Friedrich Voigt
Einleitung
Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind besonderes prägend, da es wichtige Fähigkeiten erlernt, die als Basis für die Weiterentwicklung komplexerer Kompetenzen wichtig sind. Das Auftreten von Entwicklungsverzögerungen und somit auch frühe Auffälligkeiten sind ein zentraler Bestandteil pädagogischer und/oder therapeutischer Tätigkeiten. In diesem Beitrag befragen wir den Experten Friedrich Voigt, der am kbo Kinderzentrum in München arbeitet, zum Thema Entwicklungsverzögerungen bei Kindern.
Können Sie uns den Unterschied zwischen Entwicklungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen erläutern?
Wir sprechen von Entwicklungsverzögerungen in der frühen Entwicklung, wenn ein Kind Meilensteine der Entwicklung langsamer durchläuft und das Entwicklungstempo, mit dem die motorischen, kognitiven, sozialen oder sprachlichen Fähigkeiten aufgebaut werden, verlangsamt ist. Oft ist es bis zu einem Alter von 2 ½ bis 3 Jahren noch unklar, was dieses langsamere Tempo bedeutet. Deshalb spricht man zunächst von einem Entwicklungsrückstand oder einer Entwicklungsverzögerung.
Die kindliche Entwicklung zeigt eine große individuelle Variabilität: Kinder zeigen in allen Altersphasen relative Stärken und Schwächen in ihren Lernfortschritten zeigen. Zudem gibt es große interindividuelle Unterschiede zwischen Kindern, die von der Begabung, dem sozialen Umfeld und von Risiko- und Schutzfaktoren für die Entwicklung beeinflusst sein können. Man kann diese Unterschiede im Bereich der frühen Sprachentwicklung sehr gut beobachten. Einzelne zweijährige Kinder haben einen Wortschatz von 20 bis 40 Wörtern und verwenden noch kaum kleine Sätze, andere Kinder gleich Alters haben einen Wortschatz von 100 bis 200 Wörtern, bilden kurze Sätze, verwenden Frageformen und beteiligen sich rege an einer wechselseitigen Konversation.
Von einer Entwicklungsstörung sprechen wir im Kleinkind und Vorschulalter, wenn wir davon ausgehen, dass sich der veränderte Verlauf der Entwicklung über mehr als zwei Jahre auf die soziale Integration, das Lernen und die Alltagsförderung auswirken werden. Eine Entwicklungsstörung beschreibt demnach nicht eine Momentaufnahme der kindlichen Entwicklung, sondern eine längere Phase, in der das Entwicklungstempo in einzelnen Funktionen langsamer vorangeht und vielleicht auch Zeiten einer relativen Stagnation beobachtet werden. Der Begriff Entwicklungsstörung soll auf verschiedene Aspekte aufmerksam machen.
Eine Entwicklungsstörung erfordert eine pädiatrische und entwicklungspsychologische Abklärung, um mögliche Ursachen zu klären und ein genaues Entwicklungsbild zu gewinnen. Schließlich ist es wichtig zu verstehen, welche Entwicklungsaufgaben für ein Kind mit einer Entwicklungsstörung aktuell wichtig sind. Ein Kind mit einer Entwicklungsstörung benötigt unter Umständen zusätzliche therapeutische, pädagogische und psychosoziale Unterstützung. Entwicklungsstörungen können sich bis ins Schulalter auswirken und die langfristige soziale und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Die Frühtherapie und Frühförderung bei Entwicklungsstörungen ist nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem in der Altersspanne zwischen 3 und 6 Jahren besonders wirkungsvoll.
Welche Entwicklungsstörungen können in der frühen Kindheit auftreten bzw. in welchen Bereichen?
Sprachentwicklungsstörungen sind die am häufigsten beschriebenen Formen von Entwicklungsstörungen. Es gibt eine Vielzahl von möglichen Gründen dafür, warum ein Kind verzögert zu sprechen beginnt. Gleichzeitig wird eine verzögerte sprachliche Entwicklung im Altersbereich zwischen 2 und 3 Jahren für die Eltern und die frühpädagogischen Fachkräfte unmittelbar auffallen. Da es Kinder gibt, die einen späten Sprechbeginn zeigen („late talker“), lässt sich die Bedeutung von Sprachentwicklungsrückständen zwischen 24 und 36 Monaten oft schwer einschätzen. In der kinderärztlichen Praxis wird man bei einem späten Sprechbeginn aber stets eine vorsorgliche Überprüfung des Hörvermögens vornehmen.
Beobachtet man die sprachliche Entwicklung über einen Zeitraum von 8 bis 10 Monaten in der Altersspanne zwischen 2 ½ und 3 ½ Jahren, so lässt sich aus dem Entwicklungstempo eines Kindes ablesen, ob eine Sprachentwicklungsstörung besteht. Die Diagnose erfordert eine logopädische Diagnostik und / oder eine ausführliche entwicklungsdiagnostische Untersuchung. Hat man den Verdacht auf eine Sprachentwicklungsstörung oder einen Sprachentwicklungsrückstand, sollte man zunächst mit der Kinderärztin / dem Kinderarzt sprechen, der die nächsten erforderliche Untersuchungsschritte empfehlen kann.
Die folgende Liste nennt Früherkennungszeichen von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern im Alter von 3 Jahren (im Rahmen der U7 a):
- Der Wortschatz ist stark eingeschränkt (nur 20 bis 50 Wörter, maximal bis 100 Wörter).
- Das Kind verwendet meist Zwei- und Dreiwortverbindungen, Verben werden wenig gebraucht oder sind noch in Infinitivform.
