Aus: Arbeitskreis Integrative Kindertageseinrichtungen der LAG Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen e.V. Bayern (Hrsg.):
Kindertageseinrichtungen für alle Kinder. Leitfaden und Qualitätsstandards für integrative Kindertageseinrichtungen. 4., überarbeitete Auflage 2001
Arbeitskreis Integrative Kindertageseinrichtungen der LAG Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen e.V. Bayern
"Bisher war es wichtig, dass jeder, der anders ist, die gleichen Rechte hat. In Zukunft wird es wichtig sein, dass jeder das gleiche Recht hat, anders zu sein."
Willem De Klerk, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Vizepräsident von Südafrika
Grundsätzliche Orientierung für die Arbeit in integrativen Kindertageseinrichtungen
Da die Ausgrenzung von behinderten Menschen noch immer die Norm ist, müssen wir eine gesellschaftliche Situation anstreben, in der es selbstverständlich und alltäglich ist, mit Menschen in all ihren Verschiedenheiten und Behinderungen zu leben und sie in ihrem "Anders sein" zu akzeptieren.
Für diesen selbstverständlichen Umgang zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen gibt es letztendlich nur eine Möglichkeit des Lernens, nämlich die alltägliche Begegnung von Kindheit an. Um dies zu ermöglichen sollen diejenigen, die bereits in integrativen Einrichtungen beschäftigt sind, die Idee der Integration gemeinsam in die Tat umsetzen und trotz unterschiedlicher Methoden oder Vorgehensweisen das angestrebte Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Die Arbeit mit behinderten Kindern und deren Eltern eröffnen neue und vielfältige Erfahrungsebenen, die weit über das persönliche Schicksal der zu Betreuenden hinausgehen. Die Mitarbeit in einer integrativen Einrichtung erfordert Persönlichkeiten, die bereit sind, Veränderungen ihres eigenen Selbstverständnisses aufgrund neuer Erfahrungen zu begrüßen. Neben pädagogischem Fachwissen ist vor allem menschliche Kompetenz und das Bewusstsein für eigene Stärken und Schwächen wichtig.
Sozialpolitisches Denken und Handeln über die Einrichtung hinaus ist gefragt. Denn die Mitarbeiterinnen prägen die Haltung ihres gesellschaftlichen Umfeldes in besonderem Maße mit. Von Kolleginnen wird würdevolle Achtung und sensibler Respekt gegenüber allen Menschen und deren Lebensgeschichte erwartet. Mitarbeiterinnen in integrativen Kindertageseinrichtungen haben die Chance, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu erziehen.
Das Zusammenleben und -lernen von Kindern und Erwachsenen vollzieht sich in einem Prozess des "gemeinsamen Tuns am gemeinsamen Gegenstand" im gegenseitigen Geben und Nehmen sowie im Lernen und Erfahren. In einer Atmosphäre, in der individuelle Stärken und Schwächen akzeptiert und selbständige Lernprozesse angestoßen werden, können sich partnerschaftliche Beziehungen, Kreativität und Lernfreude entwickeln. Diese grundlegenden Qualifikationen benötigen alle Kinder für die Bewältigung von Alltag und Zukunft. Die Entwicklung und Förderung dieser Prozesse gehören zu den spannenden Aufgaben integrativer Arbeit.
Pädagogische Grundhaltung
Unter Integration in Kindertageseinrichtungen wird grundsätzlich das Zusammenleben unterschiedlichster Kinder verstanden, d.h. ohne Ansehen von Geschlecht und Nationalität und ohne Ansehen irgendwelcher stigmatisierender Leistungsprinzipien oder anderer aus den Normen fallender Schwierigkeiten und Fähigkeiten. Dadurch werden die Kinder in ihrer Persönlichkeit akzeptiert und gefördert. Sie können in einer Atmosphäre der Offenheit und im gemeinsam gestalteten Alltag individuelle Erfahrungen sammeln, sich entwickeln und aneinander wachsen.
Zielsetzung
Jeder Mensch hat das Recht, innerhalb seiner Gemeinschaft alle seine Fähigkeiten so entwickeln zu können, dass es ihm auch später möglich ist, sozial integriert und nicht am Rande dieser Gesellschaft zu leben. Ziel der Integrationsarbeit ist es, dass alle Kinder gemeinsam aufwachsen können. Sie sollen z.B. nicht wegen einer Behinderung gezwungen sein, ihren alltäglichen Lebensraum zu verlassen. Normalität bedeutet dann, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam spielen, lernen und leben. Die dabei gemachten Erfahrungen bringen eine Veränderung der Einschätzung von Behinderung und daraus resultierend des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Stärken und Schwächen von Kindern und Erwachsenen mit sich.
Die Integrationsgruppe schafft den Raum, in dem das einzelne Kind Entwicklungsschritte nach seinem eigenen Rhythmus machen kann und nicht zu früh in eine bestimmte Richtung festgelegt wird, sondern viele neue Erfahrungen sammeln kann.
