Christine Schnabl
Begabungs- und Begabtenforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Doch die Förderung von Begabung und von Begabten setzt nicht nur eine Bewusstseinserweiterung bei Pädagog/innen voraus, sie öffnet auch einen weiten Fragehorizont im Forschungsfeld der Pädagogischen Psychologie.
Was versteht man unter Hochbegabung?
Es gibt zahlreiche Definitionen vom Begriff der Intelligenz. Im Allgemeinen versteht man darunter die Fähigkeit, Probleme zu lösen (sprachliche, technische, soziale, mathematische etc.) und Lösungsstrategien flexibel auf neuartige Aufgabenstellungen übertragen zu können (Bingham 1937).
Mittels Intelligenztests (IQ-Tests) werden von Begabungsforschern IQ-Werte bestimmt, die anschließend aufgrund ihrer Stellung in der Normalverteilung einer Intelligenzkurve interpretiert und in unterschiedlichen Abgrenzungen definiert werden: von "Debilität" bis "Hochbegabung" findet sich eine ganze Bandbreite an Qualifizierungen. Der Begabungsforscher Detlef Rost (2000) legt hier die Bezeichnung für Hochbegabung bei einem IQ Wert von >130 fest. Der IQ ist jedoch nur ein Wert für das, was Begabung ausmacht!
Howard Gardner (1991) ist als Entwicklungsforscher mit der "Theorie der multiplen Intelligenzen" bekannt geworden. Er unterscheidet Begabungen oder Intelligenzen in sieben verschiedenen Bereichen, darunter fallen z.B. die linguistische Intelligenz, die musikalische Intelligenz, die logisch-mathematische Intelligenz, die räumliche Intelligenz und die körperlich-kinästhetische Intelligenz. Nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen können diese Bereiche als autonom angesehen werden. Es ist daher möglich, eine oder mehrere partielle Hochbegabung(en) zu entwickeln.
Immer bedeutsamer wurde der Begriff der "Emotionalen Intelligenz" (EQ), der von Daniel Goleman (1996) in seinem gleichnamigen Buch expliziert wurde. Emotionale Intelligenz ist nicht nur Grundvoraussetzung für Kreativität und schöpferische Kraft, sondern auch das "Schmieröl" zwischen den "Zahnrädern" des bloßen Denkens und einer Wissensanhäufung. Sie schafft somit den reibungslosen Übergang von einem Denkmuster in das andere, um das Gesamtsystem, den wissenschaftlichen Prozess, aufrecht zu erhalten und voran zu treiben.
Während der EQ bedeutsam für Empathie, Intuition, Phantasie, Vorstellungsvermögen und Motivation ist, betrifft der IQ Logik, Denkfähigkeit, Merkfähigkeit und Abstraktion. Es liegt daher auf der Hand, dass die alleinige Interpretation von IQ-Werten keinesfalls aussagekräftig sein kann in der Beurteilung einer Intelligenzleistung, zumal empirische Untersuchungen gezeigt haben, dass gerade bei Kindern IQ-Werte untereinander nicht vergleichbar sind.
Wie kann eine frühkindliche Begabungsförderung zur Verbesserung der Situation hochbegabter Kinder beitragen?
Neue theoretische Ansätze in der Begabtenförderung zielen darauf ab, eine begabungsfördernde Umwelt zu erschaffen, die es ermöglicht, eine Fähigkeit (Potential) in Leistung (Performance) umzuwandeln (Oswald 2002). Wirkt die Umwelt hemmend, verkümmern Fähigkeiten; Leistung kann nicht entwickelt werden. Gerade im österreichischen Bildungssystem ist dies besonders ausgeprägt, da es erwachsenen Menschen aufgrund der mangelnden Durchlässigkeit im Bildungssystem kaum möglich ist, einen einmal eingeschlagenen Weg einer Bildungskarriere wieder zu durchbrechen. Bedauerlicherweise führt dies nicht selten dazu, dass begabte Menschen ihre Fähigkeiten nicht nutzen (können). Es liegt demnach auf der Hand, dass eine Begabung dann am besten zur Entfaltung kommt, wenn sie frühzeitig erkannt und gefördert wird.
