Martin R. Textor
Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes werden mehr als 300.000 Kinder in Deutschland sexuell missbraucht. Davon sind auch Kleinkinder – sogar Babys – betroffen. Ferner werden schätzungsweise zwischen 250.000 und 500.000 der 0- bis 6-jährigen Kinder vernachlässigt. Über die Zahl körperlich oder psychisch misshandelter Kinder liegen mir keine Zahlen vor. In den letzten Jahren gab es aber viele Medienberichte über die Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern mit Todesfolge. Das ist natürlich nur die „Spitze des Eisbergs“.
Jede Erzieherin kann deshalb fest damit rechnen, dass sie während ihrer Berufstätigkeit häufig mit vernachlässigten, misshandelten oder sexuell missbrauchen Kindern konfrontiert werden wird. Es ist somit wichtig zu wissen, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollte.
Juristische Grundlagen
Rechtlich betrachtet, ist der zentrale Begriff in diesem Kontext das sog. Kindeswohl. Dieses umfasst zwei Aspekte:
- die positive Förderung der Entwicklung des Kindes und dessen Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
- der Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl.
Bei Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und Gewalt gegen Kinder handelt es sich um eine Kindeswohlgefährdung. Dieser Begriff entstammt dem Kindschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Er findet sich dort in verschiedenen Regelungen, insbesondere in § 1666 Abs. 1 BGB. Danach kann „das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet“ werden.
Generell lassen sich folgende Formen der Kindeswohlgefährdung unterscheiden:
- Vernachlässigung, also die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns der Eltern oder von ihnen beauftragter Betreuungspersonen, was zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und/oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder mit einem entsprechend hohen Risiko verbunden ist. Zumeist werden körperliche Vernachlässigung (z.B. unzureichende Ernährung, dreckige Kleidung, mangelnde Sauberkeit), erzieherische Vernachlässigung (z.B. Mangel an stimulierenden Erfahrungen, fehlende erzieherische Einflussnahme, keine Beachtung eines erheblichen Förderbedarfs), emotionale Vernachlässigung (z.B. Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind, fehlende Reaktion auf emotionale Signale des Kindes) und unzureichende Beaufsichtigung (z.B. Kind bleibt längere Zeit alleine) unterschieden.
- psychische Misshandlung: Durch wiederholte Verhaltensmuster, wie z.B. feindselige Ablehnung, Demütigung, Beschämen oder Terrorisieren, wird dem Kind zu verstehen gegeben, dass es wertlos, ungewollt und ungeliebt ist.
- physische Misshandlung: Es wird körperlicher Zwang bzw. Gewalt eingesetzt, oft verbunden mit einer Verletzung des Kindes. Eine bei Babys und Unter-Dreijährigen häufig auftretende Form ist auch das sog. Schütteltrauma.
- sexueller Missbrauch: Es werden sexuelle Handlungen an oder vor einem Kind vorgenommen, wobei das Verhalten bzw. eine etwaige aktive Beteiligung des jeweiligen Kindes für den Straftatbestand unerheblich sind. Als sexueller Missbrauch gelten auch Handlungen ohne Körperkontakt wie z.B. exhibitionistische Handlungen vor Kindern oder die Anleitung zur Masturbation.
- weitere Formen der missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge: Dies sind z.B. das Verweigern einer objektiv gebotenen ärztliche Behandlung, das Anhalten zum Betteln, das Unterbinden bzw. die unzureichende Sicherstellung des Schulbesuchs, das Zulassen von Drogenkonsum oder ein übermäßig autoritärer bzw. überfürsorglicher Erziehungsstil, der zu einer Abschottung des Kindes nach außen oder zu einer völligen seelischen Abhängigkeit führt, verbunden mit Entwicklungsrückständen oder psychosomatischen Krankheiten.
- das unverschuldete Versagen der Eltern: Dies kann z.B. durch deren Inhaftierung oder dauerhafte Hospitalisierung bedingt sein oder aufgrund von Suchterkrankungen, psychischen Störungen (Psychosen, Persönlichkeitsdefizite usw.) oder ausgeprägten geistigen bzw. körperlichen Behinderungen der Fall sein.
- Gefährdung durch das Verhalten eines Dritten, die von den Personensorgeberechtigten nicht abgewehrt werden kann: Hier geht es z.B. um die Gefährdung durch einen Lebenspartner, ältere Geschwister, Zuhälter, Drogenhändler oder ungeeignete Pflegepersonen.
Laut Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes sind in erster Linie die Eltern im Rahmen ihrer elterlichen Sorge für die Förderung und Sicherung des Kindeswohls verantwortlich: „Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ In Satz 2 heißt es dann, dass die staatliche Gemeinschaft über die Betätigung des Elternrechts wacht. Hier hat das sog. staatliche Wächteramt seine verfassungsrechtliche Grundlage. Dieser juristische Fachbegriff beschreibt nicht etwa die Aufgabe einer Behörde, sondern einen verfassungsrechtlichen Auftrag, der einer Konkretisierung durch einfaches Recht bedarf. Dies geschieht – bezogen auf unser Thema – vor allem im BGB und im SGB VIII:
- Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt, wie bei Kindeswohlgefährdung in die elterliche Sorge eingegriffen werden kann. Die Bandbreite möglicher Entscheidungen reicht von bloßen Ge- und Verboten über die Ersetzung elterlichen Erklärungen bis hin zum (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge. Solche Entscheidungen können nur von den Familiengerichten gefällt werden.
- Das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) legt die Rechtsansprüche der Personensorgeberechtigten – in der Regel der Eltern – und ihrer Kinder auf personenbezogene soziale Dienstleistungen fest, die im Falle einer Kindeswohlgefährdung zu gewähren sind. Hierfür sind die Jugendämter zuständig, selbst wenn die Hilfen zu weiten Teilen in Kooperation mit freien Trägern erbracht werden.