Durch die Arbeit in der Integrationsgruppe wird die Aufmerksamkeit füreinander geweckt, das Einfühlungsvermögen vertieft, Akzeptanz und Toleranz aufgebaut. Ein tolerantes Zusammenleben von nichtbehinderten und behinderten Menschen in einer Gesellschaft ist eine Bereicherung für alle.
Schwerpunkte integrativer Arbeit
Pädagogische Prozesse
Grundlage pädagogischen Handelns ist genaues Beobachten und Wahrnehmen des einzelnen Kindes sowie der Gruppe, um dort ansetzen zu können, wo die Fähigkeiten und Bedürfnisse liegen. Voraussetzung dafür ist ständige Reflexion des Beobachteten, des eigenen Handelns und der Reaktion der Kinder. Besondere Bedeutung kommt dem Wahrnehmen und Beachten von Beziehungen der Kinder untereinander und zwischen Kindern und Pädagogen zu.
Ein pädagogischer Ansatz, der sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen aller Kinder in der Gruppe orientiert, ist der Schwerpunkt des " gemeinsamen Lernens am gemeinsamen Gegenstand". Grundvoraussetzung für das Gelingen dieser Arbeit ist gegenseitige Wertschätzung.
Die Professionalität und Qualität dieser Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Prozesse, die sich beim gemeinsamen Spielen und Lernen entwickeln, beobachtet, begleitet, analysiert und dokumentiert werden. Diese Arbeitsweisen vertiefen und intensivieren die pädagogische Wirkung.
Die Arbeit des pädagogischen Fachdienstes
Voraussetzung für heilpädagogische Arbeit ist ganzheitliches, gemeinsames Lernen für Kinder, Team, Eltern und Fachdienste. Dabei ist eigens das Lernen der Kinder voneinander zu berücksichtigen. Es wirkt anregend und heilend auf alle Beteiligten. Dieser Kind-zu-Kind-Ansatz ist so wertvoll, dass seine Wirkungsweise hoch eingeschätzt und in das heilpädagogische Konzept mit einbezogen werden muss. Von daher versteht sich auch, dass es sinnvoll ist, die Förderstunden des Fachdienstes in der Kindergruppe durchzuführen.
Heilpädagogische Arbeit ist prozessorientiert und leistet individuelle Begleitung des einzelnen Kindes. Das Tempo der Lernschritte gibt das Kind vor. Heilpädagogische Arbeit im Fachdienst wird von Heilpädagogen, Sozialpädagogen oder Mitarbeitern der Frühförderstellen durchgeführt. Austausch und Transparenz zwischen dem Fachdienst und dem Gruppenteam ist die Voraussetzung für das Gelingen heilpädagogischer Arbeit.
Dem Konzept für die einzelnen Fördermaßnahmen liegen Beobachtungen und Analysen zugrunde. Es wird gemeinsam mit dem Team und den betroffenen Eltern (Betreuungspersonen) erarbeitet (Hilfeplan). Dieses Konzept wird dokumentiert, im Team und in Elterngesprächen reflektiert und überarbeitet.
Integrationsarbeit ist in besonderer Weise an der Vernetzung zwischen Einrichtung, Gruppe, Behörden und allen Fachdiensten, die an dieser Arbeit mitwirken, interessiert. Voraussetzung dafür ist die Aufgeschlossenheit der Beteiligten. Ein Fachdienst, der sich zur gesamten Einrichtung hin öffnen kann, erreicht, dass heilpädagogische Arbeitsweisen sich über das einzelne Kind hinaus im Team und in der Gruppe etablieren können. Heilpädagogische Ansätze sind letztlich für alle Kinder gut.
Die Vernetzung des Fachdienstes mit der Einrichtung kann unterstützt werden, wenn z.B. Themen aus der Gruppenarbeit in die Arbeit des Fachdienstes aufgenommen werden und umgekehrt. Ebenso ist es sinnvoll, die Fachdienste in die pädagogische Arbeit einzubinden, z.B. durch Einladungen zu Elternabenden, Festen und Feiern.
Bei Bedarf wird zusätzlich der medizinische Fachdienst in Anspruch genommen und in den Alltag der Kindertageseinrichtung mit eingebunden. Dabei handelt es sich um Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten und andere Therapeuten, deren Leistungen über Krankenkassen abgerechnet werden können.
Elternarbeit
Die Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern in der Integrationsarbeit benötigt in besonderer Weise Bedingungen für die Entwicklung einer vertrauensvollen, wertschätzenden Beziehung zueinander. Es ist wichtig, Eltern als Experten ihres Kindes zu sehen und als gleichberechtigt auf dem Weg einer gemeinsamen Erziehungspartnerschaft ernst zu nehmen.
