Vorschulkinder lernen Lesen ab drei mit der Inklusiven Lesefibel

Christel Manske

Eine inklusive Lesefibel, in der alle Kinder einer Klasse, in der die Normalverteilung wie ein göttliches Gesetz herrscht, gemeinsam Lesen lernen ist wie die Quadratur des Kreises. Das gemeinsame Lernen setzt die Anerkennung aller Kinder voraus. Kein Kind wird als weniger intelligent als das andere eingestuft. Es ist die Aufgabe der Inklusion ein völlig neues Unterrichtskonzept zu entwickeln, in dem alle Kinder gemeinsam erfolgreich lernen können. Die „Inklusive Lesefibel“ zeigt konkrete Schritte, wie inklusiver Unterricht gestaltet werden könnte. Das Besondere ist, dass auch Vorschulkinder mit Down-Syndrom an der Herstellung dieser „Inklusiven Lesefibel“ mitgewirkt haben. Sie tragen somit dazu bei, dass gemeinsam geteiltes Lernen für alle Kinder, Eltern und PädagogInnen Wirklichkeit werden könnte.

Als ich vor fünfzig Jahren mein erstes Schuljahr unterrichtete, war ich mit der Frage konfrontiert, ob ich mit einer analytisch oder synthetisch orientierten Lesemethode beginne. Für die synthetische Lesemethode sprach, dass die Kinder von Anbeginn lernen Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe, Wort für Wort zu lesen. Gegen die synthetische Lesemethode sprach, dass einige Kinder große Mühe hatten sich Buchstaben, weil sie keinen Sinn ergaben, mechanisch einzuprägen. 

Für die analytische Lesemethode sprach, dass die Kinder von Anfang an sinnvolle Wörter „lasen“, gegen die analytische Lesemethode sprach, dass einige Kinder die einzelnen Laute nicht aus dem Wort heraushören konnten. Aus diesem Grund habe ich die Lesemethode der „Lautwörter“ entwickelt. In den siebziger Jahren habe ich diese Methode an Sonderschulen für Kinder mit Lernbehinderung eingeführt.

Die inklusive Lesefibel beginnt mit den Buchstaben A und M.

Ich höre immer wieder das Vorurteil, dass die Kinder, wenn sie z. B. die Erfahrung beim Arzt mit dem Lautwort „A“ bezeichnen und die Erfahrung des Schmeckens einer Leckerei mit dem Lautwort „M“ bezeichnen, beim Lesen des Wortes AM an das Öffnen des Mundes beim Arztbesuch und an das Schmatzen mit den Lippen beim Essen denken würden. Es wäre demnach undenkbar auf diese Weise das Zusammenziehen der Buchstaben zu einer Silbe und einem Wort zu lernen.

Das Gegenteil ist der Fall. Immer, wenn ein neues Wort gebildet wird, verlieren die Wörter, die das neue Wort enthalten, vollständig den Wortsinn. Sie lösen sich in die einzelnen Wörter und Lautwörter auf.

Das Wort Kreis enthält die Wörter Reis, Eis, Ei und das Lautwort S. Doch beim Lesen des Wortes Kreis denkt niemand an die einzelnen Wörter, die das neue Wort enthält. Das Wort Kleine enthält die Wörter Leine, eine, ein, in, Ei und das Lautwort EI. Die meisten Wörter unserer Sprache sind aus anderen Wörtern zusammengesetzt oder enthalten diese. Alle Buchstaben werden auf diese Weise als Lautwörter gelernt.

Im inklusiven Leseunterricht lernen die Kinder z. B. den Buchstaben F als Lautwort „FFFF“. Während sie eine Kerze auspusten, sprechen sie dazu „FFFF“. Als Sinn gebender Laut, bekommt nun der Buchstabe F Wortcharakter. Ein Wort ist die kleinste Sinneinheit und muss daher nicht mechanisch über das Bekräftigungslernen geübt werden. Während die Kinder die Kerze auspusten, arbeiten sie mit den fünf Sinnen. Sie schauen in die Flamme, sie spüren die Wärme, sie riechen den verkohlten Docht und das Wachs. Während sie nun diese Erfahrung kommunizieren und mit „FFF“ bezeichnen, entwickeln sie ein löschungsresistentes einheitliches funktionelles Hirnorgan. Über das Wesen der funktionellen Hirnorgane schreibt Leontj'ev:

„Die uns vorliegenden Untersuchungsergebnisse erlauben uns, solche im Laufe des Lebens entstehenden funktionellen Organe eingehender zu charakterisieren:

- Haben sich solche Systeme einmal gebildet, dann funktionieren sie als einheitliches Organ weiter.

