Aus: Soziale Arbeit 1988, 37, S. 129-134
Martin R. Textor
Der Mensch ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen. So müssen Forschende und Handelnde, die von einem der Wirklichkeit entsprechenden ganzheitlichen Menschbild ausgehen, somatische, psychische und geistige Strukturen bzw. Prozesse berücksichtigen. Dabei muss das Einzelwesen in seiner Einzigartigkeit, Individualität und Personalität gesehen werden. Jedoch ist ebenfalls zu beachten, dass der Mensch in verschiedenen Systemen lebt. So muss eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen auch Einflüsse von Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis, Arbeitswelt, Politik, Kultur usw. berücksichtigen. Dabei ist zu bedenken, dass das Individuum nicht ausschließlich durch Erbe und Umwelt geprägt wird, sondern sein Schicksal zum Teil selbst bestimmen und sich selbst verwirklichen kann. Sucht man nach den Ursachen menschlicher Phänomene, ist somit grundsätzlich von ihrer Multikausalität auszugehen. Diese "Axiome" bilden den Ausgangspunkt und die Grundlage für meine weiteren Ausführungen.
Bei der Erforschung und Behandlung von Verhaltensstörungen und psychischen Problemen von Kindern und Jugendlichen müssen dementsprechend sowohl somatische, psychische, geistige und interaktionale als auch soziokulturelle Faktoren in ihren komplizierten Zusammenspiel beachtet werden. Überblickt man eine beliebige Auswahl der Tausende von Publikationen, die zu dieser Thematik erschienen sind, so findet man auch eine Vielzahl erkannten Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen. Viele Ursachen liegen im Körper und in der Psyche der Kinder und Jugendlichen; andere wurden in Familie, Schule und Peergroup (also in den wichtigsten Lebenswelten diese Altersgruppen) sowie in größeren Systemen entdeckt.
Auffallend ist jedoch, dass sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen auf bestimmte Ursachenkomplexe bei der Untersuchung von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen konzentrieren, also die anderen nur unzureichend berücksichtigen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass z.B. Ärzte im Verlauf ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit gelernt haben, Ursachen von Störungen vor allem im biochemischen, genetischen, physiologischen und neurologischen Bereich zu suchen, während Psychologen sich mehr auf Ursachen im bewussten oder unbewussten Erleben und Verhalten von Menschen konzentrieren. Soziologen, aber auch Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, entdeckten hingegen die Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen in erster Linie in Familie, Schule, Peergroup und Gesellschaft.
Eine genauere Betrachtung ergibt jedoch, dass die Konzentration auf einzelne Ursachenkomplexe sogar noch ausgeprägter ist. So lassen sich folgende Erklärungsmodelle für psychische Probleme und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter unterscheiden:
(1) Beim Krankheitsmodell, das vor allem unter Psychiatern und anderen Ärzten verbreitet ist, werden in erster Linie biochemische, physiologische und neurologische Prozesse für die Entstehung psychischer Störungen (und Verhaltensabweichungen wie z.B. Hyperaktivität) verantwortlich gemacht - die Ursachen werden also im Körperlichen gesucht. Insbesondere werden Erbfehler, Verletzungen und Erkrankungen herausgestellt, die mit Hilfe von Medikamenten, durch Diätpläne oder durch Operationen behandelt werden. Weist wird von einer Diskontinuität zwischen psychischer Gesundheit und emotionalen Problemen ausgegangen, wobei Letztere in der Regel zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwann im Verlauf des Lebens erstmalig aufgetreten.
(2) Beim konstitutionellen Modell liegt der Schwerpunkt auf der Gesamtheit der für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsamen Erbfaktoren. Ursachen von psychischen und Verhaltensstörungen werden also in erster Linie im genetischen Bereich gesehen, wobei Körperbautypologien (z.B. von Conrad, Kretschmer oder Sheldon) mit ihrer Zuordnung von Konstitutionen und bestimmten Verhaltensmustern bzw. Temperamenteigenschaften als besonders aussagekräftig gelten. Meistens wird davon ausgegangen, dass die genetische Prädisposition irgendwann im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung zur Ausbildung von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen führe, wobei der Übergang vom gesunden zum pathologischen Zustand kontinuierlich sei.
