Hochbegabte Kinder - Praxisbericht aus einem normalen kommunalen Kindergarten

Aus: BMW Group (Hrsg.): Kleine Kinder - Große Begabung. Hoch begabte Kinder erkennen und fördern. Möglichkeiten und Grenzen des Kindergartens. München: BMW Group 2000, S. 147-163  

Gretel Michelfeit

Ralf

Ein Kind, das vor 16 Jahren in unseren Kindergarten kam, kann ich nicht vergessen. Ralf (Pseudonym) war 3 Jahre alt, als er aus einer Kinderkrippe zu uns kam. Vom ersten Tag an war seine Sprachbegabung auffällig. Nach kurzer Eingewöhnungszeit begann uns Ralf mit unendlichen Fragen über das Weltall zu löchern. Er wollte ergründen, wie die Sterne da oben leben. Er fragte auch die anderen Kinder, die ihn jedoch nicht verstanden und sich bald zurückzogen. Auf unserer Galerie im Gruppenraum baute er Himmelskörper und schwebte mit ihnen in die Galaxie. Immer hatte er etwas zu tun und musste viel nachdenken. Zum regelmäßigen Vorlesen für die größeren kam er mit Begeisterung mit, aber sonst führte er am liebsten ein Einsiedlerleben auf der Galerie. Er klagte oft, dass es ihm unten zu laut sei. Zeitweise schloss er sich an ältere Kinder an, doch die Freundschaften dauerten nie lange. Er baute Raumstationen, sprach mit den Sternen, und beim Besuch des Nikolaus im Kindergarten fing er eine lange Diskussion mit ihm an über Fixsterne und die Milchstraße. Wir besorgten einschlägige Bücher und Lexika, in die er sich vertiefte. Gespräche mit der Mutter bestätigten Ralfs Interessen und Neigungen. Darauf angesprochen, dass ihr Sohn keinen Freund will, meinte die Mutter, sie lebe ja auch allein. Sie erzählte, dass Ralf gerne in den Kindergarten komme und traurig sei, wenn er am Wochenende zuhause bleiben müsste. Soweit es möglich war, ließen wir ihm seinen Freiraum, suchten Vorleselektüre, die seinen Interessen entgegenkamen und Ralf genoss es.

Mit Eintritt in die Schule begann sein Leidensweg. Er war gut 6 Jahre alt, hatte große Probleme, den Stift zu halten, schreiben wollte er gar nicht, dafür war er im Kopfrechnen genial, und seine Sprachbegabung nach wie vor auffällig. Wie im Kindergarten war er auch in der Schule ein sehr ruhiges, "unauffälliges" Kind. Da er die Leistungen, die die Schule forderte, nicht erbrachte, gab es viele Gespräche zwischen Mutter und Lehrer. Schließlich kam Ralf zu einer Langzeituntersuchung in die Uniklinik (Kinder- und Jugendpsychiatrie). Es wurde ein IQ von 150 festgestellt, und verschiedene Therapieformen wurden vorgeschlagen und auch durchgeführt. Heute, mit 19 Jahren, ist er auf einem kleinen Privatgymnasium und versucht, den Abschluss der mittleren Reife zu schaffen. Er lebt intensiv mit seinem Computer bei seiner Mutter.

Oft mache ich mir Gedanken über Ralf. Hätte es damals schon die Möglichkeit der Vernetzung mit anderen Diensten gegeben, vielleicht wäre es uns gelungen, die Mutter zu überzeugen, dass sie beide Hilfe brauchen und wir als Kindergarten es nicht schaffen, Ralf die Hilfe zu geben, die er gebraucht hätte. Heute, nach 10 Jahren Zusammenarbeit mit einer Frühförderstelle, glaube ich, Ralfs Weg wäre leichter gewesen, hätten wir kompetente Hilfe zur Verfügung gehabt.

Ralfs Umfeld

Eine allein erziehende Mutter, die angeblich mit ihrer Situation zufrieden war. Ein für Ralf bis heute unbekannter Vater. Die Zeit im Kindergarten mit viel Freiraum, jedoch leider nicht mit der Hilfe, die er gebraucht hätte.

Wie können oder sollen die Menschen und der Kindergarten sein, in dem Kinder Persönlichkeiten sein dürfen, sich entfalten und ihren Fähigkeiten gemäß entwickeln können?