Damit sind die beiden wichtigsten Akteure genannt, die bei einer Kindeswohlgefährdung aktiv werden: Familiengerichte und Jugendämter. So lange Jugendämter jedoch von einer Kooperation der Eltern bei der Gefahrenabwehr für das Kind ausgehen können, sind sie nicht auf die Unterstützung durch das Familiengericht angewiesen. Bedarf es aber sorgerechtlicher Maßnahmen, damit das Jugendamt dem Kind die fachlich geeignete und notwendige Hilfe leisten kann, so muss das Familiengericht die entsprechende Entscheidung fällen. Beide Seiten müssen hier im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft tätig werden und das sozialpädagogische Angebot des Jugendamtes mit der Autorität des Familiengerichts verknüpfen.
Die wichtigsten Regelungen zum Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung befinden sich in § 8 a SGB VIII, der erst durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) in das SGB VIII eingefügt wurde und zum 1. Oktober 2005 in Kraft trat. Der Paragraph lautet:
§ 8 a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.
(2) In Vereinbarungen mit den Trägern und Einrichtungen, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten und das Jugendamt informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.
(3) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungs- oder Personensorgeberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
(4) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Personensorgeberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein.
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Laut § 8 a Abs. 1 SGB VIII muss das Jugendamt aktiv werden, wenn ihm gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt werden. Damit sind Hinweise – z.B. von Nachbarn, Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen – auf Handlungen gegen Kinder und Jugendliche gemeint, die eine der vorgenannten Formen der Kindeswohlgefährdung vermuten lassen. Es kann sich aber auch um Informationen über Lebensumstände handeln, die das leibliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder Jugendlichen beeinträchtigen.
Die Fachkraft, die solche Hinweise erhält, kann nicht von sich aus tätig werden und entscheiden, ob sie – bzw. das Jugendamt – tätig werden muss. Vielmehr hat die Risikoabschätzung in der Regel in einer Helferkonferenz zu erfolgen, wobei durch verwaltungsinterne Festlegungen vorab bestimmt wurde, welche Fachkräfte (namentlich) oder welche Organisationseinheiten (funktional) dem Gremium angehören. Die Abschätzung des Gefährdungsrisikos kann in besonders brisanten Fällen auch kurzfristig mittels eines Kriseninterventionsteams oder in einem akuten Notfall zumindest durch eine kollegiale Beratung mit einer weiteren erfahrenen Fachkraft erfolgen.
Als erfahrene Fachkräfte werden solche Mitarbeiter/innen bezeichnet, die eine einschlägige Berufsausbildung (z.B. Dipl.-Sozialpäd., Dipl.-Psych., Arzt) haben, durch entsprechende Fortbildung für die Tätigkeit qualifiziert wurden, Praxiserfahrung im Umgang mit traumatisierten Kindern und deren Eltern haben, gut mit anderen Diensten (z.B. Beratungsstellen, Gesundheitshilfe, Familiengericht, Polizei) kooperieren können und persönlich geeignet sind (z.B. Belastbarkeit, professionelle Distanz, Urteilsfähigkeit).
Anhaltspunkte für die Kindeswohlgefährdung werden im Erleben und Handeln des Kindes bzw. Jugendlichen und in traumatisierenden Lebensereignissen gesucht sowie in der Familiensituation, dem elterlichen Erziehungsverhalten, der Wohnsituation und dem sozialen Umfeld. Bereits bei der ersten Risikoabschätzung wird beurteilt, ob ein unverzügliches Einschreiten notwendig ist, wobei auch das Alter, der Entwicklungsstand und der gesundheitliche Zustand des Kindes berücksichtigt wird. Es wird überprüft, ob im Hinblick auf die Dringlichkeit ein sofortiger Hausbesuch erforderlich ist, eine Inobhutnahme erfolgen muss, die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft oder Gesundheitshilfe eingeschaltet werden sollte oder das Familiengericht anzurufen ist (vgl. § 8 a Abs. 3, 4 SGB VIII).
In vielen Fällen werden zur weiteren Abklärung noch Recherchen im Umfeld des Kindes vorgenommen. Dabei werden die Eltern sowie das Kind bzw. der Jugendliche einbezogen, soweit hierdurch dessen wirksamer Schutz nicht in Frage gestellt wird. So kann ein Hausbesuch angemeldet werden – in manchen Fällen wird er aber auch unangemeldet durchgeführt, damit sich die Fachkräfte ein Bild über den Zustand des Kindes, seine Lebensbedingungen und Entwicklungsperspektiven machen können.
Werden nach der Risikoabschätzung Hilfen zur Erziehung zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung oder andere Maßnahmen wie z.B. Gesundheitshilfe für erforderlich gehalten, wirkt das Jugendamt im Rahmen des Hilfeplanverfahrens (§ 36 SGB VIII) bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme solcher Hilfen hin. Reichen diese Maßnahmen nicht aus oder sind die Eltern nicht in der Lage oder bereit, sie in Anspruch zu nehmen, wird das Familiengericht eingeschaltet (§ 8 a Abs. 3 SGB VIII).