(3) Laut dem Stressmodell, das z.B. von Meehl und Zubin vertreten wird, kommt es zum Ausbruch psychischer Störungen und psychosomatischen Krankheiten aufgrund der Interaktion von genetischen Prädispositionen und allgemeinem bzw. spezifischem Stress. In diesem Zusammenhang spielen nicht normative Lebensereignisse wie Tod eines Elternteils, Geburt eines behinderten Geschwisterteils, Unfälle, Scheidung der Eltern usw. eine große Rolle, die man schon hinsichtlich ihrer Stärke als Stressoren klassifiziert hat (Holmes, Rahe, Ruch).
(4) Vertreter des psychodynamischen Modells, die sich zumeist der Psychoanalyse oder anderen Schulen die Tiefenpsychologie zurechnen, gehen davon aus, dass der Mensch durch unbewusste dynamische Kräfte gelenkt wird, die miteinander und mit den Anforderungen der sozialen Umwelt kollidieren. Dementsprechend sehen sie die Ursachen von emotionalen und Verhaltensstörungen in unbewussten intrapsychischen Konflikten, die vielfach mit verdrängten frühkindlichen Erlebnissen in Verbindung stehen.
(5) Vertreter des Entwicklungsmodells konzeptualisieren die menschliche Entwicklung als eine Abfolge von Phasen zunehmender Komplexität, Differenzierung, Integration und Reife - wobei sich viele auf die Theorien von Erickson und Piagets berufen. Nach dieser Lehreinung kommt es zu psychischen bzw. Verhaltensstörungen, wenn ein Kind oder Jugendlicher auf ein Entwicklungsstufe stehen bleibt, also nicht wie die Gleichaltrigen in die nächst höhere Phase "aufsteigt". Natürlich entstehen auch Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten, wenn eine Person auf eine niedrigere Stufe der psychosexuellen, kognitiven und emotionalen Entwicklung regrediert - wobei die Störungen zumeist umso stärker ausgeprägt sind, je weiter die jeweilige Entwicklungsstufe zurückliegt.
(6) Repräsentanten des lerntheoretischen Modells, das auf den Theorien von Thorndike, Hull, Pawlow, Skinner, Tolman u.a. beruht, sind der Meinung, dass nahezu alle Verhaltensweisen erlernt werden. Dementsprechend entstehen auch Verhaltensauffälligkeiten auf Grund von Lernprozessen und können jederzeit entwickelt - aber auch jederzeit wieder "verlernt" - werden.
(7) Beim kognitiven Modell, das auf den Theorien von Kelly, Ellis, Beck, Seligman u.a. fußt, werden als Ursachen für psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten Störungen im Prozess der Wahrnehmung, des Denkens, Vorstellens, Erinnerns, Bewertens, der Planung eigener Reaktionen (Auswahl von Verhaltens- und Problemlösungsstrategien) und der Verarbeitung von Feedback genannt. Insbesondere wird die Verfälschung des Welt- und Menschenbildes durch irrationale Einstellungen, Vorurteile usw. betont.
(8) Vertreter des Humanistischen Modells (Rogers, Maslow, Allport u.a.) sind der Meinung, dass der Mensch ein rationales und sich selbst verwirklichendes Wesen ist. Psychische Probleme entstehen bei einer Diskrepanz zwischen Selbst und Erfahrung, Selbstwahrnehmung und Selbstbild. Andere Ursachen liegen in der Entfremdung von sich selbst, der mangelnden Selbstentfaltung, den schwachen Selbstwertgefühlen und der geringen Wertbezogenheit des persönlichen Lebens.
(9) Beim phänomenologisch-existenzialistischen Modell, das auf den Theorien von Jaspers, Frankl, Minkowski u.a. beruht, wird die Einzigartigkeit der Person (und ihrer Probleme), des Daseins, der subjektiven Erfahrung betont. Psychische Störungen entstehen aufgrund falscher Entscheidungen und Werte, aufgrund von anormalen Bewusstseinsinhalten, mangelndem Lebenssinn und fehlender "totaler" Kommunikation.
(10) Repräsentanten des "Labeling"-Modells (Goffman, Rüther, Tannenbaum u.a.) beschäftigen sich weniger mit den Ursachen psychischer Störungen als mit den Reaktionen und Sanktionen der Gesellschaft. Ihrer Meinung nach wird abweichendes Verhalten durch seine Etikettierung und durch die Reaktionen von Kontrollorganen wie psychosozialen Diensten, Polizei oder Justiz zum Problem.
