Werner Eitle
Der Begriff Inklusion, der aus dem angloamerikanischen Raum übernommen wurde, beschreibt ein generelles Menschenrecht und kann mit "Einschluss" übersetzt werden.
Seit 2009 ist in Deutschland die UN Behindertenrechtskonvention in Kraft. Die Inhalte der Behindertenrechtskonvention sind verbindlich. Hier, wie auch in der "Salamanca-Erklärung" (einer Weltkonferenz mit dem Thema "Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität" in Spanien 1994), ist der Begriff "Inklusion" in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen.
Ganz allgemein ausgedrückt bedeutet Inklusion zunächst einmal, Unterschiedlichkeit zu erkennen und auch zu akzeptieren. Konzepte einer "Pädagogik für alle" wurden in skandinavischen Ländern und im englischsprachigen Raum (USA, Australien, England) schon länger praktisch erprobt. Je besser eine Schule auf diese Heterogenität reagierte, so die dortigen Erfahrungen, um so mehr profitierten alle Lernenden davon.
Hierzu eine erklärende Fabel:
"Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Der Unterricht bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen, und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet.
Die Ente war gut im Schwimmen, besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittliche Noten waren aber akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer: die Ente.
Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachgiebig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen darin schlug, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden.
Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und musste von der Schule abgehen wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen.
Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ ihn seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr "Dreien" im Klettern und "Fünfen" im Rennen.
Die mit Sinn für's Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in den Unterricht aufzunehmen.
Am Ende des Jahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen und etwas rennen, klettern und fliegen konnte, als Schulbester die Schlussansprache."
(entnommen dem Buch "Legasthenie muss kein Schicksal sein" von E.-M. Soremba, Herder Verlag 1995)
Inklusion will, wie mit der Fabel verdeutlicht wurde, allgemeine Bedingungen schaffen, die dazu führen, dass alle "Tiere" und im übertragenen Sinne alle unsere Kinder inkludiert und damit auch gefördert werden. Jeder soll seine Begabungen und Befähigungen entfalten können!
Inklusion bedeutet demnach Einbeziehung, Dazugehörigkeit von allen. Dies entspricht der UN-Konvention, die im § 24 Folgendes festlegt: "Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen."
Die Europäische Union ist mit der förmlichen Ratifizierung (Januar 2011) der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Vertragspartei des ersten jemals geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags geworden, der die Menschenrechte zum Gegenstand hat. Er soll gewährleisten, dass behinderte Menschen bei der Ausübung ihrer Rechte gleichbehandelt werden. Damit ratifiziert erstmalig die EU als Ganzes einen Menschenrechts-Vertrag. Daneben haben auch sämtliche 27 Mitgliedstaaten den Vertrag unterzeichnet, und 16 von ihnen (wie auch Deutschland) haben ihn bereits ratifiziert
Daraus folgt: "Eine inklusive Schule ist eine, die alle Kinder und Jugendlichen willkommen heißt". Für die Fach- und Lehrkräfte bedeutet Inklusion, Kindern und Eltern unterschiedliche Förderwege und Lebenswege aufzuzeigen, die zu einem selbstbewussten, selbstbestimmten und gesellschaftlich eingebundenen Leben führen sollen.
An dieser Stelle möchte ich auf den Begriff Frühförderung näher eingehen: Maßnahmen der Frühförderung umfassen den Zeitraum der ersten Lebensjahre und können sich bis zum Kindergarteneintritt oder bis zur Einschulung erstrecken. Frühförderung will helfen, wenn kleine Kinder hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung Unterstützung benötigen. Grundlage dieser Hilfe ist ein individueller Förder- und Entwicklungsplan.
Frühförderung in Deutschland ist ein Oberbegriff für Hilfsangebote verschiedener Art, die in Anspruch genommen werden können, wenn Eltern sich hinsichtlich der Entwicklung ihres Kindes Sorgen machen oder wenn bereits eine Entwicklungsbeeinträchtigung oder Behinderung des Kindes vorliegt. Das Auftreten von Behinderungen und deren Folgen soll vermieden, gemildert oder behoben werden.
Frühförderung übt mit Kindern, die eine Beeinträchtigung haben bzw. denen eine Beeinträchtigung droht, relevante Fertigkeiten und fördert motorische und soziale Fähigkeiten mit dem Ziel einer selbstbestimmten, individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Über diese Frühförderung können dann eine soziale Integration und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich werden.
