Entwicklungsverläufe hochbegabter KinderErkenntnisse aus der Hochbegabungsforschung

Asynchrone Entwicklungen, psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten die im Zusammenhang mit Hochbegabung entstehen

Stefanie Sroka

Einleitung

Zunächst kann einleitend festgehalten werden, dass es zwischen hochbegabten und normalbegabten Kindern keine systematischen Persönlichkeitsunterschiede gibt (Preckel & Vock 2021, S. 132). Die Hochbegabungsforschung hat diesbezüglich in den letzten Jahren durch Langzeitstudien deutliche Ergebnisse geliefert.

Durch die Terman-Studie aus den 1920er-Jahren (Titel der Studie: Genetic Studies of Genius) wurde ein Meilenstein in der Hochbegabtenforschung gesetzt (vgl. Terman 1922). Hier wurde eine Stichprobe von N = 1.528 Kindern herangezogen, die alle in einem standardisierten Intelligenztest einen IQ-Wert von mindestens 140 erzielten (vgl. ebd.; vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 64 f.). Dazu wurde eine Kontrollgruppe gebildet und die Stichprobe alle zwölf Jahre bis ins hohe Alter regelmäßig untersucht (vgl. ebd.). Ziel dieser Studie war es, die damalige Disharmoniehypothese zu widerlegen, die vor allem in der psychiatrisch-medizinischen Genieforschung vorherrschte (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 73 und 102).

Die Disharmoniehypothese nimmt an, dass eine außergewöhnliche Begabung regelmäßig gemeinsam mit auffälligem Verhalten und häufig auch sozio-emotionalen Problemen auftritt (vgl. ebd.). Diese Annahme ist als Alltagsvorstellung über Hochbegabte auch heute noch weit verbreitet und nach wie vor auch bei pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und Lehrer:innen aller Schulformen vorzufinden (vgl. ebd.). Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Terman (1922) konnte nachweisen, dass hochbegabte Kinder nicht nur intellektuell, sondern auch in vielen anderen Bereichen – soziale Fähigkeiten miteingeschlossen – ihrer Vergleichsgruppe eher überlegen sind (vgl. ebd.).

Man kann hier den aus der Wissenschaftssoziologie durch Robert Merton eingeführten Matthäus-Effekt (Matthew effect) (vgl. Fleck 2019) anbringen, der davon ausgeht, dass hohe Ausgangsleistungen auch zu einem schnelleren Lernzuwachs beitragen (vgl. Frank et al. 2012, S. 26-33 und Sedmak & Kapferer 2021, S. 72). Die Bezeichnung hat ihren Ursprung im Matthäus-Evangelium, in dem es heißt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Mt. 25:29). Nach Terman (1922) hat sich aus der Disharmoniehypothese eine Harmoniehypothese entwickelt, die von einer positiven Gesamtentwicklung Hochbegabter ausgeht (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 102). Der Matthäus-Effekt stellt damit aber auch eine moralische Herausforderung in Bezug auf die Begabungsforschung dar, da diejenigen mit sozio-ökonomisch guten Voraussetzungen klare Startvorteile haben und Kinder mit nachteiligem sozio-ökonomischem Hintergrund auf besondere Unterstützung von außen angewiesen sind, um dies kompensieren zu können (vgl. Sedmak & Kapferer 2021, S. 72 f.).

Detlef Rost untersuchte in seiner Marburger Längsschnittstudie von 1987 an über zwei Jahrzehnte Kinder- und Jugendliche mit Hochbegabung und deren Entwicklung und verglich diese mit einer Peergroup von nicht Hochbegabten (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 66). Dafür wurden regelmäßige Intelligenztests durchgeführt und die Kinder anhand ihrer IQ-Werte, die durch mehrere Testverfahren ermittelt wurden, ausgewählt (vgl. Rost 2000, S. 37). Als hochbegabt wurde eingestuft, wer in einem der Tests mindestens einen IQ > 129 erzielte und in keinem Test unterdurchschnittlich abschnitt (vgl. ebd.). Das Besondere am Marburger Hochbegabtenprojekt ist auch, dass es als eine von wenigen Studien der Frage nach den sozialen Beziehungen von hochbegabten Grundschulkindern nachging (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 67). Rost (2000) hält als Ergebnis ein deutliches Resultat fest:

„Hochbegabte Grundschulkinder sind ihren Peers ähnlicher, als man es aufgrund der in der Literatur immer wieder behaupteten „Andersartigkeit“ Hochbegabter vermuten könnte: „Hochbegabte Grundschüler sind zuerst einmal und vor allem Kinder wie alle anderen Kinder auch, mit ähnlichen Abneigungen, mit ähnlichen Schwierigkeiten, mit ähnlichen Vorzügen.“ (S. 5)

Joanne Freeman beobachtete in einer Kontrollgruppenstudie von 1974 an über 35 Jahre hinweg die Entwicklung von

  • 70 als hochbegabt identifizierten Kindern,
  • 70 nicht identifizierten hochbegabten Kindern und
  • 70 nicht hochbegabten Kindern (vgl. Freeman 2010, S. 85).

Freeman (2010) suchte für jedes hochbegabte Kind zwei Vergleichskinder, eines mit einem ähnlichen IQ und ein zufällig ausgewähltes Kind aus derselben Klasse. Die Kinder wurden ausführlich getestet und sowohl die Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern der Kinder immer wieder sowohl in der Schule als auch zu Hause interviewt (vgl. ebd., S. 120). Freeman (2010) hält als zentrales Ergebnis fest, dass es „nur einen echten Unterschied zwischen hochbegabten Menschen und allen anderen“ gebe, „ihre Begabung“ (S. 85). Allerdings werden diese Kinder von den Reaktionen Dritter und dem Umgang mit ihrer Begabung stark beeinflusst, da sie versuchen, den Erwartungen – auch den negativen – gerecht zu werden (vgl. ebd.). Wenn Kinder Probleme entwickeln, die von ihnen erwartet werden, spricht man auch von einer „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 10).

Tatsächliche Probleme, die als hochbegabt etikettierte Kinder hatten, stellte Freeman (2010) fest, waren hingegen häufig direkt auf das häusliche Umfeld oder auf die „Einstellungen der Eltern in Bezug auf Hausaufgaben, Fernsehen, Bestrafung und Erziehungsverhalten“ (S. 106) zurückzuführen und nicht auf die Intelligenz. Freeman nannte es sogar ein „gefährliches Vorurteil“ (ebd.), die verbreitete Meinung aufrechtzuerhalten, dass intellektuell Hochbegabte mehr emotionale Probleme hätten als durchschnittlich Begabte (vgl. ebd.). Freeman (2010) fasst abschließend zusammen:

„Im Allgemeinen konnte man beobachten, dass mit höherer Intelligenz auch die Wahrscheinlichkeit stieg, als Erwachsener erfolgreich zu sein. Die wichtigsten Voraussetzungen für Erfolg waren in der gesamten Stichprobe – egal ob begabt oder nicht – harte Arbeit, emotionale Unterstützung und eine positive persönliche Einstellung.“ (S. 120)

Diese drei Langzeitstudien zeigen deutlich, dass durch (Hoch-)Begabung allein kein (Schul-/ Berufs-)Erfolg garantiert ist und dass begabte Kinder sich abgesehen von ihren kognitiven Fähigkeiten tatsächlich nur wenig von durchschnittlich begabten Kindern unterscheiden.

4.1 Asynchrone Entwicklung hochbegabter Kinder

Nicht selten wird vermutet, dass die schnelle kognitive Entwicklung hochbegabter Kinder zufolge hat, dass motorische, körperliche, soziale oder emotionale Bereiche der Betroffenen sich nicht in gleicher, beschleunigter Weise entwickeln können und es somit zu einer asynchronen Entwicklung kommt (Rohrmann 2010, S. 169). Diese asynchrone Entwicklung soll zur Folge haben, dass Spannungen innerhalb des Kindes entstehen, beispielsweise beim Malen, wenn ein Kind aufgrund fehlender feinmotorischer Fähigkeiten nicht dazu in der Lage ist, einen Gegenstand nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 133). Hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Entwicklungsbereiche aller Kinder nicht völlig synchron verlaufen, sondern dass es bei allen Kindern unterschiedliche Ausprägungen von Asynchronität in ihrer Entwicklung gibt, die durchaus Spannungen in Form von Wutanfällen und Frustration hervorrufen können (vgl. ebd. und Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 69).

Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und den eigenen Möglichkeiten ist also nicht nur für hochbegabte Kinder charakteristisch und es mangelt an belegenden Hinweisen darauf, dass Asynchronien in der Entwicklung von hochbegabten Kindern verhältnismäßig häufiger vorkommen als bei durchschnittlich begabten Kindern (vgl. Rohrmann 2010, S. 169 und Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 70). Für die sozio-emotionale Entwicklung gibt es hingegen sogar Belege, wie die dargestellte Terman-Studie (1922) aufzeigt, dass hochbegabte Kinder auch hier eine eher beschleunigte Entwicklung durchlaufen (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 133).

4.2 Underachievement

Underachievement ist eigentlich kein Phänomen, das in Kindertageseinrichtungen eine Rolle spielt, da es sich hierbei um eine Dissonanz zwischen Potential und Leistung handelt. Weil aber gerade in den Medien nicht selten das Bild von Hochbegabten gezeichnet wird, die gänzlich am Schulsystem scheitern oder zu scheitern drohen, ist es wichtig, Underachievement kurz zu erläutern: Hochbegabte Kinder, die trotz ihres hohen Intellekts über einen längeren Zeitraum hinweg schlechte oder sehr schlechte schulische Leistungen erbringen oder gar gänzlich an der Schule zu scheitern drohen, werden als Underachiever bezeichnet (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 123). Diese Minderleistung darf hierbei nicht mit einem situativen Umstand erklärbar sein und muss in einer deutlichen Diskrepanz zu den erwartbaren Leistungen stehen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 30). Auch Underachievement ist kein Phänomen, das nur hochbegabte Kinder betrifft, sondern kann Schüler:innen auf allen Niveaustufen betreffen (vgl. ebd., S. 31). Dass ein gutes Abschneiden in einem Intelligenztest zwar ein Hinweis auf eine hohe intellektuelle Begabung ist, nicht aber gleichzeitig auch die Umsetzung dieses Potentials in ausgezeichnete (Schul-)Leistungen beinhaltet oder eine Garantie für den späteren Berufserfolg liefert, wurde bereits bei der Erörterung der verschiedenen Modelle zu Hochbegabung deutlich (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 24).

Da ein hoher IQ und Schulleistungen nicht zu 100 % miteinander korrelieren, müssen sowohl Underachievement als auch Overachievement – eine deutlich bessere Leistung als aufgrund der Intelligenzwerte zu erwarten wäre – existieren (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 124 f.). In der Fachliteratur existieren sehr unterschiedliche Zahlen darüber, wie häufig Underachievement bei hochbegabten Schüler:innen vorkommt, was zum einen an der sehr unterschiedlichen diagnostischen Vorgehensweise liegt, zum anderen aber auch an der Uneinigkeit darüber, ob Underachievement als allgemeines oder bereichsspezifisches Phänomen verstanden wird (vgl. ebd., S. 125). So ist es beispielsweise auch möglich, dass hochbegabte Schüler:innen schon als Underachiever gelten, wenn ihre Leistungen tatsächlich noch im guten Durchschnitt liegen, weil die erwartbare Leistung deutlich darüber liegen müsste (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 30 ff.). Je nachdem, wie sich das Underachievement darstellt, kann damit dann auch mehr oder weniger Leidensdruck verbunden sein bzw. dieses als problematisch wahrgenommen werden (vgl. ebd.).

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2015) geht davon aus, dass ca. 15 % aller Schüler:innen von Underachievement betroffen sind (vgl. ebd.). Die Gründe hierfür sind nicht auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen, sondern müssen in der Einzelfallbetrachtung analysiert werden (vgl. ebd.). So sind fehlende Leistungsmotivation, ein mangelndes Selbstwertgefühl, fehlende Lernstrategien und Strukturen mögliche Ursachen, die beim Kind selbst zu suchen sind. Doch oppositär zu einer förderlichen Lernumwelten kann es genauso hemmende Umweltfaktoren geben, die Schüler:innen an der Entfaltung ihres Potentials hindern (vgl. ebd.). Machen Kinder immer wieder negative Lernerfahrungen, kann sich auch das negativ auf das Selbstbild auswirken, weswegen bei einer Häufung von negativen Lernerfahrungen eine frühe Intervention wichtig ist (vgl. ebd.). Underachievement ist vor allem ein Problem im Zusammenhang mit schulischen Leistungsanforderungen, die ein Kind in der Folge von Leistungsverweigerung nicht oder nicht mehr erbringen kann (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 77). Denn wenn ein Kind über einen längeren Zeitraum die Leistung verweigert und damit Erfolg hat, so können ihm später Kenntnisse und Erfahrungen fehlen, die es für den weiteren Schulerfolg benötigt – womit ein Teufelskreis beginnt (vgl. ebd.). Underachievement ist etwas, das erstmalig am Ende der Primarstufe oder am Anfang der Sekundarstufe I auffällt, wenn die Leistungsansprüche deutlich steigen und auch begabte Schüler:innen beginnen müssen, sich mit den schulischen Inhalten intensiver auseinanderzusetzen, weshalb diese Entwicklung in Kindertageseinrichtungen kaum zu beobachten ist (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 129).