(11) Das mikrosoziale Modell wird vor allem in der Familienberatung, aber auch z.B. von Klein, Berne und Laing, vertreten. Hier werden pathogene Strukturen und Prozesse in kleineren sozialen Systemen (wie Familie, Peergroup und Schule) für die Entstehung psychischer Probleme verantwortlich gemacht. So werden z.B. gestörte interpersonale Beziehungen und Interaktionsmuster, zwischenmenschliche Konflikte und fehlerhaft ausgeübte Rollen untersucht.
(12) Beim makrosozialen Modell, das sich auf die Theorien von Marx, Fromm, Durkheim, Burgess, Parsons u.a. zurückführen lässt, stehen hingegen noch größere soziale Einheiten wie Wirtschaftssystem, Schicht oder Kultur im Mittelpunkt der Betrachtung. So werden psychische Probleme z.B. auf den schnellen gesellschaftlichen Wandel in seiner Verbindung mit Wertekonflikt, Entfremdung und Anomie, auf Verstädterung, Ghettobildung, die kapitalistische Gesellschaftsordnung oder dem Zusammenstoß verschiedener Kulturen zurückgeführt.
Es ist offensichtlich, dass man diese Auflistung von Erklärungsmodellen noch verlängern und/oder weiter differenzieren kann. (vgl.: Weckowicz 1984). Allerdings genügt schon diese Unterscheidung der wohl bekanntesten Erklärungsmodelle, um aufzuzeigen, dass jede dieser "Theorien" nur einige wenige Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen herausstellt. Augenscheinlich wählen die Vertreter eines jeden dieser Erklärungsmodelle einen anderen Standpunkt, von dem aus sie sich dem Erkenntnisobjekt "psychische Probleme und Verhaltensstörungen" nähern. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Perspektiven beginnen, dass verschiedene Ursachen wahrgenommen werden, wobei ich die herausgegriffenen Ursachenkomplexe als Aspekte (d.h. erblickte Seiten des o.g. Erkenntnisobjektes) bezeichnen möchte. Die erkannten Ursachen werden dann in den Erklärungsmodellen beschrieben.
Erklärungsmodell und ganzheitliches Menschenbild
Es lassen sich nunmehr die Erklärungsmodelle folgendermaßen charakterisieren: Erstens genügt kein Modell den in der Einleitung zu diesem Artikel genannten "Axiomen". Das heißt, nie wird der Mensch als ein Körper-Seele-Geist-Wesen im Kontext größerer Systeme gesehen, werden biologische, psychologische, interaktionale und soziokulturelle Variablen gleichermaßen berücksichtigt. Vielmehr werden immer nur einzelne Ursachenkomplexe herausgegriffen, sodass einseitige, unvollständige, beschränkte und vereinfachende Erklärungsmodelle entstehen - wobei aus der Vielzahl dieser Modelle erst offensichtlich wird, wie einseitig, unvollständig, beschränkt und vereinfachend jedes Einzelne sein muss. Kein Erklärungsmodell tut einem ganzheitlichen Menschenbild Genüge, wird der Komplexität der Realität gerecht und berücksichtigt die Vielzahl der Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen. Aber auch die Individualität des einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen, d.h. die im Einzelfall einzigartige Kombination ätiologischer Faktoren, spielt nur eine Nebenrolle. Ebenso wird der Beitrag des Einzelnen zu seinen psychischen Problemen und Verhaltensstörungen kaum berücksichtigt - ein Beitrag, von dem laut dem Aktion der menschlichen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung auszugehen ist (selbstverständlich trifft diese Aussage auf kleinere Kinder nur teilweise zu).
Zweitens sind Erklärungsmodelle im Grunde keine wissenschaftlichen Theorien, da sie für ihren Bereich - je nach Modell in mehr oder minder starker Ausprägung - kein umfassendes, auf Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Hypothesen beruhendes Erklärungssystem bieten. Kein Modell kann für sich beanspruchen, eine systematische und in sich geschlossene Ordnung aller Erkenntnisse über die Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen zu sein, diese unter Berücksichtigung aller Aspekte zu erklären sowie die Wirklichkeit dieser Kinder und Jugendlichen vollständig widerzuspiegeln. Auch mangelt es allen Modellen an einer empirischen Grundlegung, da sie überhaupt nicht oder nur teilweise auf durch Beobachtung und Befragung oder in Experimenten gefundenen Daten (wie kausalen und funktionalen Beziehungen) beruhen. Zudem wurden nur wenige Hypotheken empirisch überprüft oder durch eingetroffene Vorhersagen belegt. Auch genügen die Modelle nur ansatzweise wissenschaftlichen Kriterien wie denen der formalen Logik oder interpersonalen Überprüfbarkeit.
