Aus:
WWD 2001, Ausgabe 75, S. 17-19
Marimar del Monte
Noch nie war die (Fach-)Öffentlichkeit zur Problematik der sexuellen Kindesmisshandlung so gut informiert wie derzeit: Eine unüberschaubare Anzahl an Veröffentlichungen liegt vor, in regelmäßigen Abständen greifen unterschiedlichste Medien das Thema auf und bringen immer wieder neue Aspekte in die Diskussion. Doch wissen wir dadurch wirklich besser, was zu tun ist? Sind wir für den direkten Umgang mit betroffenen Kindern qualifiziert? Ist es uns in den Kindertageseinrichtungen gelungen, brauchbare Handlungsstrategien zu entwickeln? Haben wir klare Vernetzungskonzepte?
Die Erfahrung lehrt allenthalben, dass Wissen allein noch keine Meister schafft. Besonders deutlich scheint sich dies in der Konfrontation mit sexueller Kindesmisshandlung zu bestätigen: Je mehr wir wissen, desto größer wird die Unsicherheit. Zu viel ist da, was falsch gemacht werden könnte, zu schwerwiegend sind die Folgen für alle Beteiligten. Verständlicherweise führt diese Erkenntnis häufig zu der Konsequenz, dass wir im Zweifelsfalle (und das sind zunächst alle Fälle) auf den Zeitfaktor setzen. Dieser ist immer auf unserer Seite, weil das betroffene Kind mit aller Gewissheit irgendwann die Einrichtung verlässt. Bestenfalls tauschen wir uns mit Kolleginnen aus und versuchen, so gut es geht, mit der Situation zurechtzukommen.
Beides zeugt nicht eben von durchdachten Handlungsstrategien, bringt jedoch umso deutlicher die Unsicherheiten und Defizite zum Vorschein, die meines Erachtens auf folgenden Ebenen liegen:
- in der Kommunikation mit dem Kind,
- in der Vernetzung mit den beteiligten Institutionen,
- in der Abgrenzung und dem Selbstschutz der Kolleginnen.
Die Kommunikation mit dem Kind
In der Regel entwickelt sich der Gedanke, dass ein Kind von sexuellem Missbrauch betroffen sein könnte eher langsam und setzt sich aus der Beobachtung unterschiedlichster Verhaltensauffälligkeiten, regressiver Entwicklungstendenzen, unangemessener sexueller Verhaltensweisen sowie Bemerkungen oder Fragen des Kindes zusammen, ohne jedoch einen wirklich konkret fassbaren Charakter zu erhalten. Wir alle wissen, dass sexueller Missbrauch nur deswegen geschehen kann, weil er mit dem Zwang zur Geheimhaltung einhergeht. Die Geheimhaltung wiederum wird gespeist aus dem Zusammenspiel von Angst, Loyalität und Bindung. Was das Kind also durch seine Verhaltensauffälligkeiten ausdrückt, ist die innere Zerrissenheit zwischen der immensen Überforderung und Bedrohung, die es erlebt, einerseits und dem verwirrenden Druck der auferlegten Verschwiegenheit andererseits. Nach meiner Erfahrung sind dies die wesentlichen Ansatzpunkte in der Kommunikation mit betroffenen Kindern. Es geht daher zunächst weniger um die eigentlichen sexuellen Handlungen, die es erleidet, als vielmehr um das Aufgreifen seiner Angst, Loyalität und Geheimhaltungspflicht.
Was bedeutet das für das konkrete Vorgehen?
- Zunächst muss die eigene innere Haltung überprüft werden (siehe unten);
- muss Raum und Zeit gegeben sein, um kurze Phasen mit dem Kind alleine zu arbeiten;
- sollte die Bandbreite kindgerechter Medien zur Aufdeckungsarbeit bekannt sein (siehe mittlere Spalte);
- muss das gesamte Team informiert und einbezogen sein.
Fragen zur Selbstüberprüfung
- Kann ich dem Kind und mir die notwendige Zeit zugestehen, oder setze ich mich unter Druck, schnell konkrete Aussagen zu erhalten?
- Kann ich seine Schilderungen ertragen, ohne mit Angst, Entsetzen oder Ekel zu reagieren?
- Können mich seine Aussagen in Verlegenheit bringen oder das Gefühl von Niedergeschlagenheit erzeugen?
- Bin ich innerlich darauf gefasst, dass das Kind aus Angst leugnen wird, sobald das Thema konkret fassbar und demzufolge bedrohlich wird?
- Weiß ich, wie ich mit der Verleugnung umgehen kann, ohne infolgedessen selbst zu leugnen?
- Kann ich seine Loyalität dem misshandelnden Menschen gegenüber ertragen, ohne sie negativ zu bewerten?
Idealerweise sollte die Klärung dieser wichtigen Fragen ebenso wie die sich daraus ergebenden Konsequenzen im Rahmen einer kollegialen Beratung stattfinden. Der Dialog eröffnet die Möglichkeit zur Selbstreflexion und erhöht den Schutz vor Fehleinschätzungen. Auch die abgeleiteten Konsequenzen werden in einen größeren Zusammenhang gestellt, der die gefällten Entscheidungen breiter trägt und gleichsam für die einzelne Kollegin entlastend wirkt.
