wollen, als Erwachsener den zunehmenden Problemen besser gewachsen zu sein als wir heute, gehören Beobachtungsfähigkeit, Aufgeschlossenheit und Kritikbewusstsein unbedingt zu den Grundqualifikationen, die es bereits in seiner Kindheit erwerben muss... Das heißt, dass wir das Kind darin schulen müssen, seine Lebenssituation bewusst zu erfassen, zu analysieren und zusammenhängend zu erkennen. Das setzt weiter voraus, dass das Kind eine kritische Einstellung entwickelt, eine Haltung, die Bisheriges in Frage stellen kann... Bei gefestigtem Selbstbewusstsein wird das Kind auch in der Lage sein, seine Wahrnehmungen mitzuteilen und zwar direkt demjenigen, der die Handlung ausgelöst hat... Die Kinder in diesem Sinne zu schulen, verlangt vom Erzieher, dass er die Förderung der Wahrnehmung in jeder alltäglichen Situation anstrebt... Mit unseren erzieherischen Maßnahmen schränken wir häufig die Initiative des Kindes ein, weil wir andere Handlungsvorstellungen haben, die auf traditionellen und für uns bewährten Handlungsstrategien beruhen. Wir gehen damit zu wenig auf die natürliche Motivation des Kindes ein“ (S. 103 ff.).

Kleine Dinge haben oft – gerade im Bereich der Prävention – eine große Wirkung. Hier einige Beispiele:

Während einer Hospitation von Grundschullehrern/innen in einer Kindergartengruppe sitzt ein vierjähriges Mädchen neben der Erzieherin. Diese hat den Arm um das Kind gelegt. Das Kind ist konzentriert bei der Sache. Bei der Auswertung der Stunde wird die Erzieherin von den Lehrern/innen gefragt, ob sie immer Kinder bevorzugen würde. Ein Kind hört dies und reagiert: „Die bevorzugt nicht. Aber wisst Ihr, Melanie ist geistig behindert und ganz zappelig. Wenn sie jemand berührt, dann macht sie das ruhig, und dann stört sie nicht und ist zufrieden, und die ganze Gruppe kann zuhören oder malen oder so.“ Durch eine Intervention wird also einem „auffälligen“ Verhalten vorgebeugt. Selbst die Kinder suchen immer wieder den Hautkontakt zu Melanie und bewirken so, dass ihr Verhalten positiv beeinflusst und nicht zum Problem für die Gruppe wird.

Auch Kinderkonferenzen wirken präventiv. In regelmäßigen Gesprächsrunden haben bereits Kindergartenkinder die Möglichkeit, über ihre Ängste, Probleme und Fragen zu sprechen. Sie müssen sich Aufmerksamkeit nicht durch Auffälligkeiten erkaufen. Auch können bereits im Vorfeld von Problemen Lösungen gefunden werden. Es ist erstaunlich, in welcher Offenheit und mit welcher „therapeutischen“ Wirkung solche Kinderkonferenzen zur Prävention beitragen können. Leider sind sie noch längst nicht zur Selbstverständlichkeit in Einrichtungen geworden. Erzieher/innen scheuen häufig davor zurück und haben Bedenken, dass dies für das Kindergartenalter eine nicht geeignete Methode wäre.

Natürlich spielen die Erzieherin und ihr Verhalten selbst eine wichtige Rolle. So weist ein Kind eine Erzieherin zurecht: „Also, Du sagst immer Zeug, das Du selber nicht machst. Wie soll man da wissen, was richtig ist? Bei wem soll man sich denn das abgucken? Du sagst doch immer, dass Erwachsene alles wissen. Ich glaube, dass das nicht stimmt! Die machen was, und wenn ich das Gleiche mache, dann schreien sie mich an!“ (Andrea, 5 1/2 Jahre). Prävention in der Kindertagesstätte bedeutet also auch Reflexion des eigenen Erzieherverhaltens. Viele Probleme, die in einer Kindertageseinrichtung entstehen, werden durch die Erzieherin ausgelöst. An dem Satz „schwierige Kinder gibt es nicht“ (Becker-Textor 1990) ist viel dran. Vielleicht überspitzt gesagt, zeigen schwierige Kinder, dass es ihnen nicht gut geht, dass sie nicht o.k. sind. Sie rufen im eigentlichen Sinn nach Hilfe.