Mir erscheint es wichtig, günstige Bedingungen ungünstigen gegenüberzustellen. Wie soll ein positiver Erzieher oder Partner - oder wie auch immer genannt - sein, um Kindern und Eltern Modelle und Begleitung in ihrer Entwicklung zu sein? Drei Voraussetzungen für eine positive Beziehung zwischen Erzieher, Kind und Eltern sind besonders wichtig:

  1. Einfühlendes Verstehen in die Welt des Kindes, genaues Beobachten, Unterstützung, Zusammenhänge verstehen, aber auch Grenzen setzen als Hilfe für das Kind
  2. Das Kind in seiner Persönlichkeit wert schätzen und akzeptieren, in dem festen Glauben, dass jedes Kind Kräfte und Fähigkeiten in sich trägt und der Erzieher (auch Eltern) nur Begleiter ist und den nötigen Rahmen schaffen kann.
  3. Echtheit - damit meine ich, dass beim Begleiter das, was er meint und tut, mit dem übereinstimmt, was er sagt und denkt.

Kinder brauchen Menschen, die fühlen, betroffen oder hilflos sind und dies zeigen können, die Humor haben, sich freuen können, liebevolle lebendige Menschen, denen sie vertrauen können, Menschen, die halten und loslassen können, die von und mit Kindern lernen und für die die Arbeit mit Kindern und Eltern eine wichtige Aufgabe ist.

Ein Text von Maria Montessori ist mir wichtig: "Nur das Individuum, das sich selbst mit Hilfe seiner eigenen Tätigkeit aufbauen und jene wahre, mächtige und von seiner eigenen Natur gewollte Energie wiederfinden kann, lässt die normalen Eigenschaften in sich wieder aufstehen."

Wir brauchen Erzieher und Eltern, die dem Kind dabei helfen!

Welche Möglichkeiten hat ein Kind, wenn es frei wählen kann und dabei die Achtung, das Interesse des Erziehers in seine eigenen Fähigkeiten spürt?

Dabei fällt mir der vierjährige Martin ein, der aus Fröbel-Bausteinen einen Turm baute. Immer und immer wieder krachte er ein. Unermüdlich versuchte er es. Eine Kollegin saß in der Nähe und signalisierte ihm stumm Zustimmung: Du schaffst es! Sie hätte ihm helfen können, aber wäre das nicht Bestätigung seines Unvermögens und ihres Besserkönnens gewesen? Martin wusste, dass er es schafft. Und tatsächlich, nach gut einer Stunde war der Turm ca. 1 m hoch. Er sollte unbedingt stehen bleiben, da er morgen weiterbauen wollte. Der Vater musste ihn beim Abholen anschauen. Am nächsten Tag kam Martin schon ganz früh in den Kindergarten (er war sonst nie vor 9 Uhr da); er hatte ja etwas Wichtiges zu tun, denn sein Turm sollte so hoch werden wie der von den großen und dann lange stehen bleiben.

Wie viele Erfahrungen, welche Konzentration und wie viel Bestätigung hat Martin bekommen, indem er selbst erfinden, gestalten durfte! Er bekam die Zeit dazu und von den "Großen" die Anerkennung. Sein Turm stand zwei Wochen und alle achteten ihn und spielten darum herum.

Im Frühsommer buddelten fünf Buben unterschiedlichen Alters im Garten Steine aus. Zwar an einer Stelle, wo es aus Sicht von uns Erwachsenen nicht unbedingt günstig war. Doch unsere Neugier, was das werden sollte, war größer als der Ordnungssinn. Sie schleppten in vielen kleinen Eimern die schweren Steine in den Waschraum, um sie unter der Dusche mit Seife und Bürste zu waschen. Auf meine Frage, was das wird, erklärte mir Thomas (Pseudonym): "Das wird eine italienische Mauer und die bauen wir im Zimmer"! Ich versorgte sie mit einer Menge Trockentücher. Als die Steine abgetrocknet waren, wurden sie auf Rollbrettern - eigentlich für den Möbeltransport vorgesehen - in den Gruppenraum transportiert, und das Bauen konnte beginnen. Alle Fünf waren mit Begeisterung dabei und nach vier Tagen emsigen Bauens und Konstruierens stand eine tolle Mauer, ohne Mörtel, nur aus unterschiedlich großen Steinen. Unsere Begeisterung war groß.