Grundsätzlich sollte dennoch hervorgehoben werden, dass die Korrelation zwischen Intelligenz und Leistung als sehr stark bewertet werden kann und ein hoher Intelligenzquotient zunächst auf eine zu prognostizierende gute Leistungsperformance hinweist (vgl. ebd., S. 123).

4.3 Hochbegabung und psychische Störungen

Es kommt immer wieder vor, dass Eltern aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten meinen, ein hochbegabtes Kind zu haben, und auch landläufig scheint die Meinung immer noch weit verbreitet zu sein, dass man Hochbegabung an Verhaltensauffälligkeiten identifizieren kann. Grundsätzlich gilt aber auch hier: Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen wie ADS/ADHS, Asperger-Autismus oder Depressionen sind bei Kindern mit Entwicklungsvorsprüngen und Begabungen empirisch bisher nicht häufiger nachgewiesen worden als bei durchschnittlich begabten Kindern, was eine sogenannte doppelte Auffälligkeit jedoch nicht ausschließt (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 82). Es kann jedoch problematisch sein, sowohl die hohe Begabung als gleichzeitig auch das psychische Störungsbild zu erkennen (vgl. ebd.). Häufig ist dann eine gründliche differenzialdiagnostische Untersuchung notwendig, in der verschiedene Störungsbilder abgeklärt und nichtzutreffende ausgeschlossen werden müssen (vgl. ebd.). Die Diagnose im Vorschulalter ist bei ADS/ADHS aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen eine besondere Herausforderung (vgl. Müller 2010, S. 220). Eine Verwechslung von Hochbegabung und ADS/ADHS ist hingegen sehr unwahrscheinlich, da es sich bei einer Hochbegabung um eine kognitive Stärke handelt, die im Zusammenhang mit hohen Leistungen steht, während ADS/ADHS eine Verhaltensstörung ist, die eher schwache Leistungen begünstigt (vgl. ebd., S. 221). Auch dafür, dass Hochbegabung und ADS/ADHS häufiger zusammen auftreten, gibt es keine Belege (vgl. ebd., S. 222). ADS/ADHS scheint über alle Intelligenzgruppen gleichmäßig verteilt zu sein und tritt mit einer Prävalenz von 4 bis 6 % auf, womit dies eine der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter ist (vgl. ebd.).

Asperger-Autismus ist eine Form des Autismus, die im Gegensatz zu anderen Autismus-Formen nicht mit einer Intelligenzminderung einhergeht, sondern mit einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz auftritt (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 86) Baudson (2010) schreibt dazu, dass Hochbegabung und Asperger-Autismus von außen betrachtet einiges gemeinsam haben und eine Auseinanderhaltung beider Besonderheiten nicht ganz einfach ist, sie geht aber auch davon aus, dass es insgesamt mehr Fehldiagnosen gibt als Fälle, in denen Hochbegabung und Asperger-Autismus gemeinsam auftreten (vgl. Baudson 2010, S. 243). Das Verhalten der Kinder in verschiedenen Kontexten zu beobachten, ist aus diesem Grund besonders wichtig, manchmal verschwinden Schwierigkeiten (insbesondere soziale Schwierigkeiten in der Interaktion und Kommunikationen, die Kriterien für einen Asperger-Autismus darstellen können) dann, wenn Kinder mit Menschen umgehen, mit denen sie sowohl Interessen als auch ein ähnliches Sprachniveau teilen, was nach Baudson (2010) kein Indiz für eine Wunderheilung ist, sondern ein Hinweis darauf, dass die ursprünglich diagnostizierte Störung eventuell gar nicht bestanden hat (vgl. ebd.). Rohrmann und Rohrmann (2017) weisen darauf hin, dass in den letzten Jahren ein Asperger-Autismus häufiger bei Grundschulkindern diagnostiziert wurde und dies auch für Kindertageseinrichtungen von Relevanz ist, da sich mit so einem Störungsbild ein Förderbedarf begründen lässt, den es bei einer Hochbegabung nicht gibt (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 86 f.). „Wissenschaftliche Belege für einen Zusammenhang von Hochbegabung und Asperger-Syndrom gibt es bislang nicht.“ (Rohrmann & Rohrmann, S. 87)

