Aus: KinderTageseinrichtungen aktuell, KiTa spezial 2006, Nr. 4, S. 46-50. Mit Genehmigung des Verlages Wolters Kluwer Deutschland
Petra Wagner
In Kindertageseinrichtungen kommen Kinder zusammen, die den Facettenreichtum und die Vielfalt von Lebenslagen und individuellen Unterschieden widerspiegeln, die es in dieser Gesellschaft gibt. Für pädagogische Fachkräfte gilt als Herausforderung, die vorhandenen Unterschiede zwischen Kindern wahrzunehmen und anzuerkennen, denn die jeweiligen Vorerfahrungen eines Kindes sind die Grundlage für seine weiteren Bildungsprozesse. Wie kann man nun auf die vorhandenen Unterschiede eingehen, ohne die Kinder und ihre Familien zu stigmatisieren?
Viel ist in diesem Zusammenhang gedacht und geschrieben worden über Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen, zwischen Kindern aus Familien mit und ohne Migrationshintergrund, zwischen ein- und mehrsprachigen Familien. Es gibt eine gewachsene Sensibilität für Diskriminierungserfahrungen entlang von Gender, Behinderung, Familienkultur, Sprachen, Hautfarben, Ethnien. So will z.B. wohl überlegt sein, welche Bezeichnungen man für die diskriminierten Gruppen verwendet, denn man hat verstanden, dass manchmal die Worte selbst es sind, die herabsetzen und ausgrenzen. Manche Wortungetüme wie z.B. "Kinder nicht-deutscher Herkunftssprache" zeigen etwas von der Schwierigkeit, angemessene und nicht-diskriminierende Bezeichnungen zu finden.
Eine bedeutende Erfahrung im Leben von Kindern ist weitaus seltener reflektiert: Es ist die Erfahrung mit dem sozialen Status der eigenen Familie. Kinder scheinen bereits im Kindergarten- und frühen Grundschulalter soziale Unterschiede wahrzunehmen und Botschaften darüber aufzunehmen und zu verarbeiten, wer zu den Benachteiligten oder zu den Privilegierten gehört, zu den Armen oder Wohlhabenden, zu den Gebildeten oder Ungebildeten - oder zu einer Gruppe zwischendrin. Hinweise geben uns die Kinder selbst. Die Forschungslage hierzu ist hingegen nicht ergiebig. Wie konstruieren Kinder ihre Identität und Vorstellungen über andere in Bezug auf Faktoren des sozialen Status? Woran machen sie selbst diese fest? Welchen Einfluss hat das auf ihr Selbstbild, im Laufe der Kindergarten- und Schuljahre? Im Folgenden werden einige Forschungsbefunde mit Beobachtungen und Einschätzungen aus unserer Praxis vorgestellt.
Wie Kinder soziale Unterschiede erleben
Wie erleben Kinder soziale Unterschiede? Hinweise geben Erzieher/innen in Fortbildungen, in denen sie sich an eigene Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung erinnern: Neben den Erfahrungen, als Mädchen oder wegen der religiösen Überzeugung ihrer Familie Nachteile erlitten zu haben, sind es häufig Erinnerungen an Herabsetzungen oder Hänseleien, die sie als Kind einer kinderreichen oder armen Familie oder als "Heimkind" erlebt haben. Schmerzhaft sind Einschränkungen in Erinnerung wie die, dass man wegen der Geschenke nicht zu Geburtstagen anderer Kinder gehen durfte. Oder dass man unangenehm auffiel wegen der Bekleidung, die abgetragen oder ärmlich war:
- "Alle Heimkinder bekamen den gleichen Anorak, in blau. Da wusste jeder von weitem, wer ein Heimkind war."
- "Meine Mutter hat meine Bekleidung selbst genäht, weil wir wenig Geld hatten. Einmal kam ich in die Klasse, und der Lehrer machte sich vor allen anderen Kindern lustig über mein Kleid. Er sagte, das sei ja wohl sehr modern, was ich da anhätte. Ich verstand, dass es spöttisch gemeint war, und könnte noch heute im Boden versinken, wenn ich mich an die Situation erinnere. Ich habe mich sehr geschämt."