Besonders deutlich wird die Problematik dieser Erklärungsmodelle, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Relevanz für das Handeln von Praktikern betrachtet. Studenten der Ingenieurwissenschaften lernen spätestens in den ersten Wochen nach Studienbeginn, dass es wenig sinnvoll ist, mit der Konstruktion einer Maschine zu beginnen, bevor man nicht alle Gesetzmäßigkeiten bezüglich der gewünschten Funktionsabläufe, alle Charakteristika der in Frage kommenden Materialien und alle Beziehungen zwischen den Einzelteilen erfasst hat. Hingegen fehlt den meisten Sozialwissenschaftlern die Einsicht (bzw. sie bleibt ein reines Lippenbekenntnis), dass ihre Theorien in, die ja von Lehrern, Pädagogen, Sozialarbeitern und Psychologen verwendet werden sollen, der Ganzheitlichkeit des Menschen, seiner Individualität und Einzigartigkeit, seinem vielgestaltigen sozialen Kontext und der Multikausalität menschlichen Erlebens und Verhaltens gerecht werden müssen. Anstatt wie Ingenieurwissenschaftler danach zu streben, möglichst alle relevanten Faktoren zu berücksichtigen, scheinen Sozialwissenschaftler dazu zu tendieren, immer neue einseitige Erklärungsmodelle zu entwickeln und neben die bereits bestehenden zu stellen. Anstatt durch die Verknüpfung bekannter Modelle umfassendere Erklärungssysteme zu gewinnen - wie es in anderen Wissenschaftsdisziplinen üblich ist -, werden vielmehr innerhalb eines Modells immer neue "Untermodelle" geschaffen (die 12 weiter oben aufgelisteten Erklärungsmodelle sind ja im Grunde Sammelbegriffe für eine Vielzahl einzelner Ansätze). So ist es nicht verwunderlich, dass die Sozialwissenschaften (insbesondere Pädagogik, Klinische Psychologie und Sozialarbeit) von der Öffentlichkeit immer kritischer gesehen werden - und wenn es den Ingenieuren gelingt, bei immer komplizierter werdenden Maschinen aller Ursachen von Reaktionen, alle Funktionsabläufe und alle Beziehungen zwischen Einzelteilen in einem Ordnungssystem zu erfassen, wieso sollten dann nicht die Sozialwissenschaftler eine vollständige, alle erkannten Ursachen umfassenden Theorie zur Erklärung psychischer Probleme und Verhaltensstörungen vorlegen können?
Wenden wir uns den Ansätzen zur Behandlung von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen zu, fällt sofort die Vielzahl konkurrierender Handlungsmodelle auf - allein im psychotherapeutischen Bereich unterscheidet Herink (1980) schon mehr als 250 bekannte Therapieainsätze. Weiter sind psychiatrische und neurologische Behandlungstechniken, Körperverfahren, Maßnahmen der Sozialarbeit und pädagogische Methoden (Sonderschulen) zu nennen. Schon aus der Vielzahl dieser Handlungsmodelle lässt sich folgern, dass sie ähnlich wie die Erklärungsmodelle einseitig, vereinfachend und unvollständig sein dürften. Alle diese Ansätze konzentrieren sich auf die Behandlung einiger weniger Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen (also auf bestimmte Ursachenkomplexe). Offensichtlich ist, dass die Vertreter eines jeden dieser Handlungsmodelle aufgrund unterschiedlicher Standpunkte und Perspektiven auf verschiedene Ursachen der psychischen Probleme und Verhaltensstörungen einwirken, ihre Klienten also nicht entsprechend einem ganzheitlichen Menschenbild und nicht im Kontext aller größeren Systeme sehen. So werden sie auch der Individualität des Kindes bzw. Jugendlichen, der Einzigartigkeit eines jeden Falls und der Komplexität der Realität nicht gerecht. Zudem handelt es sich auch bei den Handlungsmodellen nicht um wissenschaftliche Theorien (s.o.; zur Begründung vgl. Textor 1983, 1985).