- Die funktionellen Organe sind relativ beständig.

- Die funktionellen Organe lassen sich umgestalten; einzelne ihrer Komponenten können durch andere ersetzt werden, wobei das funktionelle System als Ganzes erhalten bleibt.“ (Leontj'ev 1964, S. 371-377)

Demnach sind alle höheren psychischen Fähigkeiten wie das Empfinden, Wahrnehmen, Erinnern und Denken nicht angeboren. Sie entwickeln sich als funktionelle Hirnorgane nur durch soziale sinnvolle Handlungen mit allen fünf Sinnen, die von den Kindern und den PädagogInnen kommuniziert werden. 

Der pädagogische Optimismus hielt Einzug in Kindergärten und Schulen. Meine Bücher u.a. „Schlechte Schüler gibt es nicht“, „Die Kraft geht von den Kindern aus“, „Lernprobleme“ waren Bestseller. Der Erfolg bestätigte unseren Optimismus.

Mitte der achtziger Jahre begann ich meine Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte. Dort lernten Erwachsene noch mit vierzig Jahren das Lesen und Schreiben. Diese Erfahrung machte mir bewusst, dass die Herausbildung funktioneller Hirnorgane auch noch im Erwachsenenalter und mit jedem Menschen möglich ist. Diese Erfahrung habe ich in dem Buch „Lernen können ja alle Leute“ veröffentlicht.

Um eine optimistische Aussage über die Entwicklungsmöglichkeit von allen Kindern machen zu können, auch Kindern, die mit Einschränkungen geboren werden, habe ich mich vor zwanzig Jahren entschlossen mit Kleinkindern und Vorschulkindern gemeinsam eine inklusive Lesedidaktik zu erforschen, die von Anfang an allen Kindern ohne Ausnahme gerecht wird.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir mit den objektiven Testverfahren keine sinnvolle Aussage über die Entwicklungsmöglichkeit eines Kindes machen können, da diese Verfahren die Kinder zum Objekt des Forschers machen. Er tritt mit den Kindern nicht in einen Dialog. Die Kinder sollen mit ihm seine Logik teilen.

Die Kinder, die den verordneten Erwartungen nicht entsprechen versagen in der Regel im Test. Die subjektiven Reaktionen der Kinder auf die Tests dürfen nicht als Mangel an Intelligenz gewertet werden, sondern als ihre subjektiven Äußerungen, die wir nicht bewerten dürfen, sondern wir müssen von den Kindern lernen.

Mein Traum, dass die geistige Behinderung kein unüberwindbarer Mangel der Natur ist, sondern dass jedes Kind lernen kann, ist keine Utopie, sondern Realität. Die Forderung nach inklusivem Unterricht ist dieser Realität geschuldet.

Was bedeutet dies für die Pädagogik?

Wir gehen von folgenden Entdeckungen Vygotskijs aus:

Die Gesetze der kindlichen Entwicklung sind allgemein.

PädagogInnen in Schulen und Kindertagesstätten, die inklusiv arbeiten, müssen zusätzlich PsychologInnen sein in dem Sinne, dass ihnen die Gesetze der kindlichen Entwicklung vertraut sind.

Das Lernen läuft der Entwicklung voraus

Die PädagogInnen in Schulen und Kindertagesstätten müssen zusätzlich LerntherapeutInnen sein, denen die Gesetze des Lernens, das heißt die Herausbildung funktioneller Hirnsysteme, bekannt sind.

Für alle PädagogInnen, die inklusiv arbeiten, ist es notwendig, einmal Erfahrungen gemacht zu haben, die ihnen Mut machen sich die uneingeschränkte Entwicklung aller Kinder überhaupt vorstellen zu können.

Nach einem Gespräch mit Dr. Natalia Korneva, die taub und blind ist und als Psychologin gearbeitet hat, habe ich die Erfahrung gemacht, dass die adäquate Pädagogik die größten biologischen Beeinträchtigungen überwinden kann. Obwohl sie nicht sehen und hören kann, hat sie sich mit mir über die deutschen Philosophen unterhalten. Sie sprach englisch mit mir, obwohl sie ihre Stimme nicht hören kann. Ihr Mann lormte alles, was ich sagte, in ihre Hände.

Die Entdeckung Vygotskijs, dass jede Behinderung in erster Linie sozialer Natur ist, hat für alle Zukunft die Fenster für eine inklusive Pädagogik aufgestoßen. Vygotskij hat die kindliche Entwicklung vom Säugling bis zum Jugendalter in seiner Krisentheorie grundlegend dargestellt. Folgendes Konzept leitet sich für den inklusiven Unterricht aus diesen Entdeckungen ab:

In jeder Unterrichtsstunde müssen alle psychologischen Entwicklungsstufen vom Säugling zum Schulkind durchlaufen werden können.