Was heißt das für die Alltagsarbeit im Kindergarten? Wir müssen uns und die Kinder beobachten, wir müssen Ursachenforschung betreiben und dürfen nicht vorschnell die Schuld alleine bei den Kindern suchen. Wir müssen den Alltag so gestalten, dass er den Kindern gut tut, dass er ihren Bedürfnissen entspricht und auf ihre Empfindungen und Gefühle eingeht. Wir dürfen uns nicht leiten lassen von überzogenen Bildungszielen oder den Erwartungen der Eltern. Das Kind und sein Wohl müssen vielmehr im Mittelpunkt unseres pädagogischen Handelns stehen. Dann sind wir präventiv tätig.

Dabei gilt es, dem Kind Möglichkeiten zu zeigen, wie es ruhig werden und zu sich selbst finden kann. Rhythmik, Musik- und Bewegungserziehung, Übungen der Stille, Wassertragen, das Arbeiten mit Ton oder Knete können das Ruhigwerden unterstützen. Auch das ist Prävention. Leider gibt es noch nicht in allen Kindertageseinrichtungen genügend Angebote dieser Art bzw. sind sie aus dem Programm gestrichen worden (z.B. aus Angst vor Schmutz).

Prävention bezieht sich also nicht nur auf das kindliche Verhalten, sondern auch auf die Bereiche der körperlichen Entwicklung, der Bewegungsorgane, des gesamten Befindens des Kindes, der Lebensertüchtigung und Sozialkompetenz. Ausreichende Bewegung bei Sport und Spiel bzw. in der freien Natur darf in der Kindertageseinrichtung nicht zu kurz kommen. Gerade weil Kinder heute in einer Umwelt aufwachsen, die vom Merkmal Bewegungsarmut gekennzeichnet ist (kleine Wohnung, Spiel auf der Straße oder im Hof kaum möglich u.Ä.), muss diesem Bereich in der institutionellen Kinderbetreuung ausreichend Beachtung geschenkt werden. Kinder brauchen Erprobungsmöglichkeiten für ihre Kräfte und Fertigkeiten, ohne dass dabei gleich hohe Erwartungen an sie gestellt werden (wie im Sportverein).

Nicht vergessen dürfen wir bei Überlegungen zur Prävention die Wirkung des Raumes und der Raumgestaltung. So können Räume zur Aggressivität beitragen, können Farben unruhig machen (oder beruhigen). Gegliederte Räume helfen dem Kind, sich einzuordnen, Rückzugsbereiche gewähren ihm individuelle Lebensräume, gemeinsame Spielecken verhelfen zu Gruppengefühl. So muss der gestaltete Raum als „Miterzieher“ betrachtet werden und darf in seiner (heil-)pädagogischen Wirkung nicht unterschätzt werden. Professor Wolfgang Mahlke hat bei vielen Projekten die Raumgestaltung in ihrer pädagogischen Wirkung in das Zentrum seiner Überlegungen gestellt. Während einer Erzieherfortbildung hat er seine Ziele wie folgt formuliert (Mitschrift): „Mir war wichtig, das einzelne Kind zu schützen und nicht nur von der Gruppe auszugehen. Das Wort Gruppe war mir immer etwas unheimlich. Jede Gruppe geht irgendwann auseinander... Ich habe den Raum im Kindergarten so gegliedert, dass Möglichkeiten für einzelne Kinder, für kleine Gruppen, selbstverständlich aber auch für die ganze Gruppe gegeben sind. Wir haben festgestellt, dass, je schwieriger die Kinder werden, umso notwendiger es ist, zunächst vom einzelnen Kind auszugehen. Sie sehen ein Raumgliederungskonzept vielleicht als eine ästhetische Sache an. Das Bauen aber ist der Pädagogik nachgeordnet. Zunächst ist wichtig, dass man sich über das pädagogische Konzept Gedanken macht. Und wenn ich dann möchte, dass einem Kind mehr Geborgenheit zuteilwerden soll, muss ich mir Gedanken machen, wie ich das erreichen kann.“ Mahlke verweist auch ausdrücklich auf die Farbwirkung: „Wenn Menschen farbig sensibel sind oder werden, ist dies ein wunderbares Gut für sie. Sie sehen viel mehr, sie sehen interessanter, sie sehen differenzierter... Ich erlebe, wie im Kindergarten Farben als harmonisierend empfunden werden. Es sind in solchen Räumen Zerstörungen fast nicht aufgetreten.“