Am erfolgversprechendsten ist, wenn die Erziehungsberechtigten kooperativ sind, den vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen und in der Lage sind, ein konkretes Schutzkonzept für das Kind mit festgelegten Vereinbarungen einzuhalten. Nur dann können tragfähige individuelle und familiale Veränderungen von den einzelnen Familienmitgliedern gewollt und eingeleitet werden, die dann von den anderen Familienmitgliedern akzeptiert werden. Die Fachkräfte können die notwendigen Veränderungen gemeinsam mit den Eltern festlegen, mit ihnen planen und dann Hilfen für die Umsetzung zur Verfügung stellen. Beispielsweise unterstützen sie die Personensorgeberechtigten in ihren individuellen und elterlichen Kompetenzen, leiten familienstabilisierende und/oder wirtschaftliche Hilfen ein und vermitteln einzel- oder gruppentherapeutische und heilpädagogische Maßnahmen für die betroffenen Kinder.
Psychologische Grundlagen
Wissenschaftliche Studien zur Kindeswohlgefährdung, z.B. die Auswertung familiengerichtlicher Verfahren oder von Jugendhilfefällen, haben gezeigt, dass Kleinkinder der Altersspanne von null bis drei Jahren sowie Kindergartenkinder bei den Fällen überrepräsentiert waren. Das Übergewicht sehr junger Kinder – bei Gefährdungsmeldungen bis hin zu familiengerichtlichen Maßnahmen – scheint sich sogar noch leicht zu verstärken. Kleinkinder sind vor allem von Vernachlässigung und Misshandlung betroffen, während sexueller Missbrauch besonders häufig bei Kindern im Grundschulalter und in der mittleren Kindheit vermutet bzw. ermittelt wurde. Mädchen wurden sehr viel häufiger als Jungen sexuell missbraucht; diese werden etwas häufiger misshandelt. Kinder mit größeren Entwicklungsbeeinträchtigungen oder Behinderungen sind einem vergleichsweise etwas größeren Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsrisiko ausgesetzt. Ähnliches gilt bei stärker ausgeprägten frühkindlichen Verhaltensauffälligkeiten.
Eltern, die ein Kind misshandeln, vernachlässigen oder missbrauchen, weisen oft eine oder mehrere psychiatrisch relevante Störungen auf. Auch einige Persönlichkeitsmerkmale gelten als schwach bis moderat vorhersagekräftige Risikofaktoren: z.B. eine ausgeprägt negative Emotionalität, eine hohe Impulsivität, eine deutliche Neigung zu einem vermeidenden Bewältigungsstil im Umgang mit Problemen oder eine geringe persönliche Reife. Ein hoher Anteil der Eltern haben selbst belastende Erfahrungen mit häufigen Bindungsabbrüchen, Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch in der eigenen Kindheit gemacht. Derartige belastende Kindheitserfahrungen können die Erziehungsfähigkeit von Eltern beeinträchtigen (z.B. wegen problematischer innerer Beziehungsmodelle, Schwierigkeiten im Umgang mit Ärger oder einer erhöhte Anfälligkeit für depressive Verstimmungen).
In vielen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden z.B. folgende Merkmale des Erziehungsverhaltens dieser Eltern ermittelt: altersunangemessene Erwartungen, ein eingeschränktes Einfühlungsvermögen, überdurchschnittlich ausgeprägte Gefühle der Belastung durch das Kind – oft verbunden mit dem Eindruck der eigenen Hilflosigkeit –, feindselige Erklärungsmuster für auffällige Verhaltensweisen, ein negatives Bild des Kindes und die Verwendung harscher Formen der Bestrafung. Misshandelnde Eltern zeigen mehr negative, kritische und kontrollierende Verhaltensweisen, während vernachlässigende Eltern eher ein distanziertes, wenig engagiertes und wenig responsives Verhalten aufweisen.
Kindeswohlgefährdung tritt etwas häufiger in Familien auf, in denen die betroffenen Kinder nicht mit beiden leiblichen Elternteilen zusammenleben. Eine besonders negative Wirkung scheint von wiederholter Partnerschaftsgewalt auszugehen; sie wurde besonders häufig in Familien beobachtet, in denen Kinder misshandelt werden. Manche Familien sind durch ein geringeres Ausmaß an Selbstorganisation, einen schwach ausgeprägten Zusammenhalt, viele ungelöste Konflikte, eine große Stressbelastung und einen weniger offenen Gefühlsausdruck gekennzeichnet. Als relativ schwache Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung wurden ferner Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut ermittelt.
Als Auslöser für Misshandlungen werden oft bestimmte Verhaltensweisen des jeweiligen Kindes genannt, z.B. bei Babys ein anhaltendes Weinen oder die Verweigerung der Nahrungsaufnahme und bei Kindern im Kindergartenalter Autoritätskonflikte und Regelübertretungen. Sexueller Missbrauch tritt erstmalig vor allem in Situationen auf, in denen normale Aktivitäten wie z.B. Rollenspiele, das Baden oder das Zu-Bett-Bringen für Übergriffe genutzt werden können. Bei Vernachlässigung und psychischer Kindesmisshandlung spielen hingegen Ereignisse wie z.B. Partnerschaftskonflikte eine größere Rolle. Zu einer Kindeswohlgefährdung kommt es häufiger, wenn die Eltern Alkohol konsumiert haben oder unter akutem Stress stehen.
Was sind nun die Folgen einer Kindeswohlgefährdung für die betroffenen Kinder? Bei Vernachlässigung steigt das Unfallrisiko, kann es zu gesundheitlichen Schädigungen kommen, treten gehäuft Verzögerungen im körperlichen Wachstum und Rückstände in der motorischen Entwicklung auf, verläuft oft die sozioemotionale Entwicklung problematischer und werden überdurchschnittlich oft internalisierenden Formen von Verhaltensauffälligkeiten entwickelt. Häufig werden schlechtere kognitive und Schulleistungen erbracht, was z.B. zur Klassenwiederholung oder zur Überweisung an Förderschulen führen kann. Im Jugendalter und im frühen Erwachsenenalter besteht ein hohes Risiko einer psychiatrisch relevanten Erkrankung bzw. spezifischer Störungen wie depressiver Erkrankungen, Suizidalität und Suchtkrankheiten. Nur ein sehr kleiner Teil der in ihrer Kindheit vernachlässigten Personen scheint sich normal zu entwickeln.