- "Aus Wolldecken hat meine Mutter Mäntel für uns genäht, denn gekaufte waren zu teuer. Das hat natürlich jeder erkannt, dass es Wolldecken waren."
Die Erzieher/innen machen deutlich, dass ihnen diese Erfahrungen unterschiedlich viel ausgemacht haben. Damit bestätigen sich Befunde einer differenzierten Armutsforschung, wonach Kinder mit den Folgen einer Unterversorgung in ihrer Familie aufgrund niedrigen Einkommens der Eltern und mangelnder materieller Ressourcen unterschiedlich umgehen. Je nachdem, ob es stabilisierende Faktoren in ihrem Leben gibt wie ein positives Familienklima, gute Eltern-Kind-Beziehungen und ein funktionierendes soziales Netzwerk, wirkt der Mangel an Materiellem weniger belastend. Sie können die Unterversorgung insbesondere in den ersten Lebensjahren kompensieren, auch weil kleine Kinder sehr auf ihre Familie bezogen sind und die Verhältnisse in ihrer Familie zunächst als "Normalität" begreifen und Strategien entwickeln, mit diesen zurecht zu kommen.
Kleine Kinder erweitern ihre kognitive Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen und Zusammenhänge zwischen Unterscheidungsmerkmalen herzustellen, in dem Maße, wie ihr sozialer Radius sich erweitert und wie ihnen Erfahrungen mit sozialer Vielfalt ermöglicht werden. Der Eintritt in den Kindergarten bedeutet in der Regel eine solche Erweiterung: Hier gibt es Kinder und Erwachsene, die anders aussehen, sich anders verhalten, anders sprechen als die bisherigen Bezugspersonen. Kinder stellen Vergleiche an und setzen sich in Beziehung zu den beobachteten Unterschieden, die zunächst äußere Unterschiede sind: Die Erzieherin Maja hat Sommersprossen wie ich. Kevser und Hanna und ich haben lange Haare, die anderen Mädchen haben kurze. Cems Papa hat ein Auto. Mein Papa ist weg. Ich kann Schafe malen. Manuel nicht.
Manches von dem, was andere haben; wollen sie auch: langes Haar, eine Schwester, ein Fahrrad mit rosa Perlen an den Speichen, starke Muskeln, ein Hochbett. Die Wünsche und Vorlieben entwickeln sich situationsbezogen und sehr individuell, die Kombination ist eigensinnig und auch zufällig, je nachdem, was dem Kind begegnet ist oder womit es eine gute Erfahrung gemacht hat. Die Wahrnehmung, dass man im Vergleich auf bestimmte Merkmale schlecht abschneidet und dies etwas Negatives sei oder etwas, dessen man sich schämen müsse, scheint erst bei jungen Grundschulkindern vorhanden. Während Kinder im Kindergartenalter häufig noch unbefangen von ihrer häuslichen Welt sprechen, wählen sie nun genauer aus und geben bestimmte Informationen nicht mehr einfach preis: Bei Themen wie "Meine Familie" oder "Unsere Wohnung" nehmen junge Grundschulkinder schon vorweg, was sozial erwartet wird und was als "normal" gilt. Sie wägen deutlich ab, wenn sie meinen, dass ihre Familie oder ihre Wohnsituation abweicht oder negativ auffällt.