Wenn Kinder mit Beeinträchtigungen dann z.B. Kindertagesstätten oder Schulklassen besuchen, sind bereits grundlegende Fähigkeiten bereits vorhanden. Sie werden durch die Früh- und Schulpädagogik, die die Unterschiede akzeptieren und die Individualität der Kinder unterstützen, weiter ausgebaut. Frühförderung oder Frühe Hilfen stellt somit über pädagogische und therapeutische Maßnahmen sicher, dass der Schul- oder auch der Kindergartenbesuch gelingen kann.
Medizinische, psychologische, heilpädagogische und soziale Hilfen sind dabei unverzichtbare Bestandteile eines ganzheitlichen Hilfekonzepts, in das die Familie mit einbezogen ist (Frühförderung ist eine Komplexleistung nach dem SGB IX). Sie ist
- ganzheitlich (=die ganze Person wird berücksichtigt),
- ressourcenorientiert (=erkennen, was das Kind gut kann),
- bedürfnisorientiert (= so wie die Kinder und Eltern es brauchen) und
- selbstbestimmt (=ltern werden beraten und entscheiden selbst über die Hilfe).
Entscheidend ist dabei das Ziel, Kindern mit besonderen Bedürfnissen alle Möglichkeiten zu eröffnen.
Was ist nun die gesellschaftliche Herausforderung, die mit den Begriffen Inklusion und Frühförderung verbunden ist?
Ein inklusives System im Sinne der UN Konvention ist sicher kein Paradies inmitten einer leistungsorientierten Gesellschaft. Da aber Werte und Normen von unserer Gesellschaft bestimmt werden, ist ein inklusives System eine Chance, dass Menschen mit Behinderungen mitten unter uns leben, lernen und arbeiten können. Es gibt bereits Länder, in denen Inklusion erfolgreich praktiziert wird. So ist z.B. das italienische Bildungssystem seit mehr als 30 Jahren inklusiv. Das heißt, dass alle Kinder in Italien die gleichen Kindergärten und die gleichen Schulen besuchen.
Die gesellschaftliche Herausforderung für eine gelingende Inklusion liegt daher in der Schaffung von
- politischen Voraussetzungen (entsprechende Gesetzgebung z.B. in der Bildungspolitik, vor allem auf Länderebene),
- strukturellen Voraussetzungen (ein Inklusionsbruch, z.B. im Kindergarten ja, in der Schule nein, muss vermieden werden)
- personellen und finanziellen Ressourcen (Frühförderung muss z.B. unkompliziert gewährt werden. Hierzu ein Beispiel: Frühfördermaßnahmen für Kinder auf integrativen Plätzen in Kindergärten sind manchmal nicht möglich, weil der heilpädagogische Bedarf, der durch die Entgelte abgedeckt ist, nicht als Bestandteil der Komplexleistung Frühförderung angesehen wird. Frühförderung wird aber nur genehmigt, wenn in ihrem Rahmen sowohl eine heilpädagogische/ psychologische und eine medizinische Therapie wie Logopädie, Ergotherapie oder Physiotherapie notwendig sind. In dieses Fällen wird beispielsweise argumentiert, dass Heilpädagogik bereits im Kindergarten erbracht wird. Insofern wird Frühförderung oft nicht mehr finanziert, was wiederum dazu führt, dass die Frühförderung die Komplexleistung Heilpädagogik und medizinische Leistungen für diese Kinder nicht anbieten kann).
- zusätzlichen Unterstützungssystemen (z.B. zusätzliche Personalressourcen müssen vorhanden sein)
- gesellschaftlichen Voraussetzungen (ein inklusionsorientiertes Umfeld muss vorhanden sein).
Inklusion ist also eine Aufgabe, die uns alle angeht! Wir müssen sie nur im Sinne von Don Bosco (1) angehen und uns als Gesellschaft auf den Weg machen: "Traue den Menschen anspruchsvolle Ziele zu, und sie werden sich bemühen, deiner Erwartung zu entsprechen" (Don Bosco).
Anmerkung
(1) Johannes Bosco, besser bekannt als Don Bosco, war ein Bauernsohn, der sich nach seiner Priesterweihe um die Arbeiterjugend und um verwahrloste Jugendliche kümmerte. Der Rettung der Jugend galt sein Leben. Er richtete in benachteiligten Stadtvierteln Schulen ein, dazu Heime und Ausbildungsstätten. Die Salesianer Don Boscos sind heute mit 19.000 Mitgliedern einer der größten Männerorden und weltweit in der Erziehung und Betreuung schwer erziehbarer und verwahrloster Jugendlicher tätig.