Auch Menschen, die als Kinder psychisch misshandelt wurden, weisen häufiger psychiatrische Erkrankungen wie depressive Störungen auf. Zudem sind sie in Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. des Jugendstrafvollzugs überrepräsentiert. Das Ausmaß der Beeinträchtigung der sozioemotionale Entwicklung scheint etwas größer zu sein als bei Menschen, die als Kinder „nur“ physisch misshandelt wurden. Misshandelte Kinder erbringen im Durchschnitt schlechtere kognitive und schulische Leistungen, sind aber in dieser Hinsicht nicht so stark benachteiligt wie vernachlässigte Kinder. Hingegen treten bei ihnen externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Aggressivität, Unruhe) häufiger auf; aber auch von Bindungsstörungen, depressiven Erkrankungen, Suizidversuchen und posttraumatischen Belastungsstörungen wird berichtet.
Auch sexuell missbrauchte Kinder zeigen als Gruppe deutlich mehr Belastungssymptome und Verhaltensauffälligkeiten. Dazu gehören internalisierende Formen wie Angst, Albträume oder Depressionen und externalisierende Formen wie Aggressivität, Hyperaktivität oder Delinquenz. Ferner werden häufig ein unangebrachtes Sexualverhalten, ein selbstverletzendes Verhalten, psychosomatische Beschwerden und posttraumatische Belastungsstörungen beobachtet. Manchmal leiden sexuell missbrauchte Kinder unter Unterleibsschmerzen, Verletzungen im Genitalbereich, Infektionen oder Geschlechtskrankheiten. Auch ihre kognitive, schulische und soziale Entwicklung wird häufig in Mitleidenschaft gezogen.
Zum Schutzauftrag von Erzieher/innen
Laut § 8a Abs. 2 SGB VIII soll das Jugendamt Vereinbarungen mit den Trägern und Einrichtungen abschließen, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe anbieten. Durch diese Vereinbarungen soll sichergestellt werden, dass deren Fachkräfte dem Schutzauftrag nach § 8a Abs. 2 SGB VIII auf dieselbe Weise entsprechen wie die Mitarbeiter/innen des Jugendamtes.
Solche Vereinbarungen sollten auch mit den Trägern von Kindertagesstätten abgeschlossen werden, da diese Leistungen nach den §§ 22 ff. SGB VIII anbieten. Die dort tätigen Erzieher/innen, Kinderpfleger/innen und sonstigen Beschäftigten verfügen aber nicht über die zuvor beschriebenen Qualifikationen einer „erfahrenen Fachkraft“, sodass sie nicht das Gefährdungsrisiko abschätzen, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken und beurteilen können, ob die angenommenen Hilfen ausreichend sind oder ob das Jugendamt eingeschaltet werden muss (§ 8a Abs. 2 SGB VIII).
Dennoch ist auch in Kindertageseinrichtungen darauf zu achten, dass gewichtige Anhaltspunkte eines konkreten Gefährdungsrisikos für Kinder oder Jugendliche erkannt und die notwendigen weiteren Schritte eingeleitet werden. So soll laut den „Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII“ des Bayerischen Landesjugendamtes (2006) in den Vereinbarungen mit den Trägern Folgendes festgelegt werden:
Vereinbarung mit Trägern von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung
§ 1 Allgemeiner Schutzauftrag
(1) Allgemeine Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist es, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, dass sie in ihrer Entwicklung durch den Missbrauch elterlicher Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden erleiden. Kinder und Jugendliche sind vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII).
(2) § 8a SGB VIII konkretisiert diesen allgemeinen staatlichen Schutzauftrag als Aufgabe der Jugendämter, verdeutlicht die Beteiligung der freien Träger an dieser Aufgabe und beschreibt Verantwortlichkeiten der beteiligten Fachkräfte der Jugendhilfe.
§ 2 Einbezogene Einrichtungen und Dienste des Trägers
In diese Vereinbarung sind alle Einrichtungen und Dienste des Trägers einbezogen, die Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch erbringen und hierbei Fachkräfte (§ 72 SGB VIII) beschäftigen.
§ 3 Handlungsschritte
(1) Nimmt eine Fachkraft gewichtige Anhaltspunkte wahr, teilt sie diese der zuständigen Leitung mit.
(2) Wenn die Vermutung eines gewichtigen Anhaltspunkts für ein Gefährdungsrisiko im Rahmen einer kollegialen Beratung nicht ausgeräumt werden kann, ist die Abschätzung des Gefährdungsrisikos unter Einbeziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft (§ 6) formell vorzunehmen.
(3) Werden Jugendhilfeleistungen zur Abwendung des Gefährdungsrisikos für erforderlich gehalten, die der Träger selbst erbringen kann, ist bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme solcher Leistungen hinzuwirken.
(4) Werden zur Abwendung des Gefährdungsrisikos
- Jugendhilfeleistungen für erforderlich gehalten, die der Träger selbst nicht erbringen kann, oder
- andere Maßnahmen für erforderlich gehalten (z B. Gesundheitshilfe, Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz), oder
- reichen diese Maßnahmen nicht aus, oder
- sind die Personensorgeberechtigten nicht in der Lage oder bereit, solche Maßnahmen in Anspruch zu nehmen,
unterrichtet der Träger unverzüglich das Jugendamt.
(5) Sofern eine Fachkraft des Jugendamts bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos nach Abs. 2 bereits beteiligt war, übernimmt das Jugendamt die Verantwortung für die weiteren Handlungsschritte.