Kindgerechte Medien in der Aufdeckungsarbeit mit Kindern
- Bilderbücher ("Das kleine Drachenmädchen" von M. Lundgren/U. Gustavssohn, Verlag Donna Vita, Ruhnmark 1992, "Das Familienalbum" von S. Deinert /T. Krieg, Lappan Verlag, Oldenburg 1993, "Lena hat Angst" von C. Baumann/M. del Monte, Verlag Donna Vita, Ruhnmark 1994)
- Malbücher ("Kein Küsschen auf Kommando" von M. Mebes, Verlag Donna Vita, Ruhnmark 1990)
- Arbeitsmappe "Ich sag Nein" (Verlag an der Ruhr, Mühlheim 1989)
- Anatomisch korrekte Puppen (zu beziehen über den Verlag Donna Vita, Ruhnmark)
- Rollenspiele mit Puppen, Handspielpuppen, Puppenhaus
- Freies Malen
- Freies Gestalten mit Ton, Knete und anderen Materialien
- Erzählte Geschichten und Märchen
- Satzergänzungsspiele
- Phantasiereisen
Die Entscheidung, mit welchem Material gearbeitet wird, ist von persönlichen Vorlieben abhängig und obliegt jeder Kollegin. Da jedoch für die nach einer Aufdeckung folgenden Schritte exakte und authentische Angaben unerlässlich sind, sollte unbedingt beachtet werden, dass:
- Interpretationen des Rollenspiels oder der Aussagen des Kinder nicht vorgenommen werden dürfen;
- keine Suggestivfragen gestellt werden;
- das Kind in keine vom Erwachsenen bestimmte Richtung gedrängt werden darf;
- inhaltliche Aussagen von Kinderbildern ausschließlich im Dialog mit dem Kind erfragt werden dürfen.
Die Vernetzung mit den beteiligten Institutionen
Auch wenn es gelingt, einen Fall von sexuellem Missbrauch in der eigenen Einrichtung aufzudecken, gelangen wir spätestens dann an die Grenze, wenn wir in solch einer Situation nicht in ein professionelles Netz unterschiedlicher Institutionen eingebunden sind. Zu diesen zählen:
- Jugendamt,
- Kinderärzte,
- Polizei,
- Vormundschaftsgericht,
- Beratungsstellen, die zu dem Thema arbeiten,
- Schulen und
- Kinderbetreuungseinrichtungen.
Unabhängig davon, welcher Institution wir angehören: Sexueller Missbrauch kann nicht alleine bewältigt werden, sondern erfordert, dass mehrere Berufsgruppen sehr kollegial, offen, unvoreingenommen, respektvoll und wertschätzend zusammenarbeiten. Das ist leichter gesagt als getan, zumal gerade Erzieherinnen häufig über fehlende Akzeptanz und Anerkennung klagen. Umso wichtiger ist es, in diesem Zusammenhang auf eine klar strukturierte und qualifizierte Arbeit mit dem Kind verweisen bzw. selbst zurückgreifen zu können. Daneben ist es unabdingbar zu berücksichtigen, dass andere Berufsgruppen zwangsläufig andere Zielsetzungen haben (müssen). So sind beispielsweise die Mitarbeiter(innen) des Jugendamtes angehalten, möglichst unverzüglich das Kind zu schützen, sprich die Situation zu beenden. Die Polizei wiederum benötigt als Arbeitsgrundlage klare Aussagen, die einer richterlichen Anhörung standhalten.
Eine besonders kritische Phase tritt nach meiner Erfahrung dann ein, wenn ein Kind sich zwar bereits geöffnet und Fakten genannt hat, diese jedoch noch nicht ausreichen, um die gemeinsame Intervention mit dem Sozialen Dienst und dem Vormundschaftsgericht durchzuführen. Das heißt, wir wissen, dass das Kind sexuell missbraucht wird, können es aber noch nicht schützen. Dies auszuhalten stellt eine außerordentlich große Belastung dar, die dazu führen kann, dass wir in Streitereien darüber verfallen, warum das Vorgehen oder die Interessen der jeweils anderen Berufsgruppe vermeintlich falsch sei, statt weiterhin darüber im Austausch zu bleiben, wer welche Aufgabe im Hilfesystem übernimmt und wann alle Anteile wo und mit wem zum Konfrontationsgespräch zusammengeführt werden.
Vier wesentliche Faktoren werden dabei übersehen:
- Die Aufdeckung sexueller Kindesmisshandlung stellt einen u.U. langwierigen Prozess dar, der einer Prozesssteuerung in Form regelmäßiger Helferkonferenzen bedarf.
- Jeder Bereich ist gleich wichtig und gehört dazu.
- Nur wenn ein kollegialer Austausch stattfindet, kann letztlich im Sinne des Kindes gehandelt werden.
- Nichts macht uns die eigene Abgrenzung leichter als diese Tatsache, dass die Aufgabenstellung so unterschiedlich aussieht.