Der Unterricht muss so gestaltet werden, dass jeder Lerngegenstand in der Einheit von Empfinden, Handeln, Erinnern und Denken erarbeitet wird. Nur so werden stabile funktionelle Hirnsysteme aufgebaut. (vgl. Vygotskij 1987, S. 91- 287, "Vom Säugling zum Schulkind")

Die inklusive Lesefibel verwirklicht beide Entdeckungen.

Aufbau der inklusiven Lesefibel

Vygotskij unterscheidet das chronologische Alter, die Lebensjahre, und das psychologische Alter. Das psychologische Alter bestimmt die Entwicklungsstufe, auf der ein Kind sich befindet. So kann ein Kind, das sieben Jahre alt ist, entwicklungspsychologisch noch auf der Stufe Vorschulkind sein. Dieses Kind benötigt, wenn ihm z. B. eine Geschichte vorgelesen wird, Bilder, da es ihm noch schwer fällt, die laute Sprache beim Hören gleichzeitig in Bilder zu übersetzen.

Bebilderte Kinderbücher helfen ihm der lauten Sprache zu folgen, weil es zunehmend genügend Bildmaterial verinnerlicht. Der Sprung zum Schulkind wird ihm auf diese Weise ermöglicht. Im inklusiven Unterricht sind Kinder unterschiedlicher psychologischer Entwicklungsstufen in einer Klasse.

Der Unterricht kann den unterschiedlichen Kindern nur gerecht werden, wenn die PädagogInnen für die jeweiligen Entwicklungsstufen vom Säugling zum Schulkind in einer Unterrichtsstunde ein adäquates Lernangebot machen.

Die Lesefibel ist so aufgebaut, dass auf jeder Seite die vier psychologischen Entwicklungsstufen in einer Unterrichtstunde nacheinander angeboten werden:

Die Stufe Säugling bedeutet organische Harmonie, Geborgenheit und Nahrung.

Die Stufe Kleinkind bedeutet gemeinsam geteilte Tätigkeit mit Kulturgegenständen.

Die Stufe Vorschulkind bedeutet das Aufheben der Handlung im Rollenspiel und Bild.

Die Stufe Schulkind bedeutet das Erlernen des Zeichengebrauchs.

Eine Unterrichtsstunde bietet alle psychologischen Entwicklungsstufen der Ontogenese der kindlichen Entwicklung an. Alle Kinder erfahren auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe ihre ihnen entsprechende Anschlussmöglichkeit.

Vier psychologische Entwicklungsstufen

1

Säugling

2

Kleinkind

3

Vorschulkind

4

Schulkind

1. Das erste Quadrat entspricht der psychologischen Entwicklungsstufe

Säugling

Das Erkenntnisorgan ist wesentlich die Zunge.

Die wesentliche Tätigkeit ist das Schmecken.

Alle Kinder haben Freude am Schmecken.

Für Kinder, die aufgrund einer Einschränkung noch nicht mit Gegenständen handeln können, ist es notwendig, dass der Buchstabe als Anlaut einer Leckerei vermittelt wird. Alle Kinder erleben die Inklusion als gemeinsam geteiltes Schmecken.

Das Essen eines Apfels wird zum Beispiel zum gemeinsam geteilten Erlebnis.

Alle Kinder machen sich bewusst, dass der Apfel süß schmeckt, dass er frisch riecht, dass er rot aussieht, dass er sich glatt anfühlt und dass er beim Hineinbeißen knackt.

So wird die reine Empfindung der fünf Sinne durch die

sprachliche Bezeichnung „Apfel“ zur bewussten Erfahrung, das heißt zu einem einheitlichen funktionellen Hirnorgan.

2. Das zweite Quadrat entspricht der psychologischen Entwicklungsstufe

Kleinkind

Das wesentliche Erkenntnisorgan sind die Hände.

Die wesentliche Tätigkeit ist der Umgang mit den Kulturgegenständen und später mit Material und Werkzeug.

Die Kinder spielen z. B. Arzt und krankes Kind. Der „Arzt“ untersucht mit Stethoskop und Spachtel ein Kind oder eine Puppe. Er fordert das Kind auf, das Phonem „A“ zu sagen, wenn er Halsschmerzen diagnostizieren will. Alle Kinder unseres Kulturkreises haben diese Erfahrung beim Arzt gemacht und erinnern sie.