Dies ist einerseits ihrem entwickelten Moralbegriff und ihrer gewachsenen Fähigkeit zur Perspektivenübernahme geschuldet. Es hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass sie unmissverständliche Botschaften bekommen, welche äußeren Merkmale eher positiv und welche eher negativ gewertet werden. Es sind viele Quellen, aus denen Kinder ihr Wissen darüber beziehen, wie die Gesellschaft aufgebaut ist und wie sie funktioniert: Kinder verarbeiten Informationen von Medien, Bezugspersonen, Autoritäten, Spielen, Werbespots und Musik-Clips, aus Songtexten und Soaps, aus Büchern, Zeitschriften, Bildern. Auch Erziehungs- und Bildungseinrichtungen tragen dazu bei, sofern in ihnen die gängigen Bewertungen unreflektiert reproduziert werden. Diese Bewertungen gehen ein in das Bild, das Kinder von sich selbst und von anderen machen. Gehören sie zur abgewerteten Gruppe und erleben sie sich mit bestimmten Merkmalen und Erfahrungen als "abweichend" und "nicht normal", so haben sie mit Verunsicherung in ihrer Identitätsentwicklung zu kämpfen. Gefühle von Minderwertigkeit, Versagensangst oder Hoffnungslosigkeit behindern in hohem Maße die Möglichkeiten und die Bereitschaft von Kindern, sich offen und neugierig auf Lernprozesse einzulassen. Sie behindern ihre Bildungsprozesse.
Inklusive Konzepte gegen Bildungsbenachteiligung
Dass soziale Benachteiligung bereits im Kindergartenalter als Bildungsbenachteiligung wirken kann, muss alarmieren. Und fordert dazu auf, die Abläufe und Funktionsmechanismen, die Kultur der Kommunikation sowie die Ausstattung mit Personal und Medien in Kitas und Schulen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Und auch die pädagogischen Konzepte und Curricula: Sind sie einseitig in ihrer Normorientierung und grenzen manche Kinder aus? Erlauben sie allen Kindern, sich zu identifizieren und sich zugehörig zu fühlen? Werden Lernpotentiale aller Kinder unterstützt?
Um wirklich allen Kindern Bildungsprozesse zu ermöglichen, müssen die pädagogischen Konzepte so angelegt sein, dass sie die unterschiedlichen Voraussetzungen und Weltzugänge von Kindern systematisch berücksichtigen. Nur wenn Kinder vom Angebot des Kindergartens "angesprochen" sind, werden sie aktiv und kreativ, stellen sich Fragen und suchen Antworten, probieren aus und erproben sich selbst. Nur dann vertiefen sie sich, engagieren sich in Bildungsprozessen, indem sie sich ein immer differenzierteres Bild von der Welt machen und von sich selbst in dieser Welt. Ein Curriculum, das bewusst "inklusiv" angelegt ist, um "Exklusion" zu verhindern, ermöglicht allen Kindern, sich zu identifizieren und sich in dem zu erkennen, was der Kindergarten bietet. Daraus beziehen sie die Ermutigung, zu lernen und weiter zu lernen.
Ein Ergebnis der Längsschnittuntersuchung zu "exzellenten" Kindertageseinrichtungen in Großbritannien ist hierzu, dass die kognitive Entwicklung von Kindern deutlich korreliert mit dem Qualitätsmerkmal "Diversity": Wird in der Kindertageseinrichtung die Vielfalt in Bezug auf individuelle Lernstile, Gender und ethnische Herkunft bewusst berücksichtigt, so machen Kinder größere Lernfortschritte in Bezug auf Zahlenkonzepte, Vorstufen von Schriftsprachlichkeit, Herstellen logischer Verknüpfungen (Sylva et al. 2004, S. 26). Bemerkenswert an diesem Ergebnis ist, dass die Berücksichtigung von Vielfalt allen Kindern beim Lernen nützt.
Gefragt sind Konzepte früher Bildung, die das Respektieren der vorhandenen Vielfalt und die entschiedene Positionierung gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung in der Alltagspraxis zusammen bringen. Die Reflexion gesellschaftlicher Machtunterschiede und Dominanzverhältnisse sowie die Reflexion der institutionellen Kultur von Kindertageseinrichtungen gehören dazu. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung sind ein pädagogischer Ansatz, der in erster Linie die Fachkräfte dazu auffordert, sich der Einseitigkeiten bewusst zu werden, die ihre Einrichtung und ihre Praxis prägen. Es ist darüber hinaus ein Praxiskonzept, das konkrete Anregungen bietet, wie eine vorurteilsbewusste pädagogische Praxis aussehen kann. Für den Bereich der Kindertageseinrichtungen liegt ein solches Praxiskonzept inzwischen vor (Preissing/ Wagner 2003; Wagner/ Hahn/ Enßlin 2006). Es wurde im Rahmen des Projekts KINDERWELTEN entwickelt und wird derzeit in einem bundesweiten Projekt verbreitet (www.kinderwelten.net). Der Ansatz basiert auf dem "Anti-Bias-Approach" aus den USA (Derman-Sparks/ AB Task Force 1989). Im Folgenden soll dargestellt werden, was diesen Ansatz kennzeichnet. Inwiefern kann er dazu beitragen, dass für Kinder die Auswirkungen sozialer Benachteiligung nicht zwangsläufig zu einer frühen Bildungsbenachteiligung werden?