5. Inklusion

Inklusion, ein gemeinsames Lernen und Spielen aller Kinder, ist in den letzten Jahren ein dominantes Thema vor allem in der Schulpädagogik. Hierbei war und ist der Blick jedoch vor allem auf die Kinder mit besonderen Förderbedarfen gerichtet, für die eine Separierung durch den Besuch von Regelschulen vermieden werden soll, was sich – so das angestrebte Ziel – auch in verbesserten Chancen im Bereich des individuellen Lernerfolgs und höheren Qualifikationen auswirken soll (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 261). Der Begriff der Inklusion grenzt sich vom Begriff der Integration ab.

Inklusion geht bereits von einer Heterogenität aus und muss nicht erst durch Integration hergestellt werden (vgl. Steenbuck et al. 2011, S. 42 f.)

Hochbegabung ist ebenfalls ein Teil von Heterogenität, wie sie in allen Kindertageseinrichtungen und Schulen zu finden ist, und sollte damit auch Beachtung in integrativen Ansätzen erfahren. Nur wenn sie als eine Möglichkeit von Normalität angenommen wird, können Kindertageseinrichtungen eine professionelle Haltung entwickeln, die begabungsförderlich ist (vgl. Koop & Seddig 2021b, S. 50). Diese Haltung sollte aber nicht auf einzelne Fachkräfte reduziert werden, sondern auch Prozesse und Strukturen der Kindertageseinrichtung umfassen (vgl. ebd.). Eine Frage, die im Zusammenhang mit Inklusion ebenfalls beantwortet werden muss, ist die Frage, wie man eine gleiche Förderung aller Kinder versteht, denn hierauf gibt es zwei Antwortmöglichkeiten (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 72 und Kuger & Roßbach 2010, S. 30 f.):

1. Alle Kinder werden gleich gefördert und es werden ihnen Lerngelegenheiten gegeben, um ein vorab definiertes Lernziel, das für alle Kinder gleichermaßen gilt, zu erreichen (vgl. ebd.). Das bedeutet auch, dass es Kinder gibt, die viel, wenig oder gar keine Unterstützung benötigen, damit ein vorab definierter Lernprozess durchlaufen werden kann. Im Kindergarten betrifft das vor allem Lernziele, die im Zusammenhang mit dem Übergang auf die Grundschule bestehen und bei denen es vor allem darum geht, einen Ausgleich gegenüber Disparitäten zu schaffen (vgl. ebd.).

2. Jedem Kind wird das gleiche Ausmaß an Förderung zuteil, um es in seinem individuellen Lernprozess zu fördern und zu unterstützen. Stärken und Schwächen werden hierbei berücksichtigt und eine fließende Förderung geschaffen, von der insbesondere hochbegabte Kinder mit Entwicklungsvorsprüngen profitieren, und eine Förderstagnation, von der diese Kinder insbesondere betroffen sind, wird vermieden. Der Nachteil hierbei wäre, dass gerade im Hinblick auf die Einschulung die Disparitäten in einer altershomogenen Gruppe nicht verringert, sondern mindestens gleichbleibend oder sogar verstärkt würden (vgl. ebd.).