Hans Weiß (in: Gemeinsam Leben, 1/96) spricht von unterschiedlichen Wirklichkeiten bei Eltern und Pädagogen/innen. Sie beeinflussen die Zusammenarbeit und sollten deshalb bewusst gemacht werden. Auf der einen Seite ist die Lebenswirklichkeit der Eltern, mit einem behinderten Kind zu leben. Oftmals sind sie ohne eine Vorbereitung in diese Situation gestellt worden und müssen damit zurecht kommen. Sie erwarten Verständnis und Unterstützung für ihre belastete Situation. Auf der anderen Seite steht die Arbeitswirklichkeit der Fachkräfte, die sich bewusst für die Arbeit mit behinderten Kindern und ihren Eltern entschieden haben. Häufig nehmen sie das Problematische, Nichtbewältigte und Schwierige von Familiensituationen stärker wahr als die gelungenen Versuche der Familie, sich an das Leben mit einem behinderten Kind anzupassen. Eltern erwarten von Fachleuten eine differenzierte, verständnisvolle Wahrnehmung, die neben den Schwierigkeiten auch die Stärken der Familie einbezieht. Soweit sich Fachleute und Eltern in ihren Kompetenzen wie in ihren Grenzen und Problemen wahrnehmen und dies in die Zusammenarbeit einbringen, wird das Verhältnis nicht immer entspannt sein. Doch können sie in einer Erziehungspartnerschaft lernen, mit diesen Spannungen besser umzugehen.
Schließlich ist für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auch wichtig, dass die Fachkräfte sich selbst, den Eltern und den Kindern Zeit und Gelassenheit schenken für die individuelle Entwicklung und das Tempo, in dem sie sich aufeinander zu bewegen. Dazu gehört, den Eltern ihre Trauer oder Wut über die Behinderung ihres Kindes nicht zu nehmen und ihnen so viel Zeit zu lassen, wie sie brauchen, um ihr Kind zu akzeptieren, wie es ist. Druck sollte unter allen Umständen vermieden und das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass nicht alles machbar ist.
Elternarbeit beinhaltet: verschiedene Formen regelmäßiger Kontakte, Beratungsgespräche, pädagogische Elternabende und gemeinsame Aktivitäten, Hausbesuche und, wenn notwendig, Unterstützung bei Behördenkontakten. Gemeinsame Unternehmungen und Feste stärken das Miteinander von Kindern, Eltern und Fachkräften.
Vorrang sollten alle Situationen bekommen, in denen ungezwungene Kontakte entstehen und Vertrauen zueinander entwickelt werden kann.
Es ist es notwendig, auf Selbsthilfegruppen, Elternkreise und Treffs außerhalb der Kindertagesstätte hinzuweisen, in denen sich Fachleute und Eltern zu bestimmten Themen austauschen können.
Aufnahmegespräch: Besondere Aufmerksamkeit kommt dem Aufnahmegespräch zu. In ihm geht es vor allem um eine Abklärung folgender Punkte:
- die Erwartungen der Eltern an die Kindertageseinrichtung,
- mögliche Grenzen für Pädagoginnen und Einrichtung,
- gemeinsame Überlegungen, ob und was zur Aufnahme des Kindes möglicherweise organisiert werden muss.
Öffentlichkeitsarbeit
In einer integrativ arbeitenden Einrichtung bedeutet gemeinsames Leben und Lernen von nicht- behinderten und behinderten Menschen Normalität. Um diesen Gedanken in die Gesellschaft tragen zu können, ist Öffentlichkeitsarbeit unerlässlich. Nur durch ständige Informationen über das Thema und durch die Auseinandersetzung damit kann ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. So wird es schließlich selbstverständlich, dass behinderte Kinder nicht ausgegrenzt werden. Zudem ist Öffentlichkeitsarbeit geeignet, den Prozess integrativer Arbeit und seine Ergebnisse darzustellen und transparent zu machen.
Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit können sein:
- Feste und Feiern,
- Infos für Eltern (auch über die Zeitung), Berichte in der Zeitung über Inhalte und Projekte im Alltag der Kindertageseinrichtung,
- Tage der Offenen Tür,
- Elternmitarbeit,
- Öffnung der Kindertageseinrichtung für Vortragsabende für die Allgemeinheit,
- Podiumsdiskussionen,
- Kontakte zu anderen Institutionen (Frühförderstellen, Jugend- und Sozialämtern, Schulen, Fachakademien etc.) - Vernetzung,
- Darstellung der Kindertageseinrichtung durch Faltblätter, in Fachzeitschriften usw.,
- Teilnahme und Präsentation der Kindertageseinrichtung bei örtlichen Veranstaltungen.
Schlusswort
Integrative Kindertageseinrichtungen haben sich als Lernorte bewährt, an denen ungewöhnliche und kreative Lösungen für das Miteinander-Leben von behinderten und nichtbehinderten Kindern entwickelt werden können. Für Pädagoginnen ist die gemeinsame Erziehung aller Kinder eine faszinierende persönliche, fachliche und gesellschaftliche Herausforderung.
Kontaktadresse
Gudrun Steinack
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