Hoch begabte Kinder im Kindergarten - was brauchen sie?

Aus: klein & groß, Heft 02-03/2005, S. 7-9. Mit freundlicher Genehmigung der Oldenbourg Schulverlag GmbH.

Hanna Vock

In jedem Jahrgang gibt es ein paar Prozent hoch begabte Kinder, und zwar auch dann, wenn sie noch niemand erkannt hat. Reicht es zur Förderung der Kinder aus, wenn im Kindergarten allgemein gut gearbeitet wird? Oder brauchen sie noch etwas Besonderes? Was könnte das sein?

Worin unterscheiden sich hoch begabte Kinder von ihren gleichaltrigen Spielgefährten?

Zunächst sind sie Kinder wie alle anderen auch: Sie wollen sich mit Dingen beschäftigen, die sie interessieren, sie wollen sich mit Anderen freundschaftlich austauschen, sie möchten dazu gehören und wollen verstehen, was um sie herum und mit ihnen selbst geschieht. Sie sind, wie alle anderen Kinder auch, ganz eigene Persönlichkeiten mit individuellen Stärken und Schwächen. Hinzu kommt eine hohe Begabung in einem oder mehreren Bereichen.

Hoch begabt ist ein Kind, das Aufgaben in Intelligenz- oder Begabungstests besser löst als 98 Prozent seiner Altersgruppe (Für jeden Test wird eine große, möglichst mehrere tausend Kinder umfassende Stichprobe gestestet, bevor der Test in den Handel kommt. So wird der Test, der ja genau wie z.B. eine Waage ein Messgerät ist, geeicht). Das Kind erreicht damit einen Prozentrang von 98 oder höher. Das entspricht einem Intelligenzquotienten von 130 und höher. Wer ein solches Ergebnis erreicht, gilt als hoch begabt.

Als besonders begabt bezeichnen wir alle Kinder, die in entsprechenden Tests so gut abschneiden, dass sie zu den besten 15 Prozent ihres Jahrgangs gehören. Das schließt also die hoch begabten Kinder mit ein. Alle besonders begabten Kinder sind durch ein "Normalprogramm" in der Schule oder im Kindergarten chronisch unterfordert, wenn auch in unterschiedlichem Umfang.

Kinder können eine besondere intellektuelle Hochbegabung zeigen, d.h. ihre Denkprozesse sind sehr entwickelt und effektiv, oder ihre hohe Begabung kann sich besonders in sprachlichen, sozialen, philosophischen, mathematischen, naturwissenschaftlichen, künstlerisch-darstellenden, musikalischen bzw. motorisch-kinästhetischen Bereichen zeigen.

In den Bereichen ihrer Hochbegabung erleben die Kinder eine besondere Lernleichtigkeit. Neues Wissen und neue Fähigkeiten "fliegen ihnen zu". Sie lernen (oft allerdings nur im Bereich der Hochbegabung!) ohne erkennbare Mühe und in einem rasanten Tempo. Wenn ein rechnender Vierjähriger gefragt wird, wie, wo, wann, von wem er das Rechnen gelernt hat, weiß er wahrscheinlich keine Antwort: Der Lernprozess ist ganz nebenbei und unbemerkt abgelaufen. Das Kind hat Informationen aus der alltäglichen Umwelt aufgenommen, sie durch die Brille seiner Hochbegabung gesehen, gedanklich weitreichende Schlüsse gezogen und sich auf diese Weise im Alleingang ein Zahlen- und Rechenverständnis aufgebaut. Manche Kinder erlernen auch das Lesen oder exzellente soziale Fähigkeiten auf diese kaum sichtbare Weise, oder sie werden zu Experten in irgendeinem Sachgebiet.

Es hängt also sehr mit den Denkfähigkeiten und -strategien eines Kindes zusammen, wie erfolgreich es selbstständig lernt. Diese sind oft sehr viel weiter entwickelt als bei gleichaltrigen Kindern. Das Dumme ist nur: Denkprozesse kann man nicht sehen. Es kommt also darauf an, ob Eltern und pädagogische Fachkräfte das erstaunliche Denkvermögen des Kindes bemerken und angemessen und positiv darauf reagieren.

Zu der Lernleichtigkeit gesellt sich bei Hochbegabten eine ungewöhnlich starke, von innen kommende (intrinsisch genannte) Motivation, sich mit Fragen, Aufgaben, Gegenständen, Themen und Problemen aus dem eigenen Begabungsbereich zu befassen, und zwar früh, ausdauernd und mit großer emotionaler Anteilnahme.

Kreativität, also kreatives Denken - und falls das Kind die Möglichkeiten dazu hat, auch kreatives Handeln - befeuern die Entfaltung der Hochbegabung.