Wie entstehen begabungsfördernde Lernumwelten?
Entscheidend ist, dass Pädagog/innen eine wohlwollende und optimistische Haltung dem Kind gegenüber einnehmen. Entgegen aller Vorurteile, begabte Kinder seien verschlossene, schüchterne Eigenbrödler, finden sich in großer Anzahl Kinder, die extrovertiert, künstlerisch und ausdrucksstark agieren. Hier gilt es, behutsam und zurückhaltend in der Bewertung dieser Kinder vorzugehen: Kluge Köpfe werden nicht selten als "Besserwisser", "Neunmalkluge" oder "Querulanten" in eine Ecke gedrängt, die sie (gefühlt) als "falsch" und/oder "anders" abstempelt und eine Abwehr- und Rückzugshaltung nach sich zieht.
Aus solchen Resonanzen kann sehr schnell ein selbstwertschwaches, selbstkritisches Selbstbild entstehen. Das "Anders-Sein" durch den Stempel einer Hochbegabung wird dann als persönliche Schwäche empfunden und kann so zur Belastung werden. Die Gabe wird zum Fluch.
Darüber hinaus findet man gerade unter sehr begabten Kindern einen beachtlichen Anteil an hochsensitiven Persönlichkeiten, die sich durch ein sehr affizierbares (d.h. anregbares, erregbares) Nervensystem auszeichnen. Nicht nur im intellektuellen, sondern auch in sensorischen und emotionalen Bereichen werden Reize intensiver und komplexer wahrgenommen und sorgen so sehr schnell für Reizüberflutung. Oftmals sind diese Menschen sehr geräusch-, lärm- oder lichtempfindlich. Ruhefördernde Elemente im Kindergartenalltag helfen bei der Emotionsregulation und leisten einen wertvollen Beitrag für die emotionale Entwicklung dieser Kinder.
Welcher Kindergarten ist richtig für mein hochbegabtes Kind?
Prinzipiell ist jeder pädagogisch gut aufbereitete Kindergarten der richtige, sofern die Pädagog/innen feinfühlig, reflektiert und intrinsisch motiviert ihrer Arbeit nachgehen. Sicherlich ist auch das Fachwissen über Bindungstheorien, Entwicklungstheorien und Kommunikationstheorien ein entscheidender Faktor für das Gelingen einer begabungsfördernden Umgebung. Weiter können nachfolgende Aspekte zu einem gelungenen Miteinander und einer nachhaltig gelungenen Lernkultur und Persönlichkeitsbildung beitragen.
Authentische, anregende Lernumgebungen schaffen
Begabte Kinder denken, fühlen und handeln oftmals anders als Gleichaltrige (zum Erstaunen anderer Beteiligten). Es fällt ihnen schwer, nicht "kompliziert" zu denken, und sie gehen davon aus, dass andere dies auch tun. Oftmals ist die Verblüffung groß, wenn ihre Denkmuster auf Unverständnis stoßen, weil andere sie als "abstrakt" oder "umständlich", möglicherweise sogar als "unwichtig" abtun.
Pädagog/innen in authentischer Lernumgebung lassen Raum für Verwunderung, sprechen Irritationen an, fragen nach und interessieren sich für scheinbare Kleinigkeiten, auf die sie aufmerksam gemacht wurden. Die Haltung dem Kind gegenüber muss von Respekt, einer Fülle an Feinfühligkeit und einer großen Bandbreite an Verständnis genährt sein! Denn nur so kann es diesen hochsensitiven Persönlichkeiten gelingen, Vertrauen in ihre Umgebung zu gewinnen, um diese zum Schauplatz ihrer inneren Bestrebungen zu machen.