Zwischen Erklärungs- und Handlungsmodellen besteht generell ein großer Unterschied. So müsste m.E. ein ausgefeiltes und wissenschaftlich fundiertes Erklärungsmodell alle Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen umfassen und ihre Bedeutung ermitteln. Handlungsmodelle stehen jedoch unter einem anderen Anspruch: Sie sollen den Handelnden als Leitfaden durch eine sehr komplexe, vielschichtige, unübersichtliche und emotional geladene Situation dienen. Der Sozialarbeiter, Therapeut oder Arzt wird ja im Gespräch mit einem verhaltensauffälligen Kind, vor allem wenn Dritte (Eltern, Lehrer usw.) anwesend sind, mit verbaler und nonverbaler Kommunikation, individuellen Codes, intrapsychischen und interpersonalen Prozessen u.v.a.m. konfrontiert, muss gleichzeitig sich selbst und seine Wirkung auf die Klienten beobachten, sein Handeln planen und Therapietechniken einsetzen. Es offensichtlich, dass er nicht all die vielen Tausend Eindrücke, die fortwährend auf ihn einströmen, wahrnehmen, ordnen, reflektieren und auswerten kann. Um handlungsfähig zu bleiben, muss er sich auf einen Ausschnitt der Realität konzentrieren - auf eine Auswahl von Strukturen und Prozessen, die er in der Kürze der Zeit und mit seinen begrenzten Fähigkeiten erfassen und verarbeiten kann. Nur mit Hilfe eines Handlungsmodells, das seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit lernt, kann er Sinn und Ordnung in komplexe Situationen bringen und seine Handlungen auf die ausgewählten und reflektierten Variablen richten. So ist es für ihn wichtiger, dass sein Ansatz ein effektives und erfolgreiches Arbeiten ermöglicht, als dass er allumfassend, "wahr" oder wissenschaftlich fundiert ist.
Somit müssen Handlungsmodelle notwendigerweise begrenzt, einseitig und aspekthaft sein. Aufgrund der Komplexität der Realität muss sich der Handelnde entscheiden, ob er sich z.B. vorwiegend aus somatische Vorgänge, unbewusste Prozesse, Erlebnisweisen, beobachtbare Verhaltensmuster oder Familienstrukturen konzentrieren will. Die Auswahlkriterien werden nicht nur durch den jeweiligen Studiengang (Medizin, Sozialarbeit, Psychologie usw.), die gewählten Fortbildungsmaßnahmen sowie die Arbeitssituation bedingt, sondern auch durch die Lebensgeschichte, das Alter und Geschlecht, die Persönlichkeit, das Menschbild und die Einstellungen des Handelnden. Aus diesen Gründen, aber auch, weil letztendlich jeder Handlungsansatz eines Sozialarbeiters, Therapeuten, Beratungslehrers usw. aufgrund dessen Individualität einzigartig ist, habe ich an anderer Stelle (Textor 1983, 1985) Handlungsmodelle als "persönliche Theorien" definiert. Dennoch muss aber an die Wissenschaft die Forderung gestellt werden, alle Strategien, Technikern und Verhaltensstile, die von Sozialarbeitern, Therapeuten oder Ärzten erfolgreich zur Einwirkung auf die erfassten und erklärten Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen eingesetzt wurden, in ein umfassendes Ganzes, eine empirisch fundierte Theorie, zu integrieren.
Als nächstes möchte ich noch kurz auf das System psychosozialer, medizinischer und schulischer Dienste eingehen. Diese konzentrieren sich ebenfalls nur auf die Behandlung ausgewählter Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Das Bild wird noch verwirrender, wenn man bedenkt, dass einerseits in Einrichtungen gleichen Namens nach höchst unterschiedlichen Handlungsmodellen vorgegangen wird und dass es andererseits für nahezu jede Art von Institution verschiedene Träger mit unterschiedlichen Werten, Zielvorstellungen und Erwartungen gibt. Zudem unterliegen diese noch dem Einfluss von Versicherungs- und Finanzierungsträgern sowie von Aufsichtsbehörden. Es ist offensichtlich, dass es z.B. zu einer Konkurrenz - verbunden mit wechselseitigen Vorurteilen und einem Mangel an Kooperation - zwischen öffentlichen, freien und alternativen Diensten bzw. Trägern kommen kann. Zudem gibt es häufig auf verschiedenen Organisationsebenen unterschiedliche Auffassungen. Vielfach sind auch große Qualitätsunterschiede zwischen Einrichtungen gleichen Namens festzustellen.