Ein schönes Bild von Hochbegabung. Und so stellt es sich auch häufig dar, wenn das Kind sich glücklich mit seiner hohen Begabung entwickeln kann. Es gibt aber auch unglückliche Entwicklungsverläufe, die Zerstörung der Motivation und Kreativität bedeuten. Unverständnis der Umwelt, dauerhafte Unterforderung oder Hemmung der Entwicklung von außen, Vereinsamung und Isolation können zu einer unglücklichen Entwicklung führen.

Damit dies nicht geschieht und damit hoch begabte Kinder ihre Anlagen entfalten können, dafür können die Kindergarten- und die Grundschuljahre entscheidend sein.

Was für einen Kindergarten brauchen hoch und besonders begabte Kinder?

Der Kindergarten ist seit langem eine Bildungseinrichtung. Neben Betreuung und Erziehung wird auch Bildung in großem Umfang geleistet. In vielen Kindergärten findet eine Beispiel gebende motorische, soziale, sprachliche und kognitive Förderung der Kinder statt, was Schwächen von Familienerziehung zumindest teilweise ausgleicht und Stärken von Familien ergänzt.Von diesen Einrichtungen zu lernen, kann andere Kindergärten wie auch Grundschulen weiter bringen.

In solchen guten Kindergärten können sich auch hoch begabte Kinder am ehesten wohl fühlen und gut entwickeln. Andersherum gesagt: Um hoch begabte Kinder angemessen fördern zu können, ist zunächst einmal eine insgesamt gute, begabungs-förderliche Arbeit notwendig. Alle Kinder haben Begabungen, die zu entdecken und zu fördern sind.

Wie ist ein Kindergarten, der begabungsförderlich arbeitet?

In einem begabungsförderlichen Kindergarten...

  • wird sorgfältig darauf geachtet, dass Kreativität und Lernmotivation der Kinder geschützt und gefördert werden.
  • wird das Prinzip der Freiwilligkeit konsequent verwirklicht.
  • herrscht eine respektierende, frohe, experimentierfreudige Atmosphäre mit gut durchdachten und begründeten Regeln.
  • wird eine vertrauensvolle Kommunikation aufgebaut und gesichert: zwischen den Kindern, zwischen Kindern und Erzieherinnen, im Team und zwischen Erzieherinnen und Eltern.
  • wird die Verschiedenheit der Kinder respektiert.
  • erhalten die Kinder vielfältige Anregungen und vielseitige Möglichkeiten, eigene Spiele und eigene Ideen und Pläne zu verwirklichen.
  • werden die kindlichen Projekte sorgfältig begleitet: durch Vermittlung von notwendigem Wissen, Tipps, Strategien, Experten Material usw.
  • hat die kognitive Förderung im Rahmen der ganzheitlichen Förderung ihren gleichberechtigten Platz.
  • werden die Fähigkeiten der Kinder Wert geschätzt, auch die intellektuellen Fähigkeiten.
  • dürfen die Kinder Lesen, Schreiben, Rechnen lernen, so viel sie wollen.
  • wird divergentes, kreatives Denken gefördert.
  • wird forschendes Lernen gefördert; den Kindern werden wichtige Basiserfahrungen im Umgang mit Zahlen und Mengen, mit der belebten und unbelebten Natur, mit der Technik angeboten.
  • sind die Warum-Fragen der Kinder wichtig.
  • machen die Kinder positive Gruppenerfahrungen.
  • gibt es statt extern angebotenen Kursen und "Stundenplänen" ganzheitliche Projekte und Arbeit in Kleingruppen.
  • werden Experten von den Erzieherinnen in den Kindergartenalltag einbezogen.
  • wird die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Kinder gefördert, erhalten die Kinder Gelegenheiten, ihre Ideen, ihre Pläne und ihre Produkte ohne Druck zu präsentieren.
  • werden den Kindern angemessene Aufgaben und Verantwortungen übertragen..

Ein solcher Kindergarten ist notwendige Voraussetzung, um die Begabungen aller Kinder zu finden und zu fördern.

Was brauchen denn besonders begabte und hoch begabte Kinder noch darüber hinaus?

1. Sie brauchen Erzieherinnen, die wissen, worin sich hoch begabte Kinder von ihren gleichaltrigen Spielgefährten in der Gruppe unterscheiden. Da sind zunächst die oft ungewöhnlichen Interessen und Fähigkeiten und die erstaunlichen Denkprozesse. Sehr früh fangen die Kinder an, logisch, aber auch kritisch und selbstkritisch zu denken. Ihr Denken ist nicht mehr so stark in der Gegenwart und im Gegenständlichen verhaftet, sondern bezieht sich stärker auch (auswertend) auf die Vergangenheit, und besonders auf die Zukunft. Die Kinder versuchen häufiger und intensiver, sich genaue Vorstellungen von zukünftigen Ereignissen und Situationen zu machen, und gehen oft schon mit drei Jahren nicht mehr kleinkindlich-unbefangen an Aufgaben heran, die vor ihnen liegen.