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Der Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung orientiert auf vier Ziele, die aufeinander aufbauen:
- Im ersten Ziel geht es darum, alle Kinder in ihrer Identität zu stärken, wozu die Anerkennung ihrer Vorerfahrungen und Familienkulturen gehört.
- Das zweite Ziel ist, allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt zu ermöglichen, indem sie sie aktiv und bewusst erleben.
- Das dritte Ziel ist, kritisches Denken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen.
- Im vierten Ziel geht es darum, Kinder darin zu unterstützen, sich gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung zu wehren.
Überall auf dem Weg der Reflexion und praktischer Schritte der Veränderung entlang dieser vier Ziele lauern Stolpersteine. Die Arbeit am ersten Ziel "Kinder in ihrer Identität stärken" wird zunächst eher als einfach eingeschätzt, handelt es sich hier doch um Ansprüche, die man aus der Kindergartenpädagogik kennt. Das Ziel der Stärkung von Identität im Anti-Bias Approach geht jedoch über das hinaus, was man gemeinhin mit der Stärkung persönlicher Ressourcen meint. Die Identifikationen des Kindes mit seinen sozialen Bezugsgruppen, allen voran mit seiner Familie als primäre Bezugsgruppe, werden als untrennbarer Teil seiner persönlichen Identität verstanden. Um ihre Anerkennung geht es, denn kleine Kinder konstruieren ihr Bild von sich und von anderen auch aus den Bewertungen von sozialen Bezugsgruppen, die sie in ihrem Umfeld wahrnehmen.
Pädagogische Fachkräfte müssen darüber Bescheid wissen. Und sie müssen wissen, wie sie in Erfahrung bringen können, welche Bezugsgruppen für das jeweilige Kind Bedeutung haben und was die Lebenswirklichkeit dieser Bezugsgruppen kennzeichnet. Sofern diese sich sehr von ihrer eigenen unterscheidet, müssen pädagogische Fachkräfte ihre "blinden Flecken" eingestehen: Wer nicht allein erziehend ist, braucht Informationen von allein erziehenden Eltern, um nicht seinen stereotypen Bildern aufzusitzen, die sich eventuell an der unreflektierten Vorstellung von "Idealfamilien" (Vater - Mutter -Kind) orientieren. Wer gut ausgebildet ist und (noch) eine Arbeitsstelle hat, kann sich u.U. schwer vorstellen, wie es ist, über beides nicht zu verfügen. Wer einmal kurz arbeitslos war, dem fehlt u.U. die Vorstellung, wie es ist, seit langer Zeit ohne Arbeit zu sein. Und wer das Auftreten von armen Eltern "anmaßend" und "überheblich" findet, kann darin bei genauerer Betrachtung auch eine Bewältigungsstrategie von Eltern sehen, sich gegenüber ihren Kindern trotz Verelendung und relativer Aussichtslosigkeit als handlungsfähig und initiativ darzustellen, wie dieses Beispiel zeigt:
"Kulturelle Irritation"
Alle im Team sind stocksauer: Herr Chaled, der ohne Arbeit ist, hatte einer Mutter gesagt, sie sei ja blöd, dass sie arbeite. Er habe 1.400 EUR Hartz IV und dazu käme noch das Kindergeld! Er wolle bald für drei Monate in den Libanon - um in Beirut ein Haus zu bauen!