Während der tagelangen Arbeit trugen die Buben manche Konflikte untereinander aus. Uns brauchten sie dabei nicht. Sie wollten ja ihr eigenes Ziel - den Bau einer Mauer, wie sie Thomas in Italien sah - erreichen, und da waren alle gefragt. Wie viele Ideen wurden da von den Kindern entwickelt, welche Planungen waren nötig? Alles ohne unsere Hilfe. Wir waren nur Begleiter. Vor Begeisterung über das Werk der fünf Buben kauften wir uns das Buch von Paul Maar "Türme". Es ist bis heute ein sehr begehrtes Buch.

Ungünstige Bedingungen

Weniger günstig für Kinder erscheint mir, wenn wir mit Überzeugung Lern- und Entwicklungsziele immer mit der Formulierung "Die Kinder sollen sich wohl fühlen. Die Kinder sollen lernen" verbinden. Wenn der Erzieher sie durch ein Programm verändern will, ihnen nur auf diesem Weg etwas beibringen möchte; wird er sein Ziel kaum erreichen. Der Erzieher muss sich aus der Rolle befreien, dass er der Erwachsene ist, der weiß, was für die Kinder besser ist. Der Erwachsene - ohne Beteiligung des Kindes, um das es geht - bestimmt, wo und was gemacht wird, weil es im Plan steht; er bestimmt das Entwicklungstempo, weiß, welche Interessen das Kind zu welcher Zeit zu haben hat.

Wo können Kinder sich als wertvoll, als bedeutungsvoll erleben, wenn sie bei der Planung nicht beteiligt werden? Wo bleibt ihre Eigenart, ihre Einmaligkeit, ihre Begabung in vielerlei Hinsicht?

Es verkehrt sich ins Gegenteil. Sie verlieren die Lust am "Selbermachen" und lassen sich "bespielen", "belehren", werden passiv, aggressiv, gelangweilt, frustriert und für Erzieher und Eltern zu Problemkindern. Ganz oft äußern sie: "Ich kann es nicht, mein Papa baut den Turm besser, meine Mama malt schöner, mach es Du, ich will nicht ...".

Wie sollen Räume sein, in denen Kinder bestmögliche Bedingungen vorfinden?

Sie müssen gar nicht besonders edel ausgestattet sein, nur viel Raum bieten. Möbel, die man verändern kann, verschiedene Ebenen mit Treppen, kleinere Nebenräumen, wenn Kinder allein sein wollen. Räume, die man verdunkeln kann, für verschiedene Experimente. Einen großen Raum zum Turnen, einen Garten mit Wasser, einen Berg, viel Platz zum Laufen, Fußball Spielen, Bäume zum Klettern, ganz viel Sand zum Bauen, Buddeln, Matschen, und wenn möglich ein Eckchen für Gartenbeete zum Bepflanzen mit den Kindern.

"Leben ist Bewegung"! Durch Bewegung kommen Kinder zu einer Fülle von Erfahrungen. Sie sind neugierig und aktiv. Durch Bewegung nehmen sie sich selbst und ihre vielfältige Umwelt wahr, erkunden sie, passen sich ihr an oder machen sie sich passend.

Felix, der Baumeister, verlegte mit Vorliebe seine Bautätigkeit auf die Galerie, denn dort konnte er mit seinem Freund Sebastian ungestört tage- und oft auch wochenlang Pläne für seine Bauwerke zeichnen, entwickeln, konstruieren und mit Basti Besprechungen abhalten. 1999 machte Felix Abitur und möchte gern Architektur studieren.

Von drei Sechsjährigen wurde der Schlafraum, den man verdunkeln kann, gerne benutzt, um mit Licht und Schatten zu experimentieren. Die durchscheinende Bespannung der Betten wurde als Bühne genutzt. Zwei der Kinder dichteten die Texte, die dann gesungen und nach Eigenkompositionen vorgetragen wurden. Die Figuren borgten sich die Kinder von einem Schattentheater aus, das wir vor langer Zeit für sie gespielt hatten. Alle Kinder und Erzieher, die wollten, wurden zur Aufführung eingeladen.