Elternarbeit und Prävention

Was haben Formen der Elternarbeit und insbesondere der Elternberatung mit Prävention zu tun? Noch bis vor wenigen Jahren waren die Elternabende – gleich ob im Kindergarten oder in der Schule – geprägt von Verhaltensregeln und „Besserwisserei“ der sogenannten Professionellen. Einbestellt wurden Eltern immer dann, wenn es Probleme mit dem Kind gab, eingeladen wurde zu Elternabenden mit „Rezepten“ für eine bessere Erziehung. Nur selten wandten sich Eltern vertrauensvoll mit ihren Fragen an die Leiterin oder Gruppenerzieherin. Bei einer solchen Form der Elternarbeit konnte es natürlich nicht zu präventiven Interventionen kommen.

Glücklicherweise gehört dieses Verständnis von Elternarbeit mittlerweile in vielen Kindergärten der Vergangenheit an. Die Nachfrage nach Fortbildungen und Fachliteratur zur Elternarbeit ist groß. Erzieher/innen fragen nach Methoden der Elternarbeit – insbesondere bezüglich des Umgangs mit Erwachsenen – ebenso wie nach Beratungskonzepten oder Möglichkeiten der Kooperation mit psychosozialen Diensten. Gleichzeitig versuchen sie aber auch, sich vor diesem „neuen“, erweiterten Aufgabenfeld zu schützen:

  • „Wir haben in der Ausbildung nichts über Elternarbeit gehört, wie sollen wir das jetzt tun“?
  • „Wir haben zu wenig Zeit für Elternarbeit“.
  • „Eltern beraten, was sollen wir noch alles tun? Wir sind doch für die Kinder da!“
  • „Eltern können uns bei unserer Arbeit im Kindergarten nicht unterstützen, sie sind nicht ausgebildet“...

Diese Aussagen ließen sich beliebig ergänzen. Andere Erzieher/innen sind hingegen zu einer Veränderung im Umgang mit Eltern bereit. So wird die Kluft zwischen neuen Fachkräften, die eine zeitgemäße Elternarbeit praktizieren, und solchen, die auf Veränderung und Weiterentwicklung verzichten, immer größer.

Ganzheitlich ausgerichtete Elternarbeit – und sie enthält viele Beratungsanteile – ist Prävention. Mit dem Eintritt in den Kindergarten kommen viele Kinder zum ersten Mal in eine größere Kindergruppe. Eltern erleben ihr Kind im Vergleich mit anderen Kindern, treten oftmals erstmalig mit anderen Eltern in den Austausch über Erziehungsfragen. Wenn die Erzieherin Eltern am Alltagsgeschehen teilhaben lässt, dann gibt sie damit Müttern und Vätern Gelegenheit, ihr Kind in der Gruppe zu beobachten und zu erleben, Stärken und Schwächen wahrzunehmen, aber auch überhöhte Erwartungen an das Kind zu relativieren. Mütter und Väter lernen die Fachkräfte besser kennen, in unkompliziertem Miteinander und nicht bei einem notwendig gewordenen Problemgespräch. Viele beraterische Elemente treten auf, wenn die Erzieherin sie auf die Vielfalt der Spielmöglichkeiten aufmerksam macht. Zugleich erleben sie in der Beobachtung ihres eigenen Kindes, wie es sich z.B. eine halbe Stunde und länger mit einem Klumpen Ton beschäftigt, während es daheim das Steckspiel bereits nach fünf Minuten in die Ecke wirft. Bei beiden Aktivitäten kommt es zwar zu einer Übung der Feinmotorik, aber es gehen eben unterschiedliche Anreize davon für ein und dasselbe Kind aus. Bei einem Gespräch sagte eine Mutter: „Ich komme gerne hierher, und für mich bringt es auch sehr viel... Da merkt man, wie unterschiedlich sich die Kinder verhalten können... Ich merke, mein Kind muss gar nicht unbedingt jammern, und ich muss auch nicht unbedingt sofort reagieren“.