In einer Fortbildung ist dieser Fall Gegenstand einer Reflexion in mehreren Schritten:
Schritt 1: Den eigenen Bezugsrahmen erkunden: Welche Gefühle löst der Fall bei mir aus? Was stört mich? Welche meiner Wertvorstellungen werden angegriffen oder in Frage gestellt?
Die TN nutzen die Gelegenheit, ihre Empörung und den Ärger zum Ausdruck zu bringen. Es entsteht eine lange Auflistung von Punkten, was sie stört. Dann die Wertvorstellungen: Die TN nennen Werte wie "Ehrlichkeit", "Gerechtigkeit", "Dankbarkeit", "Anstand", "Loyalität zum Staat", "Gesetzestreue", "Ohne Fleiß kein Preis" - und beginnen zu diskutieren. Manchmal nütze einem Ehrlichkeit nichts, mit der Gerechtigkeit in diesem Land sei es so eine Sache, manche sahnen ja ganz offiziell ab, ohne fleißig zu sein, das mit der Solidargemeinschaft funktioniere ja auch aus anderen Gründen nicht mehr...
Schritt 2: Den Bezugsrahmen des anderen erkunden und Hypothesen bilden: Was weiß ich über die Situation und die Wertvorstellungen des Vaters? Was vermute ich? Was vermute ich, wie er die Situation erlebt hat? Was will ich wissen, um besser zu verstehen?
Die TN tragen zusammen, was sie über die Familie wissen, und stellen fest, dass ihnen weder die Migrationsgeschichte der Familie noch ihre Zukunftspläne klar sind und sie nicht wissen, welche Bedeutung einem Haus in Beirut zukommt. Da sie selbst in Bezug auf die Kinder der Familie sehr wohl Zukunftsvorstellungen verfolgen (sie sollen Deutsch lernen, Kontakt zu Deutschen haben, damit sie es später in der Schule leichter haben...), fällt ihnen jetzt auf, dass diese mit der Familie nicht besprochen sind. Dass die Familie Verwandte im Libanon unterstützt, relativiert den Zorn über die "Verantwortungslosigkeit" des Vaters: Möglicherweise ist für ihn die Familie die Solidargemeinschaft, für die er mit verantwortlich ist? Der Vater sei in Geldangelegenheiten ein "Angeber", will er eventuell den Schein und seinen Stolz wahren, nicht als Verlierer oder Versager erscheinen, gerade vor den Kindern?
Schritt 3: Ein Aushandlungsgespräch führen - auf gleicher Augenhöhe eine Lösung entwickeln: Was will ich mit dem Gespräch erreichen? Welche Fragen möchte ich stellen? Was möchte ich von mir sagen?
Die TN entwickeln in Rollenspielen Möglichkeiten, die Irritation anzusprechen. Dabei bemerken sie, wie sie um den "heißen Brei" herumreden. Oder dass sie dazu tendieren, den Vater auszufragen. Oder zu moralisieren. Weil ihnen nicht so klar ist, was sie von ihm wollen: Wollen sie ihre persönliche Position zur Schwarzarbeit vermitteln? Wollen sie als Vertreterin der Institution Kita zeigen, dass sie Illegales wahrnehmen und Konsequenzen androhen? Welchen Auftrag hat hierbei die Kita überhaupt und was ist ihre Rolle als Kitaleiterinnen? Wollen sie dem Vater vermitteln, dass er das Klima zwischen den Familien in der Kita mit solchen Äußerungen belastet und lieber nicht so prahlen solle? Die TN stellen zum Schluss erstaunt fest, dass die Kinder in dieser ganzen Aufgeregtheit über den Vater nicht mehr vorgekommen sind. Das wäre aber ja der Ansatzpunkt für sie als Fachkräfte: Was bedeutet das alles für die Kinder? Für die Kinder gehören möglicherweise die "Tricks" des Vaters eher zu stabilisierenden Faktoren bei ihrem Aufwachsen, sofern er dadurch das Auskommen der Familie sichert und seinen Stolz bewahrt. Viel problematischer für sie dürfte sein, dass er in ihrem Beisein die Mutter schlägt.