Wenn man überlegt, wie viele Ideen die Kindern hatten! Sie benützten nur eine gewöhnliche Taschenlampe und zwei Betten. Jeder hatte seinen Aufgabenbereich, alles haben sie selbst gemacht. Wie viele Erfahrungen brachte ihnen das Theater, welche Sicherheit und welche Fähigkeiten waren dazu nötig!

Andi

Vor drei Jahren kam der knapp vierjährige Andi (Pseudonym) in den Kindergarten. Er war in einer Kinderkrippe, wurde dort von der Lebenshilfe betreut, da er eine Behinderung hat. Anfangs war er stumm, wollte mit keinem sprechen, bewegte sich wenig, aß nur sehr gerne. Nach einigen Wochen entdeckte er die Treppe im Gruppenraum und begann, ganz vorsichtig zu klettern. Behutsam ging der die Treppe hinauf und hinunter. Bald kroch er auf allen Vieren hinauf und kopfüber wieder hinunter, ging später Fuß um Fuß die Geländersprossen innen hinauf und hinunter. Nach langer Zeit traute er sich, außen am Geländer entlang zu klettern, als Höhepunkt für ihn, die Kinder und uns. Auf halber Höhe kletterte er über das Geländer. Zur selben Zeit etwa fing er an, mit uns und den Kindern zu sprechen. Die Kinder waren anfangs Andi ablehnend und auch abwartend gegenüber. Dies schlug in Bewunderung um, weil er ein so guter Kletterer wurde. Alles, was mit Bewegung zu tun hatte, interessierte ihn, und trotz seiner Größe und seines Gewichts wurde er bald bester Seilspringer, konnte hervorragend Bälle fangen, spielte Fußball und übte verbissen, mit einem Rollbrett unter den niedrigsten Stangen durchzufahren. Er wurde ein Geschicklichkeits- und Bewegungskünstler.

Wer hätte bei seinem Kindergarteneintritt an diese Fähigkeiten in ihm gedacht? Anfangs wurde überlegt, ob er in eine Sondereinrichtung soll. Die Mutter, mit ihrem Glauben an den Sohn, setzte sich durch. Wir, aus dem normalen Kindergarten, suchten mit Hilfe der Sprach- und Ergotherapeutin nach Möglichkeiten, die wir Andi bieten konnten. Nach intensiver Beobachtung bekam er einen großen Bewegungsfreiraum, den er nach seiner Entwicklung und nach seinen Fähigkeiten zu nutzen wusste. Die anderen Kinder halfen ihm als unbewusstes Vorbild. Inzwischen ist er voll anerkanntes Gruppenmitglied. Wären in einer Sondereinrichtung so viele Anregungen von anderen Kindern möglich gewesen? Hätten seine (Hoch-)Begabungen die richtige Förderung erfahren?

Ungünstige Räume für Kinder

Äußerst ungünstig sind Räume für Kinder, die zwar sehr edel und kostbar ausgestattet sind, in denen sich die Kinder aber kaum bewegen können oder dürfen, weil ja etwas kaputt gehen könnte. Oder die Räume sind so überfüllt mit Tischen, Stühlen, Schränken, dass man sich kaum bewegen kann. Ein wunderschön angelegter Garten mit unzähligen fertigen Spielgeräten, die man nicht umfunktionieren kann, auf denen oft nur sitzen möglich ist. Was entgeht Kindern, wenn ihnen die so nötige Bewegung fehlt und die Anregung zu kreativen Spielen?

Ein Stück Leben

Wie können Kinder mit Raum und Material Erfahrungen machen, wenn sie beides nicht haben? Die vielfältigen Begabungen kommen nicht zur Entfaltung. Vielmehr werden die Kinder unruhig, unzufrieden, aggressiv oder passiv, in ihrer Entwicklung gehemmt.

Der im Kindergarten unendlich bewegungsbedürftige Lorenz (Pseudonym) ist jetzt in der ersten Klasse. Seine Lehrerin hält ihn für hochbegabt. Bei uns hatte er oft mit anderen Kinder Schwierigkeiten. Nach wiederholten Gesprächen mit ihm verordnete er sich selbst einige Runden Laufen im Garten oder im langen Gang. Nach seiner Eigentherapie fing es an, ihm besser zu gehen. Das lange Sitzen in der Schule war für ihn Qual, er wollte wieder zu uns in den Kindergarten. Die Lehrerin fand jedoch einen Weg zu ihm. Seine Eltern bewohnen eine kleine schöne Wohnung in einer "kinderfreundlichen" Wohnsiedlung mit einem sehr gepflegten Innenhof, in dem man ganz wenig darf.