Wenn Elternarbeit präventiv wirken soll, so müssen die Aktivitäten mit Eltern und Kindern gründlich reflektiert werden. Zwischen Eltern und Erziehern/innen kann sich in einer guten Atmosphäre Vertrauen bilden, und notwendige Gespräche werden früher und intensiver geführt. Die präventive Wirkung einer solchen Arbeit erreicht also gleichzeitig drei Personengruppen: Erzieher/innen, Eltern und Kinder. Bei einem guten vertrauensvollen Verhältnis zwischen Eltern und Erzieher/innen lassen sich dann auch Problemsituationen leichter bewältigen. Elternberatung ist gleichzeitig Erzieherberatung bzw. ein Erfahrungsaustausch zwischen Personen, die mit der Erziehung eines Kindes betraut sind. Gemeinsam kann dann der beste Weg gesucht und sicher auch gefunden werden. So sagte eine Erzieherin: „Für mich ist es unheimlich interessant zu sehen, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Davon lerne ich selber sehr viel. Das finde ich total gut.“

Es erübrigt sich, in diesem Beitrag auf alle möglichen Formen der Elternarbeit und Elternberatung näher einzugehen. Zur Vertiefung gibt es eine Anzahl aktueller Fachveröffentlichungen (z.B. Becker-Textor 1992; Textor 1994).

Situationen im Kindergartenalltag mit präventiver Wirkung

Am Beispiel eines Kindergartenalltags von 7.00 bis 17.00 Uhr lassen sich viele Situationen aufzeigen, in denen präventive Ziele verwirklicht werden bzw. die präventive Wirkung haben, ohne dass wir dies bewusst anstreben. Wenn ein Kind in den Kindergarten gebracht und von der Erzieherin freundlich angenommen wird, so kann es gleich am Morgen mit seinen Fragen, Ängsten und Bedürfnissen Verständnis und Zuwendung erhalten. Die Zeit, die die Erzieherin in diese Begrüßung investiert, lohnt sich, weil das Kind den Tag in der Einrichtung dann ganz anders beginnt. So kommt ein Kind vielleicht sehr ärgerlich, wütend und aggressiv in den Kindergarten, wirft seine Brottasche in die Ecke und schreit laut. Hier ist die Erzieherin gefordert, auf das Kind zuzugehen und Ursachenforschung für sein Verhalten zu betreiben. Fühlt sich das Kind angenommen und verstanden, wird es seine Probleme schildern, sich beruhigen und den Tag im Kindergarten zufrieden beginnen.

In der Kindergruppe sind sicherlich nicht alle Kinder gleichmäßig beliebt, haben Freunde, können sich gut artikulieren oder finden auf Anhieb einen Spielpartner. Eine beobachtende Erzieherin wird sehr schnell merken, wenn ein Kind unentschlossen an der Tür steht und keinen Kontakt aufnimmt. Sie kann das Kind in die Gruppe einführen, selbst mitspielen, andere Kinder zum Spiel hinzuholen und sich dann auch wieder von der kleinen Gruppe verabschieden. Sie baut dadurch dem Kind viele Brücken, die es erst gar nicht dazu kommen lassen, dass es sich Zuwendung durch Verhaltensauffälligkeit erkämpfen muss. Die Erzieherin muss es jedoch auch „aushalten“ können, dass ein Kind sehr ruhig und zurückgezogen die Kindergruppe beobachtet und sozusagen erst „aufwachen“ muss. Hier gilt es abzuwägen, wann es notwendig ist, einzugreifen oder sich zurückzunehmen (Es sei hier wieder an das Bild der neuen Erzieherin bzw. Lehrerin bei Maria Montessori erinnert).