Das „A“ wird auf diese Weise als Lautwort gelernt. Der Laut ist nicht ein isolierter sinnloser Buchstabe, der auswendig gelernt werden muss. Er wird zu einem Wort, weil er sinnvoll eine Erfahrung bezeichnet. Die Kinder bauen das Phonem „A“ als ein stabiles funktionelles Hirnsystem auf. Die hier dargestellten Lautwörter dienen als Anregungen für die PädagogInnen. Sie sollten den regionalen Gegebenheiten oder individuellen Vorlieben der Kinder angepasst werden. Als ein dreijähriger Junge das „S“ nicht einer summenden Biene zuordnen konnte, half ihm das Geräusch des Rasierapparats seines Vaters.

3. Das dritte Quadrat entspricht der psychologischen Entwicklungsstufe

Vorschulkind

Das wesentliche Erkenntnisorgan ist das Gedächtnis.

Die wesentliche Tätigkeit ist die symbolische Aktion.   

Die Kinder heben die flüchtige Tätigkeit im Foto oder im Bild symbolisch auf. Mit Hilfe des äußeren Bildes machen sie sich ein inneres Bild vom Geschehen, das heißt sie machen sich eine Vorstellung. Sie erinnern.

Die Kinder tragen die Tätigkeit zum Beispiel das Öffnen des Mundes zum „A“ mit einer symbolischen Handgebärde in ihr Körperselbstbild ein. Sie berühren mit dem Zeigefinger die geöffnete Unterlippe. Mit Hilfe der Handgebärde steuern sie später beim lauten Lesen die Lippen- und Zungenbewegung.

4. Das vierte Quadrat entspricht der psychologischen Entwicklungsstufe

Schulkind

Das wesentliche Erkenntnisorgan sind die funktionellen Hirnsysteme.

Die wesentliche Tätigkeit ist der Zeichengebrauch, die Schrift.

Die Kinder lernen für die Phoneme, das sind die Lautwörter, die entsprechenden Grapheme, das sind die Schriftzeichen, je nach ihren individuellen Fähigkeiten. Anfangs ordnen die Kinder dem jeweiligen Laut den entsprechenden Plastikbuchstaben zu. Sie kneten die Buchstaben, sie lecken gebackene Buchstaben mit der Zunge ab, sie fahren Buchstaben aus Schmirgelpapier oder Wellpappe mit dem Finger ab usw. Später schreiben alle Kinder die Buchstaben in Rahmenschrift, mit Hilfe von Punkten oder am Computer. Das Phonem „A“ wird als Graphem A bezeichnet.

Abb. 1: Phonem "A" wird als Graphem A bezeichnet (Manske 2016, S. 14)

Eine Kollegin in Moskau arbeitet mit den Lautwörtern meiner Fibel:

Abb. 2: Lautwörter („Downside Up“ Zeitschrift)

Auf diese Weise lernen die Kinder ab dem dritten Lebensjahr in einer einmaligen Unterrichtseinheit einen neuen Buchstaben. Die Unterrichtseinheit kann eine halbe Stunde oder auch eine ganze Stunde dauern. Nach unserer Erfahrung vergessen die Kinder die Buchstaben, die in den vier Stufen Anlaut, Lautwort, Gebärde, Graphem erarbeitet worden sind, auch dann nicht, wenn sie nicht zu Hause geübt werden. Sie sind als stabiles, löschungsresistentes funktionelles System gespeichert und werden nicht mehr vergessen. Wenn die Kinder nun lernen, aus den Lautwörtern Silben und Wörter zu lesen, müssen sie viele Kompetenzen haben. Ich habe verschiedene Stufen, die notwendig sind, um Buchstaben zusammenzuziehen, folgendermaßen entwickelt:

Die Kinder müssen mit Hilfe der Handgebärde lernen die Lippenbewegung und die Augenbewegung zu steuern. Das ist nicht einfach. Das Zusammenziehen der Silben zu Wörtern bereitet vielen Kindern große Schwierigkeiten. Wir müssen analysieren, welche Voraussetzungen das Kind entwickelt haben muss, bevor es diese schwierige Aufgabe lösen kann.

Wenn wir die Buchstaben A und M als Holzbuchstaben auf den Tisch legen, ist es den meisten Vorschulkindern noch nicht möglich fließend „A“ und „M“ als Silbe zu lesen. Sie schauen auf das A und sprechen „A“. Dann wenden sie den Kopf und schauen auf das M und sprechen „M“.