Entscheidens ist aber, dass der Hilfesuchende einerseits einem schwerüberschaubaren System psychosozialer, schulischer und medizinischer Dienste sowie einem Wirrwarr der Kompetenzen gegenüber steht und es somit als sehr schwierig erlebt, eine diese Einrichtungen für eine Konsultation auszuwählen. Andererseits - und das ist noch wichtiger - ist so die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass er mit einem Sozialarbeiter, Beratungslehrer, Therapeuten oder Arzt zusammentreffen wird, dessen Erklärungsmodell die Aufmerksamkeit genau auf die in seinem Fall pathogen wirkenden Ursachen der psychischen Problematik bzw. Verhaltensauffälligkeit lenkt und dessen Handlungsmodell genau die zur Einwirkung auf diese speziellen Ursachen geeigneten Strategien und Techniken liefert - abgesehen davon, dass sich zwischen beiden Seiten auch eine positive (therapeutische) Beziehung ausbilden muss, das u.a. von Persönlichkeitscharakteristika abhängig ist. Es ist offensichtlich, dass bei der Vielzahl von Erklärungs- und Handlungsmodellen sowie von Einrichtungen die Chancen für ein derartig glückliches Zusammentreffen gering sind - und so verwundert es nicht, dass sich psychosoziale Dienste vielfach gegen eine Evaluation ihrer Arbeit wehren und erfasste Erfolgsquoten (z.B. in der Psychotherapieforschung) sehr niedrig sind. Nur am Rande möchte ich auf einige weitere mit der beschriebenen Situation zusammenhängende Probleme hinweisen wie z.B. auf die Phänomene, dass bei sehr unterschiedlichen Ursachen der zu behandelnden Störung schnell mehrere psychosoziale Dienste in eine Fall (unkoordiniert) verwickelt sind oder dass "schwierige" Fälle (d.h. solche, für die sich das von den jeweiligen Sozialarbeiter, Berater oder Therapeuten verwendete Erklärungs- bzw. Handlungsmodell nicht eignet) vielfach von einer Einrichtung an die Nächste überwiesen werden ("Jugendhilfekarrieren").
Ein Ausweg aus der beschriebenen Problematik liegt m.E. in der Anerkennung der weiter oben dargestellten Axiome. Daraus folgt die Notwendigkeit der Entwicklung einer "integrativen Theorie" der Ätiologie und Behandlung von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen. Diese Theorie muss alle relevanten Wissensbestände, Konzepte, Hypothesen und Techniken aus Erklärung- und Handlungsmodellen enthalten, die sich unter wissenschaftlichen und praktischen Gesichtspunkten bewährt haben. Dazu muss sie sich die verschiedenen Perspektiven der Vertreter einzelner Ansätze zu Eigen machen, da sie nur dann alle Aspekte unseres Erkenntnisobjektes gleichermaßen berücksichtigen kann. Durch die Verknüpfung komplementärer Theorieelemente und die Synthese gegensätzlichen Auffassungen von einer höheren Warte aus kann so ein "Ganzes" entstehen, das einen ganzheitlichen Menschenbild, der Vielschichtigkeit des sozialen Umfeldes, der Komplexität der Realität und der Multikausalität nahezu aller Phänomene entspricht. Diese integrative Theorie dürfte somit von einer neuen Qualität im Vergleich zu den bisherigen Erklärungs- und Handlungsmodellen sein, also zu einem Paradigmawechsel führen. An anderer Stelle (Textor 1985) habe ich versucht, eine derartige Theorie für den Bereich der Familientherapie zu entwickeln - bei der in diesem Artikel geforderten integrativen Theorie der Ätiologie und Behandlung von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen wäre jedoch eine Person überfordert, könnte nun ein interdisziplinär zusammengesetztes Team aus Vertretern der bekanntesten Erklärung- und Handlungsmodelle erfolgreich sein.
Literaturverzeichnis
Herink, R. (Hg.): The Psychotherapy Handbook: The A to Z Guide to More Than 250 Different Therapies in Use Today. New York: New American Library 1980
Textor, M.R.: Integrative Psychotherapie. In: Integrative Psychotherapie. Münchner Beiträge zur Integrationsforschung, Bd. 1. München: Schobert 1983, S. 29-41
Textor, M.R.: Integrative Familientherapie. Eine systematische Darstellung der Konzepte, Hypothesen und Techniken amerikanischer Therapeuten. Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo: Springer 1985
Weckowicz, T.: Models of Mental Illness. Systems and Theories of Abnormal Psychology. Springfield: Thomas 1984