Auch das zweite Ziel ist zunächst eingängig: "Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen". Dann aber stoßen die pädagogischen Fachkräfte bei ihren Reflexionen auf Unsicherheiten oder auch Blockaden im Umgang mit bestimmten Unterschieden, die mit ihren eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben. Und sie bemerken, dass Kinder ihnen diese Unsicherheiten anmerken.
Kinder entwickeln etwa ab drei Jahren ihre eigenen Theorien über Unterschiede, je nach ihren Erfahrungen und den kognitiven Strategien, mit denen sie die Welt ordnen. Für ihre Ordnung der Welt ist entscheidend, wie sich die Erwachsenen verhalten und was sie sagen oder worüber sie schweigen. Es gehört zu den Erfahrungen von Kindern, dass Erwachsene auf manche ihrer Fragen und Theorien mit Unbehagen reagieren, dass sie ausweichen, das Thema wechseln, es überhören oder auch ungehalten reagieren. Solche Reaktionen zeigen Kindern, dass mit dem Sachverhalt etwas "nicht in Ordnung" ist. Sie entwickeln ihrerseits Distanz und Unbehagen. Bezieht sich die ausweichende Reaktion der Erwachsenen auf einen Aspekt ihrer eigenen Identität, so müssen sie mit der Botschaft klar kommen, dass etwas an ihnen "nicht richtig" oder "nicht normal" ist.
Eine Erzieherin spricht an, dass sie mit dem Thema "Familie" nicht klarkomme und es lieber meide. Es gebe sehr viele Kinder von Alleinerziehenden in ihrer Gruppe. Sie könne deren Situation nicht einfach als eine von vielen Familienkonstellationen behandeln, denn sie sei selbst Alleinerziehende und so unglücklich darüber, dass sie sofort anfange zu weinen, wenn das Thema darauf komme.
Das dritte Ziel, kritisches Nachdenken über Vorurteile, Einseitigkeiten und Diskriminierung anzuregen, erscheint pädagogischen Fachkräften spontan schwierig. Sie können aber darauf bauen, dass Kinder ab etwa 4 Jahren in der Lage sind, Bilder und Verhaltensweisen als "unfair" oder "unwahr" zu erkennen, die Menschen stereotypisieren oder diskriminieren. Von Erwachsenen brauchen sie Unterstützung in Form von Beistand und sachlicher Information, wenn sie selbst diskriminiert werden. Sie müssen ausdrücken können, was es ihnen ausmacht, wenn sie gehänselt oder ausgeschlossen werden. Sie müssen dafür Worte finden. Nur dann können sie auch unfaires Verhalten gegenüber anderen als solches benennen und zurückweisen. Von Erzieher/innen und Lehrer/innen verlangt dies eine Gesprächsführung, die Kindern hilft, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken. Eine Gesprächsführung, die nach Gemeinsamkeiten fragt, nach etwas, wozu alle Kinder etwas zu sagen haben:
Ausgrenzende Fragestellungen meiden
Erster Kita-Tag nach den Ferien. Die Kinder sollen von ihrem Urlaub erzählen. Marvin und Handan halten sich zurück. Sie sagen nichts. Auch nicht, nachdem die Erzieherin sie wiederholt auffordert. Später erfährt die Erzieherin, dass Marvin bei seinem Opa auf dem Land war und Handan überhaupt nicht verreist ist. Was hätten sie also berichten können von ihrem "Urlaub"? Die Erzieherin versteht, dass sie mit ihrer Frage die beiden Kinder nicht angesprochen hat. Mit der Fragestellung waren die beiden ausgegrenzt, denn sie hatten dazu nichts zu sagen. Und für ihre Erfahrungen gab es keinen Platz. Alternative? Fragen, mit wem Kinder in den Ferien zusammen waren, was sie gefreut hat, worüber sie sich geärgert haben...