Empfehlenswert ist es, schon im Vorfeld, also vor dem Eintreten eines konkreten Falles, ein solches Hilfssystem zu installieren, weil die Konfrontation mit betroffenen Kindern immer eine Krise auslöst. Krisen aber führen bisweilen zu unreflektiertem, übereiltem und wenig sinnvollem Handeln.
Abgrenzung und Selbstschutz
Die geschilderte Vernetzung können wir uns wie ein Puzzle vorstellen, dessen Teile in unterschiedlichen Variationen zusammengesetzt werden können: Die Form eines Puzzles erscheint mir deswegen passend, weil sie verdeutlicht, dass Bereiche ineinander greifen und sich dennoch voneinander abgrenzen. Dabei können wir die einzelnen Puzzleteile als Handlungsradius und die Ausbuchtungen als Schnittstellen der Kooperation definieren. Jede Berufsgruppe bewegt sich somit innerhalb klarer Grenzen, die zum einen das eigene Tätigkeitsfeld definieren und zugleich davor schützen, sich ungebührlich in die anderen Bereiche einzumischen. Im Zusammenwirken aller Teile ergibt sich schließlich das Gesamtbild.
Und wo liegt nun die Grenze zwischen der Verantwortungsübernahme für das betroffene Kind und dem notwendigen Selbstschutz der Kolleginnen? Beides steht in einem direkten Zusammenhang und sollte nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Zunächst gilt es anhand nachfolgend aufgeführter Fragen Klarheit über die
- persönlichen,
- kontextuellen und
- institutionellen Grenzen zu erhalten.
Fragen zu Grenzen und Selbstschutz
Persönlich:
- In welcher Rolle stehe ich zu dem Kind?
- Was hat mir das Kind signalisiert?
- Sehe ich mich in der Lage, seine Vertrauensperson zu sein?
- Könnte ich ggf. die Aufdeckungsarbeit mit Hilfe anderer durchführen?
- Will und kann ich dem Kind helfen?
Institutionell:
- Ist mein Team mit dem Thema vertraut?
- Wie stehen meine Vorgesetzten dazu?
- Würde ich ggf. deren Unterstützung erhalten?
- Was wollen wir erreichen? Haben wir die gleichen Ziele?
- Kann der Rahmen für die Einzelarbeit mit dem Kind gewährleistet werden?
- Verfügen wir über die passenden Medien?
Kontextuell:
- Wo ist die nächste Anlaufstelle, an die ich mich wenden könnte, um Beratung zu erhalten?
- Besteht ein Helfersystem (Vernetzung), in das wir eingebunden sind?
- Könnte die Einbindung ggf. nun erfolgen?
- Könnte das Kind ggf. "überwiesen" werden?
Realistisch betrachtet müssen wir stets damit rechnen, dass die Überprüfung einen Endpunkt anzeigt. Das ist zwar nicht leicht zu ertragen, doch die Hilfe, die wir betroffenen Kindern zukommen lassen können, definiert sich immer nach den gegebenen Rahmenbedingungen. Unter optimalen Voraussetzungen bedeutet Hilfe eine gelungene Aufdeckung, Intervention und somit die Beendigung der sexuellen Gewalt. Unter weniger guten Bedingungen mag sich unsere Hilfe darauf beschränken, dass wir betroffene Kinder weiter überweisen und ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten einen Schutzraum bieten. Es hilft ihnen nicht, wenn wir ihre Signale einfach ignorieren und es ist ebenso wenig nützlich, ohne die notwendigen Voraussetzungen eine halbherzige und zum Scheitern verurteilte Aufdeckung durchführen zu wollen. Professionelles Vorgehen bedeutet m.E. offenen Auges zu erkennen, was sich uns darstellt, und anhand eines auf unsere Einrichtung individuell zugeschnittenen Hilfeplanes die Situation zu bewältigen.
Abschließend sei noch auf einen weiteren Aspekt hingewiesen: Gerade im Zusammenhang mit der aktuellen Qualitätsdebatte zeugte auch ein solcher Hilfeplan von dem hohen professionellen Standard in Kinderbetreuungseinrichtungen.
Biographie
Marimar del Monte, Jg.1958, ist Diplom-Sozialpädagogin, Familientherapeutin (systemische Fachrichtung) und Absolventin des Zertifikatsstudiums "Management in sozialen Organisationen". Während ihrer langjährigen Tätigkeit in einer Jugend- und Familienberatungsstelle des Kinderschutzbundes entstand ihr Kinderbuch "Lena hat Angst - die Geschichte eines sexuellen Missbrauchs". Derzeit leitet sie eine Kindertagesstätte. Seit 10 Jahren ist sie als Referentin und in der Fortbildung tätig. Ihre Schwerpunkte sind im pädagogischen Bereich: Sexueller Kindesmissbrauch; Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern; kindliche Verhaltensauffälligkeiten und ihre Ursachen; Selbstbewusstsein entwickeln - Grenzen setzen. Im Leitungsbereich hat sie ihren Schwerpunkt auf Personalführung, Teamentwicklung und Krisenmanagement gelegt.