Welche Rolle spielt für Kinder und in einem Kindergarten die Zeit?

"Kindheit ist Zeit zum Verschwenden" (Piaget). Kinder finden viele Dinge sehr wichtig, denen wir überhaupt keine Bedeutung beimessen. So wollen sie manchmal etwas fertig malen, zu Ende bauen, noch ein wenig sitzen und betrachten oder nachdenken, auf den Weg schauen, wo wir gar nichts sehen oder erkennen... Zeit ist für Kinder unendlich wichtig, denn sie haben Zeit, nur die Erwachsenen sehen das anders.

So haben sie Zeit, um ein Bauwerk zu beenden, ein Experiment zu machen, eine Idee auszuprobieren, beim Vorlesen noch etwas länger zuzuhören, weil es gerade so spannend ist, um Geschichten auszudenken, und um Angefangenes zu Ende zu denken...

In unserem Kindergarten erfinden und erzählen die Kinder schon seit vielen Jahren Geschichten. Dabei wurden hervorragende Geschichtenerzähler entdeckt. Einer davon war der sechs Jahre alte Florian, der in einem Stück, ohne Pause, eine fantastische Gruselgeschichte erzählte (reif für ein Filmmanuskript). Er redete und redete, ich konnte gar nicht so schnell mitschreiben. Geduldig wiederholte er Wörter oder Sätze, wenn ich zu langsam war. Nach einer Stunde konzentrierten Diktierens war die Geschichte fertig. Da er ein Buch daraus machen wollte, musste ich sie mit der Maschine schreiben, und als Titelbild suchte er sich ein gruselig schönes Bild von Arcimboldo. Es passte alles! Wenn man überlegt, welche Konzentration der Sechsjährige, welche Sprachgewandtheit und Fantasie er aufgewandt hat, und wie wichtig es für ihn war, die Geschichte genau zu diesem Zeitpunkt zu erzählen!

Ein anderer Florian aus der selben Gruppe, sehr lebhaft, immer in Bewegung, fand ebenfalls Ruhe und Zeit beim Geschichtenerfinden. Eine war spannender als die andere, und jede wurde mit Zeichnungen ausgeschmückt. Eines Tages wollte er einen harten Karton, weil er etwas Wichtiges malen musste. Wir waren neugierig. Er fing an zu zeichnen, und es entstanden ganze Landschaften. Nach gut einer ¾ Stunde wollte er uns eine Geschichte dazu erzählen. Eine Kollegin schrieb mit. Am nächsten Tag machte er aus seinem Bild und der Geschichte (er konnte sie wortwörtlich auswendig) ein Spiel mit Spielregeln, das er zusammen mit Freunden viele Male voller Begeisterung spielte.

Vor Jahren, während des Golfkrieges, den die Kinder über Nachrichten, Zeitungsüberschriften und Gespräche von Erwachsenen mitbekamen, beschäftigte sich Thomas mit einer Lösung des Krieges. Er wollte dem allen ein Ende machen. Er hatte folgenden Vorschlag: "Wenn in den Fabriken keine Waffen mehr gemacht würden, könnten die Soldaten nicht schießen. Aber die Leute, die dort arbeiten, wären ja dann arbeitslos und würden nichts verdienen. Also müsste man etwas anderes herstellen. Vielleicht Juckpulver oder Guttis oder Spielsachen!"

Wir wollten mit einer kleinen Gruppe ins Paläontologische Institut fahren - einem Lieblingshaus der Kinder. Beim Umsteigen nahmen wir jedoch die U-Bahn in die verkehrte Richtung. An der zweiten Station merkte ich, dass wir verkehrt fuhren, und wir stiegen aus. Tobias, damals fünf Jahre alt, schlug vor, einmal an die Oberfläche zu fahren, um nachzusehen, wie es da aussieht. Oben angekommen, las er uns vor: "Kolumbusplatz". Gleich fing er an zu erzählen, wer Kolumbus war, und die anderen hörten fasziniert zu, als er von den Indianern und der Entdeckung Amerikas berichtete. Tobi meinte: "Dabei hat er sich nur verfahren, wie wir!" Wir fuhren anschließend doch noch zu den Sauriern, aber Kolumbus ließ die Kinder nicht mehr los. Es entstand daraus ein langes, spannendes Projekt, zu dem Kinder und Eltern unendlich viel beitrugen. Wir feierten mehrere Feste, die alle mit Kolumbus, den Indianern und den von Kolumbus mitgebrachten Kartoffeln zu tun hatten.