A         M

Für das Erlernen des Zusammenziehens der Buchstaben zu einer Silbe benötigen viele Kinder anfangs folgende Stufen:

1. Holzbuchstaben z. B. A und M werden in einer Entfernung von ca. einem halben Meter auf den Tisch gelegt.

2. Die Kinder nehmen den Buchstaben A in die Hand, schließen die Augen, fühlen ihn, öffnen die Augen, sehen ihn an oder, wie Robert, schmecken ihn als Keks auf der Zunge.

Sie tragen ihn in ihr Gedächtnis ein und halten ihn im Kopf, wenn sie sich dem zweiten Buchstaben zuwenden.

3. Die Kinder lernen die Augenbewegung aufzubauen, wenn sie ihren Zeigefinger vom A zum M bewegen. Sie lernen ihren Finger mit den Augen zu begleiten. Das fällt einigen Kindern schwer.

4. Sie üben die Bewegung der Augen von links nach rechts u. a. mit dem Frostig Programm, Heft 1. Sie rollen ein Auto von links nach rechts über die abgebildete Straße. Sie fahren mit dem Finger über die Straße. Dann ziehen sie eine Linie mit einem Stift. Das hilft ihnen Hand - und Augenbewegung zu synchronisieren.

Abb. 3: Rollen des Autos von links nach rechts über die abgebildete Straße (Manske 2018, S. 176)

5. Sie fühlen den Holzbuchstaben A, öffnen sie die rechte Hand und gleichzeitig die Lippen. Nun sprechen sie „AAAA“ während sie das A in Richtung M bewegen. Sie verlieren das A dabei aus den Augen. Sie halten es als Gedächtnisbild im Kopf.

6. Sie führen also die geöffnete rechte Hand synchron mit den geöffneten Lippen „AAAA“ zum M.

7. Sie schließen die geöffnete Hand. Das fließende Schließen der Hand beim M zieht das fließende Schließen der Lippen beim Laut „MMMM“ nach sich.

8. Die Kinder sprechen „AAAAMMMM“. Bei manchen Kindern stellen wir eine Überkreuzdominanz (P. Dennison 1992: Befreite Bahnen) fest. Sie bewegen die rechte Hand nach links und die Augen von links nach rechts.

Bild 4 Überkreuzdominanz Teil 1

 

Bild 4 Überkreuzdominanz Teil 2
 
Bild 4 Überkreuzdominanz Teil 3

Abb. 4: "MA" lesen (Manske 2018, S. 178)

Lisa will „MA“ lesen. Ihre Augenbewegung geht von links nach links, ihre Handbewegung hilft ihr die Augenbewegung von links nach rechts zu steuern. Zuerst steuern wir ihre Hand und jetzt steuert sie die linke Hand selbst von links nach rechts.

9. Wenn die Kinder die fließende Augenbewegung und Lippenbewegung auf diese Weise gelernt haben, sind sie in der Lage die Silbe AM oder MA auch dann zu lesen, wenn wir die Buchstaben dicht nebeneinander legen. Danach reicht es nur noch mit Hilfe der Handgebärden die fließende Augenbewegung, Zungen- und Lippenbewegung zu steuern.

10. Die Kinder lesen ab drei mit Begeisterung die Übungsseiten aus dem Inklusiven Schreibbuch, wie z. B.:         

MAMA    AM

Bild 5 MAMA Frau am Auto

                                                                           

Abb. 5: Übungsseiten MAMA AM (Manske 2018, S. 14)

In der Regel lernen alle Kinder im Vorschulalter auch Kinder mit Downsyndrom, Legasthenie und nicht nur Leseratten das Lesen vor der Einschulung. Wenn sie gelernt haben Silben zu einem Wort zusammenzuziehen, lesen sie die Fibeltexte, wie z. B.:

Dorle sagt:

Ich habe das Down-Syndrom.

David sagt:    

Ich habe kein Down-Syndrom

Dorle und David denken:

So ist das

                                                           Abb. 6: Fibeltexte (Manske 2016, S. 96)

Literatur

Leont'ev, Aleksej Nikolajewitsch (1964): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin: Volk und Wissen..

Manske, C. (2016). Inklusive LeseFibel: für Kinder mit Down-Syndrom, Leseratten und Legastheniker. Berlin: Lehmanns Media Verlag.

Manske, C. (2018): Schreibbuch zur inklusiven Lesefibel: Spielen - Schreiben - Lesen. Berlin: Lehmanns Media Verlag.

Vygotskij, Lew Semjonowitsch (1975): Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Die Sonderschule, Jg. XX. Heft 2. Berlin (DDR), S. 65-72.

Vygotskij, Lew Semjonowitsch (1987): Ausgewählte Schriften Band 2. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag.

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