(6) Der Träger stellt durch geeignete Maßnahmen die Einhaltung dieser Handlungsschritte sicher.
§ 4 Inhalt und Umfang der Mitteilung an das Jugendamt
Die Mitteilung an das Jugendamt nach § 3 Abs. 5 enthält mindestens und soweit dem Träger bekannt:
- Name, Anschrift, ggf. abweichender Aufenthaltsort des Kindes oder Jugendlichen;
- Name, Anschrift, ggf. abweichender Aufenthaltsort der Eltern und anderer Personensorgeberechtigten;
- beobachtete gewichtige Anhaltspunkte;
- Ergebnis der Abschätzung des Gefährdungsrisikos;
- bereits getroffene und für erforderlich gehaltene weitere Maßnahmen;
- Beteiligung der Personensorgeberechtigten sowie des Kindes oder Jugendlichen, Ergebnis der Beteiligung;
- beteiligte Fachkräfte des Trägers, ggf. bereits eingeschaltete weitere Träger von Maßnahmen;
- weitere Beteiligte oder Betroffene.
§ 5 Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung
(1) Der Träger stellt durch geeignete betriebliche Maßnahmen sicher, dass die Fachkräfte über die gewichtigen Anhaltspunkte zur Kindeswohlgefährdung unterrichtet sind und hierbei mindestens die in der Anlage zu dieser Vereinbarung enthaltene Liste wichtiger Anhaltspunkte beachtet wird.
(2) Der Träger stellt sicher, dass die von den Fachkräften bereits verwendeten diagnostischen Instrumente, Beobachtungslisten und dergleichen auf die vollständige Berücksichtigung dieser Anhaltspunkte überprüft und ggf. angepasst werden.
§ 6 Beteiligung einer erfahrenen Fachkraft an der Einschätzung des Gefährdungsrisikos
(1) Unbeschadet sonstiger Regelungen muss die zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos zu beteiligende Fachkraft über folgende Qualifikationen verfügen:
- einschlägige Berufsausbildung (z.B. Dipl.-Sozialpäd., Dipl.-Psych., Arzt),
- Qualifizierung durch nachgewiesene Fortbildung,
- Praxiserfahrung im Umgang mit traumatisierten Kindern und Problemfamilien,
- Fähigkeit zur Kooperation mit den Fachkräften öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe, sowie mit weiteren Einrichtungen, z.B. der Gesundheitshilfe, Polizei,…
- Kompetenz zur kollegialen Beratung; nach Möglichkeit supervisiorische oder coaching-Kompetenzen,
- persönliche Eignung (z.B. Belastbarkeit, professionelle Distanz, Urteilsfähigkeit).
(2)...(3) ...
§ 7 Einbeziehung der Personensorgeberechtigten
Der Träger stellt sicher, dass die Personensorgeberechtigten einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird (§ 8a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
§ 8 Einbeziehung des Kindes oder des Jugendlichen
Der Träger beachtet die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen gemäß § 8 SGB VIII (insbesondere altersgerechte Beteiligung, Aufklärung über Rechte). Davon kann im Einzelfall nur abgewichen werden, wenn durch die Einbeziehung ihr wirksamer Schutz in Frage gestellt werden würde (§ 8a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
§ 9 Dokumentation
(1) Der Träger stellt sicher, dass die Fachkräfte die Wahrnehmung der Aufgaben und Verpflichtungen aus dieser Vereinbarung umgehend schriftlich und nachvollziehbar dokumentieren.
(2) Unbeschadet weiter gehender Regelungen des Trägers erfasst die Dokumentationspflicht alle Verfahrensschritte und muss bei jedem Verfahrensschritt mindestens beinhalten: beteiligte Fachkräfte, zu beurteilende Situation, Ergebnis der Beurteilung, Art und Weise der Ermessensausübung, weitere Entscheidungen, Definition der Verantwortlichkeit für den nächsten Schritt, Zeitvorgaben für Überprüfungen.
§ 10 Datenschutz
Soweit dem Träger bzw. den von ihm beschäftigten Fachkräften zur Sicherstellung dieses Schutzauftrags Informationen bekannt werden oder ermittelt werden müssen und die Weitergabe dieser Informationen zur Sicherstellung des Schutzauftrags erforderlich ist, bestehen keine die Wahrnehmung dieser Aufgabe einschränkenden datenschutzrechtlichen Vorbehalte. Insofern gilt der Grundsatz, dass Sozialdaten zu dem Zweck übermittelt oder genutzt werden dürfen, zu dem sie erhoben worden sind (§ 64 Abs. 1 SGB VIII, § 69 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB X). Bei anvertrauten Daten sind die Regelungen des § 65 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII zu beachten.
§ 11 Qualitätssicherung
Der Träger stellt sicher, dass die zuständigen Leitungen für die sachgerechte Unterrichtung der Fachkräfte über die Verpflichtungen aus § 8a SGB VIII Sorge tragen, ebenso für eine regelmäßige Auswertung der Erfahrungen mit den getroffenen Regelungen (Evaluation) sowie für die Einbeziehung weiterer fachlicher Erkenntnisse. Diese Maßnahmen der Qualitätssicherung sind in der Regel einmal jährlich durchzuführen.
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Unabhängig davon, ob der Träger einer Kindertageseinrichtung eine solche oder eine ähnliche Vereinbarung mit dem Jugendamt abgeschlossen hat, lässt sich der Vorlage des Bayerischen Landesjugendamtes entnehmen, wie Erzieher/innen, Kinderpfleger/innen oder sonst wie qualifizierte Fachkräfte den Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII erfüllen sollten:
- Sie sind gesetzlich verpflichtet, die ihnen anvertrauten Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (z.B. § 1 Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII; § 3 Abs. 1 AVBayKiBiG).