Welche Begabungen werden entdeckt, welche Sicherheit bekommen Kinder und welche Achtung erhalten sie von uns - auch von den anderen Kindern -, wenn man ihnen und sich nur Zeit lässt, gut beobachtet und den Kindern zuhört. Welche Bereicherung für eine ganze Tagesstätte können Kinder sein, wenn man sie lässt und das Umfeld schafft, in dem dies alles entstehen kann.

Was kann man alles mit einem starren Zeitplan verhindern?

Wo bleibt die Spontaneität? Ist es denn für ein Kind so wichtig, dass genau um 9.00 Uhr gemeinsam gespielt, gebastelt oder gelernt wird? Oder hat ein Kind nur um 10.00 Uhr Hunger oder Durst? Müssen wir den Kindern und uns solche Zeitzwänge auferlegen? Kinder akzeptieren Regeln und Zeitpläne, wenn sie für sie durchschaubar sind. Sie lernen damit umgehen. Später im Leben müssen sie es noch lange genug. Lassen wir sie jedoch, wie Piaget sagt, mit Zeit verschwenderisch umgehen.

In einem Elternratgeber heißt ein Kapitel: "Förderung beginnt in der Familie". Vor kurzem sprach ich mit einem ehemaligen Kindergartenkind. Mathias wird 14 Jahre alt, besucht die 7. Klasse an einem Gymnasium. Seine mathematische Begabung, seine Sprachgewandtheit und sein großes Allgemeinwissen waren bei uns schon auffällig. Er hat bereits zweimal den Mathematikpreis seiner Schule gewonnen, ein Überspringen der Klasse hat er abgelehnt. Er findet es besser, mit seinen Freunden zusammen zu sein, und die Eltern respektieren seinen Wunsch. Er schätzt es sehr, dass seine Eltern ihn nicht gedrängt haben, sondern ihm vertrauen und ihm Zeit lassen, Fußball zu spielen, was ihm immer noch sehr wichtig ist.

Elternarbeit

Elternarbeit bedeutet für mich Zusammenarbeit mit Eltern, Entwicklung einer Vertrauensbasis, Austausch zwischen Eltern und Erziehern, Einbeziehung in die Alltagsarbeit, Einzelgespräche, Treffen in Kleingruppen, Elternabende, den Eltern zeigen, dass sie im Kindergarten willkommen sind. Wir führten viele Einzelgespräche mit Eltern, ganz oft, um sie zu beruhigen. Gegen Kindergartenende kamen manchmal Mütter und sorgten sich, dass ihr Kind schon lesen oder gar schreiben könnte. Was wird denn dann in der Schule sein, es wird sich langweilen? Ein Mädchen, das bereits mit fünf Jahren lesen konnte, hatte sich im letzten Kindergartenjahr selbst das Schreiben beigebracht. Plötzlich in der 1. Klasse konnte es laut Lehrerin nicht mehr lesen. Die Mutter wurde in die Sprechstunde gebeten. Die Lehrerin erzählte der erstaunten Mutter, dass die sonst sehr kluge Schülerin noch nicht lesen könne. Die ungläubige Mutter sprach zuhause mit ihrer Tochter darüber und nach längerem Zögern erzählte ihr das Mädchen von folgender Äußerung der Lehrerin: "So kluge Kinder, die schon lesen können, mag ich gar nicht". Das Mädchen wollte von der Lehrerin gemocht werden, also zeigte es nicht, dass es schon lesen konnte. Nach erneuter Rücksprache klärte sich die Angelegenheit auf, und der Lehrerin wurde bewusst, wie vorsichtig man mit Äußerungen umgehen sollte.