Auf welche Art und Weise pädagogische Fachkräfte die gleiche Förderung aller Kinder interpretieren, hat maßgeblichen Einfluss auf die tägliche Arbeit (vgl. ebd.). An dieser Stelle muss aber auch auf die aktuelle Situation hingewiesen werden, dass insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels in den Kindertageseinrichtungen, sich eine Frage nach der gleichen Förderung aller Kinder möglicherweise nicht mehr flächendeckend stellen lässt, da „der Fokus auf die Erfüllung der Aufsichtspflicht gelegt werden muss, und entsprechend besteht die Gefahr, dass Bildungsprozesse ins Hintertreffen geraten“ (Stadt Münster 2022b). Doch auch, wenn die Förderung begabter Kinder in Kindertageseinrichtungen unter dem Aspekt der aktuellen Situation erstmal nach einer zu vernachlässigenden Forderung aussieht, ist dem entgegenzustellen, dass es sich bei begabungsfördernden Maßnahmen nicht um isolierte pädagogische Methoden handelt (vgl. Koop & Seddig 2021b, S. 28). Begabungsfördernde Methoden können in jeder Kindertageseinrichtung unter dem Gesichtspunkt der individuellen Förderung stattfinden und gehen von einer Grundhaltung aus, die zum Ziel hat „auf vielfältigen Voraussetzungen, die Kinder mitbringen, angemessen pädagogisch zu reagieren“ (ebd.).

Enrichment und Akzeleration

Begabtenförderung wird im schulischen Kontext häufig in die beiden Kategorien Enrichment und Akzeleration eingeordnet (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 121). Unter Enrichment kann man zahlreiche Maßnahmen einordnen, die eine Erweiterung des üblichen Lehrstoffes darstellen und die sowohl thematisch als auch methodisch-didaktisch zu einer intensiveren Auseinandersetzung anregen (vgl. Preckel & Vock 2021: 245). Unter Akzeleration versteht man alle Maßnahmen, die das beschleunigte Passieren von Unterrichtinhalten ermöglichen. Hierzu gehören das Überspringen von Klassenstufen oder auch das vorzeitige Ablegen von Prüfungen (vgl. ebd., S. 227). Eine Akzeleration darf dabei nicht als künstliche Beschleunigung missverstanden werden, vielmehr geht es darum, für die Schüler:innen eine ideale Passung der Unterrichtsinhalte zu finden und auf das jeweils individuelle Lerntempo Rücksicht zu nehmen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 82). Die Vorzeitige Einschulung eines Kindes wird im Kindergarten häufig mit Akzeleration gleichgesetzt, obschon sie nur eine Möglichkeit von vielen darstellt (vgl. ebd.).

Die Broschüre Begabte Kinder finden und fordern, die 2015 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegeben wurde, führt unter den Möglichkeiten der Akzeleration in Kindertageseinrichtungen folgende Punkte auf und legt damit dar, wie umfangreich Akzeleration auch in Kindertageseinrichtungen verstanden werden kann:

Früher Eintritt in den Kindergarten, um die neue Anregungsumwelt

  • „Früher Eintritt in den Kindergarten, um die neue Anregungsumwelt möglichst früh kennen zu lernen und davon zu profitieren
  • Unterstützung des individuellen (Lern-) Tempos der Kinder in Anregungssituationen; besonderes Eingehen auf Bereiche, die das Kind sehr interessieren oder auch solche, in denen es besondere Anpassungsschwierigkeiten hat
  • altersgemischte Gruppen, die zeitweise auch — bei Verbindung mit Hortbetreuung – Kinder im Schulalter umfassen
  • Verdichtung der angebotenen Förderaktivitäten durch Reduktion der Ein- und Überleitungen sowie Routineaktivitäten (z.B. durch klare Regelungen zum Spül- und Tischdienst, gegenseitige Hilfe in den Umziehsituationen)
  • Einsatz von Mentoren in Eins-zu-Eins Situationen (möglicherweise finden sich ältere Kinder, Schülerinnen und Schüler oder andere Helferinnen und Helfer, die mit dem besonders begabten Kind oder einer Kleingruppe Projekte initiieren und durchführen bzw. Themen bearbeiten, die nur wenige Kinder interessieren, wie z.B. Schach spielen, technisches Zeichnen oder Philosophieren)
  • Einschulung in eine Schule mit einer flexiblen Eingangsstufe […]
  • Vorzeitige Einschulung.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 82)

Für die Kategorie des Enrichments werden ebenfalls unterschiedliche Maßnahmen angeregt:

  • „Die Kinder in die Planung von bestimmten Alltagsaktivitäten oder Projekten des Kindergartens einbeziehen (die Verpflegung für einen Ausflug planen, auf einer Karte eine Route für den Spaziergang heraussuchen, den Ablauf und die notwendigen Ressourcen für ein Eltern-Kinderfest in der Einrichtung planen, einen Sporttag zum Kennenlernen verschiedener Sportarten gestalten),
  • Ein Theaterspiel vorbereiten (Kulissen gestalten, Kostüme planen, Rollen verteilen, proben und spielen, ein Programmheft entwerfen, die richtige Beleuchtung einrichten, Musik und Hintergrundgeräusche suchen, gestalten und aufnehmen),
  • Philosophieren (Spannende Fragen könnten sein: Welche Bedeutung haben Farben? Wozu brauchen wir Sprache? Was ist Zeit? Können Tiere lieben? Schlafen Engel? Welsches ist die schönste Zahl? Wie schmeckt Musik?),
  • Knobeleien, Denksportaufgaben, Teekesselaufgaben; Ich sehe etwas, was Du nicht siehst; Errate die Oberkategorie anhand der Beispiele, die ich dir nenne; Was gehört nicht dazu und warum? (z.B. einfach: Stuhl, Tisch, Schrank, Baum; schwerer: Stuhl, Tisch, Schrank, Sofa); Ich packe meinen Koffer…,
  • Wort- und Sprachspiele: Finde einen Beruf (oder z.B. eine Pflanze, einen Ort, ein Lebensmittel), der mit dem gleichen Laut/Buchstaben beginnt, mit dem der vorherige endet; bilde Sätze, in denen alle Wörter mit dem gleichen Laut/Buchstaben beginnen; Sprich in Reimen; Wie lautet dein Name rückwärts?,
  • Mentoren- und Tutorensysteme, von denen das besonders begabte Kind als „Betreuter“ und als „Betreuender“ profitiert.“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 83)

Auch im Elementarbereich ist bei allen Aktivitäten zu berücksichtigen, dass Kinder eventuell schon über beachtliches Vorwissen verfügen können, eventuell sogar in einem Umfang, welcher den eigenen übersteigt (vgl. Koop & Seddig 2021b, S. 32; Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 123).

Literaturverzeichnis

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Freeman, Joan (2010): Hochbegabte und Nicht-Hochbegabte: Ergebnisse einer über 35 Jahre laufenden Kontrollgruppenstudie. In: Rost, Detlef H. (Hrsg.) (2010): Intelligenz, Hochbegabung, Vorschulerziehung, Bildungsbenachteiligung. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann Verlag GmbH, S. 85-124.

Koop, Christine; Seddig, Nadine (2021b): Hochbegabung bei Kindern erkennen und begleiten. In: Kindergarten heute. Wissen kompakt. Frühpädagogisches Fachwissen (Sonderheft). Freiburg: Verlag Herder GmbH.

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Müller, Götz (2010): Hochbegabung und AD(H)S. In: Koop, Christine; Schenke, Ina; Müller, Götz; Welzien, Simone und der Karg Stiftung (Hrsg.) (2010): Begabung wagen. Ein Handbuch für den Umgang mit Hochbegabung in Kindertagesstätten. Weimar/Berlin: Verlag das Netz, S. 211-225.

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Rohrmann, Sabine (2010): Hochbegabung – Was ist das? In: Koop, Christine/ Schenke, Ina/ Müller, Götz/ Welzien, Simone und der Karg Stiftung (Hrsg.) (2010): Begabung wagen. Ein Handbuch für den Umgang mit Hochbegabung in Kindertagesstätten. Weimar/ Berlin. Verlag das Netz, S. 155-173.

Rohrmann, Sabine und Rohrmann, Tim (2017): Begabte Kinder in der KiTa. 1. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH.

Rost, Detlef H. (Hrsg.) (2000): Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Neue Ergebnisse aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann Verlag GmbH.

Sedmak, Clemens; Kapferer, Elisabeth (2021): Begabtenförderung und Bildungsgerechtigkeit. In: Müller-Oppliger, Victor und Weigand, Gabriele (Hrsg.) (2021): Handbuch Begabung. 1. Auflage, Weinheim/Basel: Verlagsgruppe Beltz.

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Weiterführende Literatur

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