Um bei Vorurteilen und Diskriminierung eingreifen zu können, müssen Erwachsene von deren Schädlichkeit und Unrechtmäßigkeit überzeugt sein. Die kritische Auseinandersetzung mit Einseitigkeiten und Vorurteilen fordert also zu einer Klärung des eigenen moralischen "Navigationssystems" auf: Welche Werte sind mir aus welchen Gründen wichtig - und wodurch werden sie verletzt? Kritisches Denken lässt die Rechtfertigungen und Abwiegelungen erkennen, mit denen man die Folgen von Diskriminierung und Unrecht abschwächen möchte - um sich das Eingreifen zu ersparen. Kinder brauchen aber Erwachsene, deren Eintreten für Gerechtigkeit deutlich erkennbar ist. Sie müssen Kindern Schutz und Sicherheit zusichern.
Die Kommunikation in der Einrichtung und die Lernumgebung müssen immer wieder genau überprüft und untersucht werden: Ist das fair? Ist das gerecht? Entspricht das der Wahrheit oder ist es eine Verzerrung, um sich über Menschen lustig zu machen? Wie steht es um unsere Bücher? Finden hier alle Kinder Identifikationsangebote? Welche Erfahrungen und äußeren Merkmale tauchen auf, welche nicht? Welche Geschichten zu "arm sein" - "reich sein" gibt es? Inwiefern fordern sie kritisches Denken heraus, auch wenn es sich um die alten, ehrwürdigen Märchen handelt?
Warum sagt Aschenputtel nichts?
Meryem (4 J.) will wieder "Aschenputtel" vorgelesen bekommen. Sie findet ungerecht, dass Aschenputtel so viel arbeiten muss, während die Schwestern faul sind. Sie seien gemein, weil sie Aschenputtel auch noch herumkommandieren. Am meisten empört Meryem, dass Aschenputtel alte Kleider bekommt, während die Schwestern wunderschöne Kleider tragen. Meryem versteht nicht, warum Aschenputtel nichts sagt. Die Erzieherin: "Was könnte sie denn sagen?" Meryem steht auf, stützt die Hände vorwurfsvoll auf die Hüften und sagt mit lauter, klarer Stimme: "Hey, Schwestern, ich möchte auch schöne Kleider, nicht nur ihr!"
Das vierte Ziel fordert dazu auf, auch über die Wände des Gruppenraumes hinaus aktiv zu werden gegen Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierung. Kinder müssen die Erfahrung machen können, dass es sich lohnt, kritisch zu sein und konkrete Aktionen gegen Ungerechtigkeit zu unternehmen. Hier ist die Gefahr groß, dass Standpunkte und Ehrgeiz der Erwachsenen dominieren und man darüber das Ziel der Aktionen aus den Augen verliert: die Stärkung der Kinder ("empowerment"), indem sie sich als fähig und solidarisch mit anderen erleben, weil sie sich gemeinsam für eine gerechte Sache einsetzen.
Bisher fehlt es uns an Beispielen, wie Kinder angesichts sozialer Ungleichheit etwas als unfair identifizieren und dagegen aktiv werden. Da soziale Ungleichheit ein heikles Thema für die Erwachsenen ist, ist es bereits ein wichtiger Schritt in Richtung Aktivwerden, wenn sie damit beginnen, soziale Unterschiede überhaupt zum Thema zu machen: Auf eine respektvolle und nicht-stigmatisierende Weise, die gleichzeitig deutlich macht, dass Armut kein Naturgesetz ist und jeder Mensch das Recht auf ein gutes Leben hat.
Literatur
Derman-Sparks, Louise/ A.B.C. Task Force: Anti-Bias-Curriculum: Tools for empowering young children. Washington, D.C.: NAEYC 1989
Preissing, Christa/ Wagner, Petra (Hg.): Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Herder 2003
Sylva, Kathy/ Melhuish, Edward/ Sammons, Pam/ Siraj-Blatchford, Iram/ Taggart, Brenda: The Final Report: Effective Pre-School Education. EPPE - The Effective Provision of Pre-School Education Project. Technical Paper 12. London: Institute of Education University of London 2004
Wagner, Petra/ Hahn, Stefani/ Enßlin, Ute (Hg.): Macker, Zicke, Trampeltier ... Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Handbuch für die Fortbildung. Berlin: verlag das netz 2006