Häufig gestalteten wir die Elternabende so, dass Mütter und Väter durch eigenes Tun Selbsterfahrungen machen konnten. Einstieg in solche Abende war oft ein bekanntes Märchen, von einer Kollegin erzählt, von einer anderen für die ausländischen Eltern in deren Muttersprache übersetzt. Es dauerte nicht lange, der Bann war gebrochen. Manchmal - vor Weihnachten - haben wir mit den Eltern Lebkuchen gebacken und verzehrt. Der Duft des Gebäcks weckte Kindheitserinnerungen, und die Diskussion begann. Über das Erzählen aus ihrer Kindheit wollten wir die Eltern bestärken, ihren Kindern mehr Freiraum zu geben, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen, so wie es ihnen, als sie Kinder waren, geschah. Manchmal gab es sehr traurige Schicksale, da war das Verständnis und die Bestärkung noch nötiger.

Themen wie Malen, Singen oder Tanzen kamen unseren ausländischen Eltern entgegen, da sie Referate in Deutsch nicht so gut oder gar nicht verstanden hätten. Ich erinnere mich an einen Elternabend mit den Angeboten "Mit Ton arbeiten, Geschichten erfinden, oder einfach mit denselben Materialien spielen, wie es die Kinder tagsüber taten". Eine sehr stille, zurückhaltende Mutter aus Uigurien wählte Ton für sich. Unter ihren Händen entstanden wunderschöne Tiere, und die so stille Mutter begann, aus ihrer Heimat, von ihrer glücklichen Kindheit und auch von der weiten, weiten Flucht zu erzählen. Da die Mutter außer chinesisch auch türkisch konnte, wir eine Kollegin hatten, die türkisch sprach, übersetzte sie uns die Erzählung der Mutter.

Ihr Sohn, bei uns im zweiten Jahr im Kindergarten, war bisher wenig zugänglich, oft aggressiv, taute aber nach dem Elternabend auf. In tadellosem Deutsch erzählte er uns Geschichte um Geschichte. Eine weitere Begabung hatte er im mathematischen Bereich. Zu unser aller Begeisterung gestaltete er seine Geschichten noch mit wunderschönen Zeichnungen aus.

Begeistert nahm die Mutter das Angebot von 10 kg Ton für freies Arbeiten zuhause an. Die Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die sie an diesem Abend erhielt, stärkten Mutter und Sohn.

Noch lange nachher erzählen manche Mütter von den "Müttertreffs". So nannten wir Treffen von 12-15 Müttern. Ein schön gedeckter Tisch, Kaffee, Tee und selbst gebackener Kuchen warteten auf die Mütter am Nachmittag. Die Kinder konnten selbstverständlich mitgebracht werden, auch jüngere Geschwister. Sie wurden von Kolleginnen betreut. In entspannter Atmosphäre wurden verschiedene Themen diskutiert. Beim ersten Mal waren einige Mütter noch ganz still, aber mit der Wiederholung der Nachmittage trauten sich auch ausländische Mütter. Es waren eigentlich Selbsthilfegruppen, die den Müttern gut taten. Interessant war zu hören, welche Möglichkeiten Kinder in anderen Ländern haben. Langsam wuchs bei uns allen Verständnis für einander.

Wünsche für die Weiterentwicklung zu Kindertageseinrichtungen (damit sie Platz bieten, auch für hochbegabte Kinder)

  • Kinderhäuser, in denen Bewegung, Experimentieren, Rückzug, eigenes Gestalten und vieles mehr möglich ist - eine Forderung an Architekten und Träger!
  • Menschen, die Kinder verstehen, ihnen Zeit geben, ihnen Halt geben, aber sie auch gehen oder loslassen können und nicht immer alles wissen müssen - eine Forderung an uns alle und vor allen Dingen an die Ausbildung.
  • Geld für Ausflüge, zu Theaterbesuchen, um Künstler in den Kindergarten einzuladen, vielleicht für einen kindergarteneigenen Kleinbus? Sponsoren gefragt!
  • Geld für ...
  • Dringend nötig sind: Erzieher, Lehrer, Eltern und Politiker, die sich wesentlich mehr für Kinder einsetzen, damit auch wirklich große Begabungen bereits im vorschulischen Bereich entdeckt, wachsen und gestärkt werden können!

Drei ehemalige Kindergartenkinder - drei davon hochbegabt?