- Dementsprechend sollten sie gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung (s.u.) kennen.
- Auf diese gewichtigen Anhaltspunkte sollten die Fachkräfte bei den ihnen anvertrauten Kinder achten, insbesondere wenn sie deren Entwicklung beobachten – eine Pflicht, die sich z.B. aus § 1 Abs. 2 AVBayKiBiG in Verbindung mit dem Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan ergibt (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2006, S. 464-466). Falls sie Beobachtungsbögen, Checklisten u.Ä. verwenden, sollten diese alle wichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung beinhalten (vgl. § 5 der Vereinbarung).
- Sobald die Fachkräfte im Einzelfall gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung wahrgenommen haben, sollten sie sofort die Leitung ihrer Kindertageseinrichtung verständigen. Zusammen mit ihr und anderen Kolleg/innen, die den jeweiligen Einzelfall kennen, besprechen sie, ob die gewichtigen Anhaltspunkte wirklich gegeben sind. Dazu mag es notwendig sein, dass das Kind längere Zeit systematisch beobachtet wird – möglichst von zwei oder mehr Personen.
- Werden die gewichtigen Anhaltspunkte nicht entkräftet, schalten die Erzieher/innen (bzw. die Leitung ihrer Kindertageseinrichtung) eine „erfahrene Fachkraft“ ein. Dies kann ein/e Mitarbeiter/in des Jugendamtes, einer Erziehungsberatungsstelle oder einer anderen Einrichtung sein, die entsprechend qualifiziert ist (siehe § 6 der Vereinbarung). Dann erfolgt die Abschätzung des Gefährdungsrisikos laut § 8a Abs. 1 und 2 SGB VIII.
- Bestätigt sich der Verdacht und werden Jugendhilfeleistungen für erforderlich gehalten, können letztere von dem Träger der Kindertageseinrichtung erbracht werden. Ist also beispielsweise der Träger ein Diözesan-Caritasverband, erfolgte die Abschätzung des Gefährdungsrisikos mit Hilfe dessen Familienberatungsstelle und wird eine Erziehungsberatung für notwendig erachtet, kann diese durch eine Beratungsstelle des Caritasverbandes erfolgen. Kommt es zu keiner Inanspruchnahme der Leistung durch die Eltern, kann der Träger die jeweilige Jugendhilfeleistung nicht erbringen oder sind andere Maßnahmen notwendig, muss der Träger unverzüglich das Jugendamt verständigen (vgl. §§ 3, 4 der Vereinbarung). Dieses übernimmt dann die Verantwortung für den Fall.
- Die Fachkräfte sind verpflichtet, den jeweiligen Fall genau zu dokumentieren, also den Verlauf ab Beginn der Beobachtung von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung Schritt für Schritt schriftlich und für Dritte nachvollziehbar niederzulegen (vgl. § 9 der Vereinbarung).
Was sind nun die gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung, auf die Erzieher/innen, Kinderpfleger/innen oder sonst wie qualifizierte Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen achten sollten? Sie werden in den „Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII“ des Bayerischen Landesjugendamtes (2006) wie folgt definiert:
Gewichtige Anhaltspunkte
Anhaltspunkte beim Kind oder Jugendlichen
- Nicht plausibel erklärbare sichtbare Verletzungen (auch Selbstverletzungen)?
- Körperliche oder seelische Krankheitssymptome (z.B. Einnässen, Ängste, Zwänge...)?
- Unzureichende Flüssigkeits- oder Nahrungszufuhr?
- Fehlende, aber notwendige ärztliche Vorsorge und Behandlung?
- Zuführung die Gesundheit gefährdender Substanzen?
- Für das Lebensalter mangelnde Aufsicht?
- Hygienemängel (z.B. Körperpflege, Kleidung...)?
- Unbekannter Aufenthalt (z.B. Weglaufen, Streunen...)?
- Fortgesetzte unentschuldigte Schulversäumnisse oder fortgesetztes unentschuldigtes Fernbleiben von der Tageseinrichtung?
- Gesetzesverstöße?
Anhaltspunkte in Familie und Lebensumfeld
- Gewalttätigkeiten in der Familie?
- Sexuelle oder kriminelle Ausbeutung des Kindes oder Jugendlichen?
- Eltern psychisch oder suchtkrank, körperlich oder geistig beeinträchtigt?
- Familie in finanzieller bzw. materieller Notlage?
- Desolate Wohnsituation (z.B. Vermüllung, Wohnfläche, Obdachlosigkeit...)?
- Traumatisierende Lebensereignisse (z.B. Verlust eines Angehörigen, Unglück...)?
- Erziehungsverhalten und Entwicklungsförderung durch Eltern schädigend?
- Soziale Isolierung der Familie?
- Desorientierendes soziales Milieu bzw. desorientierende soziale Abhängigkeiten?
Anhaltspunkte zur Mitwirkungsbereitschaft und -fähigkeit
- Kindeswohlgefährdung durch Erziehungs- oder Personensorgeberechtigte nicht abwendbar?
- Fehlende Problemeinsicht?
- Unzureichende Kooperationsbereitschaft?
- Mangelnde Bereitschaft, Hilfe anzunehmen?
- Bisherige Unterstützungsversuche unzureichend?
- Frühere Sorgerechtsvorfälle?
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Selbstverständlich ist diese Liste nicht als abschließend zu betrachten. So sollten die Fachkräfte z.B. auch auf die im ersten Teil des Artikels genannten Charakteristika der verschiedenen Formen der Kindeswohlgefährdung, auf die bei betroffenen Kindern möglicherweise auftretenden Symptome und auf die skizzierten problematischen Familiensituationen achten.