Beispiel: Die dreijährige Marie war erst verwirrt, dann belustigt, als eine Gleichaltrige ihr einen gemalten Kopffüßler präsentierte und erklärte, das sei ihre Mama. Sie selbst malte ihre Mama nicht, da sie genau wusste, dass die Zeichnung viel komplizierter hätte aussehen müssen. Diese Aufgabe traute sie sich aber nicht zu.

Hoch begabte Kinder versuchen bereits früh, Erfolgschancen und Risiken abzuschätzen, was sie manchmal als ängstlich erscheinen lässt. Aus demselben Grund werden sie manchmal als (zu) wenig konfliktfähig eingeschätzt: Sie vermeiden die Konfrontation (verständlicherweise) lieber, weil sie voraussehen können, dass andere Kinder manchmal gewalttätig werden anstatt zu verhandeln.

2. Sie brauchen Spielgefährten, mit denen sie auch "schwierige", komplexere Spielideen besprechen und verwirklichen können und mit denen sie sich über die Dinge austauschen können, für die sich die meisten Gleichaltrigen noch nicht interessieren.

Eine Beobachtung von Erzieherinnen ist, dass sich hoch begabte Kinder oft "an die Erwachsenen hängen" und "mit Gleichaltrigen nicht viel anfangen" können. Wenn wir diesen Kindern gerecht werden wollen, müssen wir zunächst verstehen, dass sie oft sehr hohe Ansprüche an das Ergebnis ihres Spiels haben. Ein Beispiel soll helfen, dies zu verstehen.

Marja und die Kasperpuppen

Marja war fünf Jahre alt, als sie in unseren Kindergarten wechselte. Da hatte ich wieder so ein Kind, das mit Gleichaltrigen nicht viel anfangen konnte. Spielangebote der anderen Kinder lehnte sie oft ab. Sie war still, beobachtete viel, aber ließ sich selten auf gemeinsames Spiel ein. Marja sprach aber sehr gut, konnte sich sehr differenziert und genau ausdrücken und liebte schwierige Geschichten. Ich suchte nach einer Erklärung, warum Marja so wenig Lust auf Zusammenspiel hatte. Kasper und Krokodil kamen mir zu Hilfe.

Unser Kindergarten hatte neue Kasperpuppen gekauft, nach einer längeren Zeit ohne Puppentheater. Mit Kasper und Krokodil spielte ich eine Geschichte, in der die Beiden sich zunächst friedlich unterhielten, aber dann in Streit gerieten. Am Ende versuchte das Krokodil, den Kasper zu beißen. Kasper ließ sich das nicht gefallen, er verjagte das Krokodil. Ein großer Teil der Kindergartengruppe sah zu.

Jetzt übernahmen die Kinder die Puppen. Jeweils ein Kind spielte den Kasper, das andere das Krokodil. Marja stand still neben mir, beobachtete, aber machte keinen Versuch, an die Reihe zu kommen. Die Geschichte, die die Kinder spielten, enthielt keine Unterhaltung, keinen verbalen Streit, aber immer eine kräftige Prügelei und viel Geschrei und Dramatik: Kasper ruft Krokodil - Krokodil taucht auf und beißt den Kasper - Kasper schlägt heftig auf das Krokodil ein - Krokodil flieht - Gelächter - Beifall - aus. Eine altersgemäße Adaption des Stoffes, an der wir in der Folge mit den Kindern arbeiten konnten im Sinne von Ausbau und Differenzierung. Den Kindern, Spielern wie Zuschauern, war ein großes Vergnügen anzusehen.

Nur nicht Marja. Auf meine Frage, ob sie auch spielen wolle, antwortete sie zunächst entschieden mit "nein". Bei meiner Nachfrage einige Minuten später flüsterte sie: "Ja, aber mit dir." Also wieder ein Kind, das sich "an die Erzieherin hängte" anstatt sich auf die anderen Kinder einzulassen? Welchen Grund hatte sie dafür?

Der Grund wurde deutlich, als ich mit ihr spielte. Es zeigte sich, dass sie nicht nur meine recht komplizierte Geschichte gespeichert hatte und nachspielen wollte, sondern dass sie eine eigene Idee einfügte. Als das Krokodil (ich) anfing, nach dem Kasper zu schnappen, wich sie aus und rief: "Wenn du mich heute beißt, kriegst du morgen einen Maulkorb - für alle Zeiten, dass du das weißt!" Die Geschichte nahm dann spontan eine verträgliche Wendung, wobei Marja geschickt improvisierte.