Bei einem Treffen mit Ehemaligen und deren Eltern durfte ich erleben, wie ihr weiterer Lebensweg verlaufen war. Sie sind heute zwischen 21 und 25 Jahren alt. 1980 Kindergarteneintritt. Drei Buben, schon vor Kindergarteneintritt befreundet, blieben auch bei uns zusammen. Sie waren in derselben Gruppe, sie spielten, diskutierten miteinander. Auffällig war ihr großes Wissen. Zwei von ihnen konnten mit fünf Jahren perfekt lesen, der dritte war künstlerisch sehr begabt. Er erfand Geschichten, erzählte spannend. Seine Ideen setzte er mit seinen Schmusetieren (davon hatte er meist drei bis vier in seinem Rucksack) in Theaterstücke um. Alle drei konstruierten Maschinen, bauten wahre Kunstwerke aus unzähligen Fröbel-Steinen. Oft wollten sie Ausnahmen, wie z.B. den Nebenraum für sich, uns Erzieher jetzt sofort, weil sie etwas dringend wissen wollten usw. Ausflüge und Besichtigungen planten wir oft nach von ihnen geäußerten Interessen und Neigungen. Für die anderen Kinder war es eine Anregung, und sie machten begeistert mit.

Was wurde aus den Dreien? Rudi (Pseudonym) übersprang im Gymnasium zwei Klassen. Er studierte nach einem Einserabitur Medizin. Ludwig (Pseudonym) übersprang eine Klasse und weigerte sich, ein zweites Mal zu überspringen. Die Klassengemeinschaft war ihm wichtiger. Er studiert nach Einserabitur Physik. Der dritte Freund hatte von der ersten Klasse an Schwierigkeiten mit dem Schulsystem. Seine Kreativität und der starre Lehrplan hinderten ihn in seiner Entfaltung. Er konnte sich schwer anpassen, Hilfe und Entgegenkommen erhielt er nicht. Er durchlitt die Schule. Nach Hauptschulabschluss begann er eine Lehre als Modellbauer. Es ging ihm besser, denn er traf auf einen Meister, der ihn anerkannte und seine Ideen nutzte.

Die Familien der Kinder: Rudolf und Ludwig haben Eltern, die sie unterstützten, schätzten, anerkannten und nicht überforderten, sie erhielten auf vielfältige Weise Anregungen. Der dritte Freund hat einen sechs Jahre älteren Bruder, Einserabiturient, Vater Lateinlehrer, die Mutter künstlerisch begabt, sensibel und weich. Der Wunsch des Vaters war ein zweiter Sohn mit Einserabitur. Ich glaube, alle drei sind hochbegabt, und im Kindergarten waren sie ganz besondere Kinder.

Abschließende Gedanken

Häufig sprechen wir von Hochbegabung und reduzieren diese vor allem auf kognitive Fähigkeiten. Meine Praxisbeispiele, die ich hier dargestellt habe, kommen aus dem Bereich der Sprache, des Verhaltens, der Kreativität und Ästhetik, der Gefühle, des menschlichen Miteinander. Alle beschriebenen Kinder waren auf ihre Art hochbegabt. Wenn in der Einrichtung nicht adäquat auf sie eingegangen worden wäre, hätten sie sich zu Außenseitern, schwierigen Kindern, Störenfrieden entwickelt.

Je individueller und offener mit den Anlagen und Begabungen eines Kindes im Kindergarten umgegangen wird, desto eher finden hochbegabte Kinder dort auch ihren Platz. Kinder mit besonderen Fähigkeiten geben Impulse für die Lerngemeinschaft der gleichaltrigen, der jüngeren und der älteren Kinder. Ihr Bedürfnis nach sozialer Einbindung ist - auch wenn sie es häufig nicht zeigen - immens ausgeprägt. Wir sehen es z.B. daran, dass ein Kind eine Klasse nicht überspringen will, weil es die Gemeinschaft nicht missen möchte.

Leider werten viel zu viele Erzieherinnen hochbegabte Kinder als vorlaut und fühlen sich durch deren Fragen überfordert. Aus- und Fortbildung müssen sich des Themas dringend annehmen.

Es ist wichtig, dass Kinder in ihren Begabungen und Fähigkeiten rechtzeitig erkannt werden und Erzieher adäquat reagieren. Dann werden hochbegabte Kinder nicht zu Außenseitern, sondern zu glücklichen Kindern!

Autorin

Gretl Michelfeit, Erzieherin
langjährige Leiterin eines kommunalen Kindergartens
München

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