Noch eine Anmerkung zum Datenschutz: Eine Kindeswohlgefährdung ist ein so schwerwiegender Tatbestand, dass der Datenschutz hinter dem konkreten Schutzbedürfnis eines betroffenen Kindes zurückstehen muss. Erzieher/innen können also alle Daten an die Kolleg/innen, den Träger, die einzuschaltenden erfahrenen Fachkräfte, das Jugendamt usw. weitergeben, die zur Sicherstellung des Schutzauftrags erforderlich sind. Allerdings dürfen sie nicht von sich aus ohne Wissen der Eltern Nachforschungen bei Dritten (z.B. Nachbarn) betreiben. Reichen die ihnen vorliegenden Daten nicht aus, um trotz gewichtiger Anhaltspunkte die vermutete Kindeswohlgefährdung zu belegen, ist dennoch das Jugendamt zu verständigen, da es berechtigt ist, z.B. durch Hausbesuche oder Nachforschungen bei Dritten weitere Informationen zu erheben.
Bei Sozialdaten, die Erzieher/innen zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind, ist hingegen bis zu einem gewissen Grade Vertraulichkeit geboten. Sie müssen aber auf jeden Fall weitergegeben werden, wenn ein Tätigwerden des Familiengerichts erforderlich ist oder wenn eine gravierende Gefährdungssituation besteht, die eine Inobhutnahme des Kindes oder ein Eingreifen z.B. der Polizei notwendig macht (vgl. § 8a Abs. 3 bzw. 4 SGB VIII, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 4 SGB VIII, § 34 StGB).
Zum Umgang mit den betroffenen Kindern und ihren Eltern
Eltern, die ein Kind misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht haben, lösen bei Erzieher/innen zunächst Ablehnung, Abscheu und Wut aus. Schließlich kennen sie das Kind, lieben es auf gewisse Weise, und können sich so überhaupt nicht vorstellen, wie man ihm dergleichen antun konnte. In dieser Situation kann es hilfreich sein, sich vorzustellen, in welch problematischen Lebens- bzw. Familiensituationen viele dieser Eltern leben, dass sie oft unter psychischen Störungen und Suchtkrankheiten leiden und dass sie häufig selbst in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch waren (s.o.). Damit soll ihr Verhalten nicht entschuldigt werden, aber es wird zumindest deutlich, dass viele dieser Eltern beratungs- und hilfebedürftige Personen sind, die nun nach dem Bekanntwerden ihres Handelns (hoffentlich) die notwendige Unterstützung durch das Jugendamt und/oder andere psychosoziale Dienste erhalten. Außerdem sollten die Erzieher/innen bedenken, dass vernachlässigte, misshandelte und sexuell missbrauchte Kleinkinder trotz der Demütigungen und Verletzungen ihre Eltern lieben und Angst haben, sie zu verlieren.
Wenn die Kindeswohlgefährdung von den Erzieher/innen gemeldet wurde, ist anschließend oft das Verhältnis zu den Eltern gestört. In vielen Fällen ändert sich dies aber innerhalb einiger Wochen, wenn die Eltern erkennen, dass durch die Hilfen des Jugendamtes bzw. anderer psychosozialer Dienste sich die persönliche Situation entspannt und sich die Familienverhältnisse verbessern. Selbst wenn ein sexueller Missbrauch gemeldet wurde, mag dies den nicht beteiligten Elternteil entlasten, da er froh ist, dass nun endlich der Missbrauch aufgedeckt wurde und dem Kind geholfen wird. Dadurch werden die Ängste und Schuldgefühle des Elternteils gemildert. In anderen Fällen dauert es jedoch längere Zeit, bis eine neue Vertrauensbasis zwischen Erzieherin und Eltern entsteht.
Insbesondere die Lebenswelt von Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, unterscheidet sich möglicherweise sehr von der einer Erzieherin. Deshalb sollten eigene sowie gesellschaftliche Normen, Maßstäbe und Selbstverständlichkeiten reflektiert werden – sie gelten oft nicht für diese Familien. Zuhören, Wahrnehmen und Verstehen sind unerlässlich, um sich in die Lebensrealität der jeweiligen Familie einfühlen und eine gemeinsame Sprache finden zu können. So entsteht eine Vertrauensbasis bzw. wird erhalten, die Erzieher/innen vor allem dazu nutzen sollten, einen regelmäßigen – möglichst ganztägigen – Besuch der Kindertageseinrichtung durch das jeweilige Kind zu erreichen.
Prinzipiell ist es nicht Aufgabe von Erzieher/innen, Eltern, die ein Kind misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht haben, intensiv zu beraten und zu unterstützen. Dazu fehlen sowohl die Zeit als auch die notwendigen beraterischen und therapeutischen Qualifikationen. Die für diese Familien notwendigen Angebote – z.B. Familienhilfe, Krisenberatung, Familienberatung bzw. -therapie, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft – können nur das Jugendamt und/oder spezialisierte psychosoziale Dienste zur Verfügung stellen. Gelegentlich werden Erzieher/innen in die Hilfeplanung und eventuell auch in die Maßnahmen eingebunden. Ansonsten können sie nur unterstützend tätig werden, indem sie diese Eltern nicht anders als andere Eltern behandeln, sie in die Elternschaft zu integrieren versuchen – also z.B. gezielt zu Angeboten im Rahmen der Elternarbeit einladen–, mit ihnen möglichst mehr als die im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan vorgesehenen zwei Entwicklungsgespräche pro Jahr führen (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2006, S. 445) und ihnen in einem sehr begrenzten Rahmen für Beratungsgespräche zur Verfügung stehen, die sich aber vor allem auf das betreute Kind beziehen sollten.