Projekte zur Förderung kreativ-intellektueller Arbeitsstile
"Der unerträgliche Konflikt beweist die Richtigkeit ihres Lebens. Denn ein Leben ohne inneren Widerspruch ist erst das halbe Leben...", schreibt Carl Gustav Jung und könnte nicht schöner ausdrücken, wie zwingend notwendig die Entdeckung neuer Denkmuster für begabte Menschen ist. Zu schnell werden sonst Langeweile und Destruktivität zum ständigen Begleiter, zum Dirigenten eines Orchesters, das längst nicht mehr aufeinander abgestimmt spielt. Doch Kinder und auch Erwachsene verspüren oftmals große Erleichterung, wenn geistige Tätigkeit mit kreativen Tätigkeiten abgewechselt wird. Hierfür finden sich viele Gestaltungsmöglichkeiten: freies Malen oder punktgenaues Zeichnen, Experimentieren mit Musik, Tanz, Ton, Basteln, Blumenbeete gestalten etc.
Die Kunst besteht lediglich darin, den Kindern den Raum zu geben, selbst entscheiden zu dürfen, was gemacht wird. Eine begabungsfördernde Lernumgebung bietet daher Workshops, Kurse und Projekte in regelmäßigen Abständen an, deren Ziel es ist, die Kreativität des Kindes zu wecken.
Organisation in Interessensgruppen
Immer wieder gestalten sich Alltagssituationen in Kindergärten als schwierig, wenn Interessen und Vorwissen der Kinder stark auseinander klaffen. Hier helfen Gruppeneinteilungen: Geht die Gruppe ins Schwimmbad, dürfen einige Kinder die Wegstrecke planen, andere sortieren Handtücher. Beide Gruppen leisten so einen wertvollen Beitrag für das Gesamtgelingen des Projektes; jedes einzelne Kind kann sich seinen Bedürfnissen entsprechend verwirklichen.
Wichtig: Kinder sollen sich selbst einschätzen und sich ihrer Arbeitsgruppe anschließen. Es ist nicht die Aufgabe von Pädagog/innen, "lenkend" einzugreifen und Kindern bei ihrer Selbsteinschätzung behilflich zu sein! Der Impuls, der vom Kind ausgeht, soll wahr- und ernstgenommen werden. Wenn sich nach persönlicher Entscheidung Interesse und Lernumwelt aufeinander eingestellt haben und der gewünschte Erfolg - nämlich der einer erbrachten Leistung - eintritt und auch als solcher honoriert wird, steigt das Selbstbewusstsein des Kindes.
Integration fördern
Begabte Kinder in Gemeinschaften zu integrieren ist spannend: Oft haben Kinder schon Ablehnung und/oder Unverständnis erfahren und verfolgen dann das, was wir unter "faustischem Handel" verstehen: die selbstgewählte Isolation als bewussten Preis für das totale Aufgehen in einer selbstgewählten Sache. Obgleich dies eine Erscheinung ist, die sich zunehmend im späteren Kindesalter bemerkbar macht, sei auch in der Kindergartenzeit schon sorgfältig darauf geachtet, dass diese "Auswegsszenarien" nicht zu gängigen Verhaltensmustern werden.
Auch hier gilt es, wahres Interesse an der Persönlichkeit des Kindes zu zeigen. Oftmals hilft Kindern die Erfahrung, dass es zumindest eine Person gibt, die ähnlich empfindet.
Schlusswort
"denkvorsprünge haben den nachteil, dass sie wissensvorteile erzeugen. vom gewussten ende her agieren ist dann zwar einfach, den zwischenraum zum wissensbenachteiligten auszufüllen ist allerdings ein ding der unmöglichkeit" (Ch.Schnabl).
Literatur
Bingham, W.: Aptitudes and Aptitude Testing. New York: Harper 1937
Gardner, H.: Abschied von IQ. Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen. Stuttgart: Klett-Cotta 1991
Goleman, D.: Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ. München: Hanser 1996
Oswald, F.: Begabtenförderung in der Schule - Entwicklung einer begabtenfreundlichen Schule. Wien: Facultas 2002
Rost, D. (Hrsg.): Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Münster: Waxmann 2000)