Fazit: Marja hatte einen hohen Anspruch an das Ergebnis der Tätigkeit. Sie wollte "eine richtige Geschichte" spielen. Sie analysierte die Situation treffsicher. Marja beobachtete das Geschehen und zog die Schlussfolgerung, dass sie ihre Vorstellung von einer richtigen Geschichte mit den anwesenden Kindern nicht verwirklichen konnte. So kam ihr traurig-frustrierter Gesichtsausdruck zustande und ihr geflüsterter Wunsch an die Erzieherin - geflüstert, weil sie wusste, dass sie sich damit neben die Gruppe stellte und eine "Extrawurst" haben wollte. Marjas anfängliche Weigerung mitzuspielen war also nicht Ausdruck eines unterentwickelten Sozialverhaltens, wie man zunächst hätte denken können.

Was brauchte Marja konkret?

  • die Erkenntnis der Erzieherin, dass Marjas Vorstellungen in Bezug auf das Kasperpuppenspiel sehr viel weiter entwickelt waren als die der anderen Kinder - und daraus resultierend: Verständnis für Marjas Frust.
  • Spielgefährten, die auf ihrer Ebene mithalten können. Leider war da nur die Erzieherin. Marja bräuchte andere hoch begabte Kinder, mit denen sie auch komplexe Spielideen verwirklichen könnte.

Das spricht für die Schaffung integrativ arbeitender Schwerpunktkindergärten für Hochbegabtenförderung, in denen mehrere hoch begabte Kinder zusammen mit nicht hoch begabten Kindern in einer Gruppe sind.

Alle Kinder der Gruppe profitieren von Hochbegabtenförderung

Das heißt, es ist sinnvoll, Kinder zusammen zu bringen, die in dieser Hinsicht ähnlich denken und empfinden. In einer integrativen Kindergartengruppe mit etwa zur Hälfte besonders begabten Kindern und zur Hälfte anderen Kindern ist es möglich, dass die Kinder ihre Spielbedürfnisse befriedigen und gleichzeitig gegenseitiges Verständnis entwickeln und voneinander lernen.

Wenn in einer Kindergartengruppe nur wenige besonders begabte Kinder sind, sollten sie wenigstens ab und zu in Kleingruppen besonders "schwierige" Anregungen (= für sie echte Herausforderungen) erhalten, unabhängig von ihrem Alter. Bei einem guten Gesamtklima fließen diese Anregungen ins Freispiel ein, so dass viele Kinder davon profitieren. Dasselbe passiert, wenn hoch begabte Kinder in Projekten besondere, ihren Fähigkeiten angepasste Handlungsmöglichkeiten und entsprechende Verantwortung erhalten.

Alles spricht dafür, Schwerpunktkindergärten zu schaffen, in denen hoch begabte und durchschnittlich begabte Kinder zusammen spielen und lernen können. Diese Kindergärten brauchen wiederum Erzieherinnen, die Interesse und Freude daran haben, Kinder mit besonderen Begabungen angemessen zu fördern, und die sich mit den Möglichkeiten und Problemen dieser Förderarbeit in Fortbildungen intensiv auseinander gesetzt haben.

Hochbegabung feststellen

Aber wie erkenne ich denn hoch begabte Kinder in meiner Gruppe? Dies ist oft die erste Frage in Fortbildungen. Auch wenn kein Testergebnis vorliegt, ist es für erfahrene und in dieser Hinsicht wissende Erzieherinnen möglich, die hohen Begabungen eines Kindes zu erkennen. Durch ungewöhnliche Fähigkeiten oder Äußerungen des Kindes aufmerksam geworden, können sie durch gezielte Beobachtung bei anspruchsvollen Tätigkeiten und durch Gespräche mit den Eltern ein immer klareres Bild gewinnen.

Ein Problem besteht darin, dass gar nicht wenige hoch begabte Kinder ihre "abweichenden" Fähigkeiten und Interessen schon früh verbergen. Es braucht manchmal längere Zeit, bis das Kind der offenen und wertschätzenden Atmosphäre im Kindergarten vertraut und sich offenbart. Am besten zu erkennen sind hohe Begabungen dann, wenn bereits Hochbegabtenförderung im Kindergarten stattfindet. Die unterschiedlichen Reaktionen der Kinder auf die kognitiv anspruchsvolleren Fragen, die dann im Kindergartenalltag einfach vorkommen, sprechen häufig für sich.

Autorin

Hanna Vock ist Gründerin und Leiterin des IHVO (Institut zur Förderung hoch begabter Vorschulkinder) in Bonn, das Fortbildungen für Erzieherinnen und Erzieher veranstaltet.
Website: www.IHVO.de
Email: hannavock@gmx.de

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