Dasselbe gilt bezüglich der betroffenen Kinder: Misshandelte, vernachlässigte und sexuell missbrauchte Kinder benötigen Hilfs- und Unterstützungsangebote, die weit über das hinausgehen, was Erzieher/innen leisten können. Dazu gehören z.B. Kinderpsychotherapie und – bei etwas älteren Kindern – soziale Gruppenarbeit.
Selbstverständlich handelt es sich bei den Betroffenen um Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die in größerem Maße als andere Kinder die Zeit und die erzieherische bzw. heilpädagogische Kompetenz der Erzieher/innen beanspruchen. Beispielsweise können sie auf folgende Weise unterstützt werden:
- Kinder, die körperlich, psychisch oder sexuell misshandelt werden, schreiben sich besonders im jüngeren Alter selbst die Schuld an der Misshandlung zu, weil sie denken, sie seien böse oder nicht gut genug. Erzieher/innen können „ein Ohr“ für solche Schuldgefühle entwickeln, auf sie eingehen und den Kindern helfen, ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühle zu entwickeln.
- Vernachlässigte Kinder sind häufig entweder mimisch und gestisch regungslos und sprechen wenig oder sie sind distanzlos und laufen fortwährend hinter der Fachkraft her. So ist es relativ schwer, mit ihnen zu interagieren. Erzieher/innen sollten diese Kinder besonders gut beobachten, da sie oft in einem oder in mehreren Bereichen entwicklungsverzögert sind. Ist dies der Fall, ist zu prüfen, ob die Entwicklungsrückstände durch eine intensive (heilpädagogische) Förderung durch das Kindergartenpersonal ausgeglichen werden können oder ob weitergehende Maßnahmen notwendig sind (z.B. Einschaltung einer Frühförderstelle oder eines mobilen sonderpädagogischen Dienstes). Sind die Kinder unterernährt und ungepflegt, sollten sie zumindest im Kindergarten genügend Essen bekommen und zur Körperpflege angeleitet werden. Vereinzelt ist es sinnvoll, für sie saubere Kleidung bereitzuhalten (z.B. Spenden anderer Eltern), sodass sie sich umziehen können. Sehr stille, isolierte, deprimiert wirkende Kinder benötigen Unterstützung bei der Integration in die Kindergruppe.
- Bei misshandelten Kindern ist hingegen mehr auf die Verhaltenskontrolle zu achten, da sie oft aggressiv und gewalttätig sind. Treten bei ihnen Ängste, Albträume, Schlafstörungen, Depressionen usw. auf, benötigen sie eine entsprechende emotionale Unterstützung durch die Erzieher/innen. Manchmal ist es aber schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen, insbesondere wenn sie Bindungsstörungen aufweisen oder emotionslos wirken bzw. reagieren. Auf Entwicklungsverzögerungen, z.B. im kognitiven und sprachlichen Bereich, sollte geachtet werden.
- Sexuell missbrauchte Kinder werden von sich aus selten über ihre Situation sprechen, da sie über einen längeren Zeitraum psychischen Druck aushalten mussten und beispielsweise immer noch befürchten, sie könnten ins Heim kommen oder ihr Haustier könnte getötet werden. Erzieher/innen sollten hier sehr sensibel sein und die Kinder nicht drängen, etwas zu sagen. Stattdessen sollten sie vor allem für die Gefühle und Stimmungen der Kinder empfänglich sein und auf eventuelle Ängste, Depressionen, Albträume und psychosomatische Beschwerden einfühlsam eingehen. Bei anderen sexuell missbrauchten Kindern, die sehr aggressiv sind, sich oft ausziehen oder ein unangemessenes Interesse an den Geschlechtsteilen anderer Kinder zeigen, ist hingegen eine entsprechende Verhaltenskontrolle wichtig. Bei all diesen Kindern ist auch auf Entwicklungsverzögerungen zu achten.
Grundsätzlich benötigen alle Kinder, die körperlich, psychisch oder sexuell misshandelt wurden, eine besonders enge Beziehung zur Erzieherin, in der sie Wärme (Körperkontakt), Zuneigung, Verständnis, Feinfühligkeit, Trost, Stressreduktion usw. erfahren. Deshalb sollte möglichst oft das Gespräch mit ihnen alleine gesucht werden, sodass sichere Bindungen entstehen können. Dadurch können Erzieher/innen diesen Kindern wahrscheinlich am besten helfen...
Literatur
Bayerisches Landesjugendamt: Schutzauftrag § 8a SGB VIII. Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses vom 15.03.2006. https://www.blja.bayern.de/service/bibliothek/fachliche-empfehlungen/schutzauftragParagraf8a2006.php
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik München (Hrsg.): Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Weinheim, Basel: Beltz 2006
Dr. Martin R. Textor, Jahrgang 1954, studierte Erziehungswissenschaft, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany (New York) und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Im November 2006 gründete er zusammen mit seiner Frau das nicht universitäre Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Martin R. Textor veröffentlichte 22 Monographien, 23 Fachbücher als (Mit-) Herausgeber, mehr als 470 Artikel in Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Zeitschriften und (Hand-) Büchern (ohne graue Literatur), rund 270 Fachartikel im Internet sowie circa 620 Rezensionen. Ferner wirkte er an 473 Veranstaltungen – mit mehr als 24.000 Teilnehmer/innen – als Referent oder Fortbildner mit (Stand: Dezember 2017). Ausführliche Informationen über seine Person, seine Veröffentlichungen und seine Vortrags- bzw. Fortbildungstätigkeit können auf https://www.ipzf.de abgerufen werden. Seine Autobiographie ist unter http://www.martin-textor.de zu finden.