Verfolgen wir den Tagesablauf weiter, so bieten sich Situationen wie das gemeinsame Frühstück oder auch das Frühstück in Kleingruppen für wichtige Gespräche an. Wenn Kinder zusammensitzen und sich unterhalten, gewinnt die Erzieherin so manche Information, die ihr Anregung und Hilfe gibt für den weiteren Umgang mit dem Kind bzw. auch für den Umgang mit den Eltern. Aber wenn die Erzieherin während der Bringzeit oder der Freispielzeit in ihrem Büro sitzt und sich mit Verwaltungsarbeiten, Bastelarbeiten für einen Basar o.Ä. beschäftigt, dann gehen ihr wichtige Zeiten des Tages verloren.

Unbeachtet bleiben darf auch nicht, dass das Verhalten der Erzieherin auf die Kinder in der Kindergruppe „abfärbt“ bzw. diese beeinflusst. So kann man beispielsweise beobachten, dass ein älteres Mädchen auf ein neu aufgenommenes Kind zugeht und sagt: „Du siehst ganz traurig aus. Komm, setz' Dich zu mir, wir reden miteinander. Oder willst Du lieber spielen?“ Dieses Kind hat seine Erzieherin gut beobachtet und sich eingeprägt, wie Kontakt aufgenommen wird und wie emotionale Beziehungen vertieft werden bzw. entstehen können.

In den Kindergärten wird nach wie vor die Zeit der gezielten Beschäftigung oder eines bestimmten Angebotes überbewertet. Noch immer dominiert dieser Zeitraum im Tagesablauf und steht weit hinter Projektarbeit oder situativem Arbeiten zurück. Für alle Kinder gleichzeitig durchgeführte Beschäftigungen haben oft genau das Gegenteil an Wirkung, was wir uns für die Prävention erhoffen. Kinder müssen sich hier einer bestimmten Aufgabe unterordnen, ob sie wollen oder nicht. Oft fördern wir ihr auffälliges Verhalten dadurch, dass wir sie zwingen mitzumachen, obwohl sie weder innerlich noch äußerlich bereit sind bzw. nicht über das notwendige Interesse und Durchhaltevermögen, über benötigte kognitive Fähigkeiten usw. verfügen. Viel wichtiger wäre es, durch mehrere verschiedene oder nicht zwingend vorgeschriebene Angebote Kinder zu motivieren, sich selbst für oder gegen eine Teilnahme zu entscheiden, sich für ein Thema zu engagieren und mitzuarbeiten. Dann ist ihr Interesse gegeben, die Konzentration wird wachsen und Ziele werden für das Kind sichtbar erreicht werden.

Die Abholzeit ist ebenso wichtig wie die Bringzeit. Gerade beim Abholen fragen Mütter oft ihre Kinder: „Was hast Du heute gemacht?“ Kinder sind meistens bereit, kurz zu antworten. Die Mütter „bohren“ aber weiter, und die Erzieher/innen reagieren wenig auf diese Fragen. Gerade beim Abholen kommt dem Tür- und Angel-Gespräch eine große Bedeutung zu. Die Erzieherin kann der Mutter in knappen Sätzen berichten, was heute am Vormittag geschehen ist. Dabei kommt es viel mehr auf die Kleinigkeiten an als auf das erreichte Ziel wie ein gelerntes Lied oder eine Bastelarbeit. So kann die Mutter Verständnis für die Arbeit des Kindergartens gewinnen und wird vielleicht Abstand davon nehmen, ihr Kind auszufragen.

Viele Kinder bleiben über Mittag im Kindergarten. In vielen Einrichtungen vollzieht sich dann ein regelrechtes „Kantinen- oder Schnellimbissessen“. Dies hat keineswegs präventiven Charakter. Wichtig wäre hier eine ausgewogene und gut strukturierte Mittagspause, bei der die Kinder gemeinsam mit der Erzieherin essen und Tischkultur erleben, also auch Gespräche führen können. Die Mahlzeiten sollten den Bedürfnissen der Kinder entsprechen. Diese sollten auch in die Vorbereitung bzw. Zubereitung der Speisen eingebunden werden, die den Bedürfnissen der Kinder entsprechen müssen (Gesundheitsprävention). Dann lernen sie zugleich, warum eine gesunde Ernährung wichtig ist. Man lernt viel leichter in Alltagssituationen als theoretisch bei Aktionswochen zur gesunden Ernährung.

Gerade für Ganztagskinder sind Ruhepausen sehr wichtig. Sie lassen sich aber nicht verordnen, denn nicht jedes Kind hat nach dem Mittagessen ein Schlafbedürfnis. Hier brauchen die Kinder Freiräume für eigene Entscheidungen und gleichzeitig auch Rückzugsmöglichkeiten oder Spielangebote, die sie in Ruhe für sich alleine oder in der Kleingruppe wahrnehmen können. Es hängt sehr von der Alltagsgestaltung im Kindergarten ab, wie gewinnbringend solche Mittagsruhepausen sind. Viele Kinder, die nach dem Mittagessen weitergespielt haben, sind dennoch gegen 14.00 Uhr, wenn die Kinder von daheim zurück in den Kindergarten kommen, entspannt, ausgeruht und bereit für neue Aktivitäten.

Insbesondere in Ganztagskindergärten gilt es, ein ausgewogenes Angebot an Spielmöglichkeiten und Bewegungsalternativen zu machen. So sind Nachmittage geeignet, mit Kindern die Natur zu erforschen, Ausflüge zu machen, sich im Freien zu bewegen. Das Spiel im Garten, im Sandkasten oder mit Wasser oder das Pflegen von Gartenbeeten sind genauso kognitiv förderlich für Kinder wie das Bauen im Raum oder das Betrachten von Bilderbüchern. Kinder werden hier anders gefordert, ihre Motorik wird geschult und ihre Aufnahmebereitschaft am Objekt intensiviert. Dass dies alles natürlich auch präventiven Charakter hat, ist wohl selbstverständlich. Deshalb gilt es zu überlegen, wie verstärkt ganzheitliche, situationsorientierte, lebensweltbezogene Angebote und Strukturen in unsere Kindergärten Eingang finden können. Wenn dies gelingt, werden wir zufriedene Kinder und zufriedene Erzieher/innen haben. Die Erzieherin wird dann wirklich zur „neuen Lehrerin“, der es gelingt, die Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und auf diese entsprechend einzugehen.

Wenn der Kindergartentag am Abend zu Ende geht, bietet sich wieder die Chance für effektive Elternarbeit. Die Erzieherin sollte freundlich auf die Mutter zugehen, auch wenn diese ungeduldig und abgehetzt von der Arbeit kommt. Vielleicht gelingt es ihr, durch einen kurzen positiven Bericht über Ereignisse des Tages eine Brücke zwischen Mutter und Kind zu schlagen, so dass Informationen „transportiert“ werden, ohne dass das Kind sofort berichten muss. Diese Form der Elternarbeit ist sicherlich in vielen Punkten effektiver als eine festanberaumte Elternsprechstunde. Der präventive Charakter solcher Formen liegt darin, dass die Mutter mit ihrem Kind zufrieden sein wird und dann in Ruhe in den Abend gehen kann. Dies wirkt sich positiv für das Kind und die Familie aus.

So hat jeder Kindergartentag viele Elemente, die wir mit dem Begriff Prävention überschreiben können. In dem Moment, in dem wir uns bewusst sind, dass Verhalten und Verhaltensweisen immer auch Reaktionen im Sinne von Wechselwirkungen sind, kommen wir dem Präventionsgedanken näher und werden unser eigenes Verhalten gründlicher reflektieren und im Auge behalten. Auffälligkeiten und Probleme werden im Alltag des Kindergartens ihre Brisanz verlieren, wenn wir uns der Wirkung präventiver Maßnahmen und präventiver Verhaltensweisen bewusst werden.

Literatur

Becker-Textor, I.: Schwierige Kinder gibt es nicht – oder doch? Freiburg: Herder 1990

Becker-Textor, I.: Der Dialog mit den Eltern. München: Don Bosco 1992

Hansen, H./Pausewang, F.: Umdenken lernen. Frankfurt/Main: Ullstein 1986

Hesse, H.: Lektüre für Minuten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971

Key, E.: Das Jahrhundert des Kindes. Weinheim: Beltz 1991

Speck, O.: Chaos und Autonomie in der Erziehung. München: Reinhardt 1991

Textor, M.R. (Hrsg.): Elternarbeit mit neuen Akzenten. Freiburg: Herder 1994

Anzeige: Frühpädagogik bei Herder