- Es zeigen sich im Alltag Unsicherheiten im Sprachverständnis, z.B. bei Alltagsinstruktionen, das Kind hat keine Geduld, beim Vorlesen einer Geschichte zuzuhören.
- Die Aussprache ist sehr undeutlich, sodass Außenstehenden viele Äußerungen (bis 75 %) schlecht verstehen können.
- Das Kind zeigt im Kindergarten verstärktes Störungsbewusstsein, weil es sich mit anderen Kindern nicht verständigen kann.
- Zwischen verschiedenen sprachlichen Fähigkeiten zeigen sich starke Diskrepanzen (z.B. extrem undeutliche Sprache bei relativ komplexer Satzbildung).
Hat man bei einem Kind Hinweise auf einen allgemeinen Entwicklungsrückstand oder eine globale Entwicklungsstörung, so sollte so früh wie möglich eine genauere Abklärung über die kinderärztliche Praxis erfolgen. Wir sprechen von einem globalen Entwicklungsrückstand, wenn ein Kind um etwa ein Drittel in seinem Entwicklungsalter verzögert ist. Das bedeutet z.B. mit 24 Monaten um 6-8 Monate, mit 3 Jahren um 10-12 Monate. Auch bei einem globalen Entwicklungsrückstand können sich Stärken und Schwächen bei einem Kind zeigen, die man für die Förderplanung genau beschreiben muss.
Die folgen Übersicht nennt einige Hinweiszeichen auf einen globalen Entwicklungsrückstand bei einem Kind im Alter von 3 Jahren (36 Monaten)
- Fehlendes Interesse für symbolisches Spiel
- Wenig Initiative zur Beschäftigung mit Funktionsspielen
- Anhaltende Stagnation der aktiven Sprache, Wortschatz auf wenige Worte begrenzt
- Stark eingeschränktes Sprachverständnis in vertrauten Alltagssituationen
- Fehlende Handlungsplanung bei Spielabläufen und scheinbar chaotisches Spielverhalten
- Ausgeprägte sensorische Stereotypien
- Autistische Verhaltensmerkmale
Umschriebene motorische Störungen lassen sich bei Kleinkindern nur sehr schwer einordnen, oft muss man die Entwicklung eines Kindes über eine längere Zeit beobachten. In der Gruppensituation erkennt man motorische Entwicklungsrückstände manchmal daran, dass ein Kind bestimmte Spielaktivitäten oder motorische Anforderungen stark vermeidet.
Die Frage nach möglichen Entwicklungsrückständen und Entwicklungsstörungen beschäftigt uns in der frühen Kindheit bei Kindern mit Zustand nach extremer Frühgeburtlichkeit. Je nachdem wie schwer die perinatalen Risiken ausgeprägt waren, können sich im weiteren Verlauf Störungen der motorischen Entwicklung, der Sprache oder einzelner kognitiver Kompetenzen zeigen. Dabei ist in den ersten beiden Lebensjahren noch schwierig die Prognose für ein Kind abzuschätzen. Manche Entwicklungsstörungen werden erst mit 3 oder 4 Jahren deutlicher sichtbar. Deshalb plant man bei Kindern mit ehemaliger Frühgeburtlichkeit regelmäßige Entwicklungskontrollen und eine genaue Abstimmung der Frühförderung.
Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erhält im Moment sehr viel Aufmerksamkeit. Wichtig ist aber, dass man einzelne soziale oder emotionale Auffälligkeiten nicht zu schnell im Sinne eines autistischen Verhaltens deutet. Findet ein Kind wenig sozialen Anschluss, meidet es das Sprechen oder zeigt es einzelne schwer verständliche Verhaltensweisen, so können sich hinter solchen Eigenheiten ganz unterschiedliche Ursachen verbergen. Soziale Anpassungsprobleme können Hinweis auf einen Entwicklungsrückstand sein, sie sind aber noch kein eindeutiges Indiz für eine Autismus-Spektrum-Störung.
Welche Früherkennungsuntersuchungen können Eltern und pädagogische Fachkräfte nutzen, um diese festzustellen?
Im Rahmen der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen wird auf die Früherkennung von Entwicklungsrückständen besonders geachtet. Ein festes zeitliches Schema ist für die Vorsorgeuntersuchungen bereits im ersten Lebensjahr festgelegt. Da man Entwicklungsrückstände erst durch Verlaufsbeobachtungen besser einordnen kann, sind die Vorsorgeuntersuchungen mit 12 Monate (U 6), mit zwei Jahren (U 7), mit 3 Jahren (U 7a) und mit 4 Jahren (U 8) besonders wichtig. Die Praxis zeigt, dass Entwicklungsrückstände zu einem Teil erst im Alter zwischen 4 und 6 Jahren entdeckt werden. So gibt es manche Formen von Entwicklungsrückständen und Entwicklungsstörungen, die man in der frühen Entwicklung zunächst nicht genau einordnen kann. Auch kann es sein, dass die Kinderärztin / der Kinderarzt und die Eltern zunächst eine abwartende Haltung einnehmen, wie sich das Kind in den nächsten Monaten entwickeln wird.
Wichtig ist es mögliche medizinische Ursachen abzuklären, dies betrifft vor allem eine sorgfältige Untersuchung des Hörens und des Sehvermögens. Ist sich die kinderärztliche Praxis nicht klar, welche Diagnose bei einem Kind besteht, wird das Kind an eine spezialisierte Einrichtung, z.B. ein sozialpädiatrisches Zentrum überweisen. In diesem Zentrum erfolgt eine interdisziplinäre Abklärung der Ursachen und des Verlaufs einer Entwicklungsstörung und es wird ein systematischer Förderplan erarbeitet.
Wird eine Förderung als indiziert angesehen, so stimmt die kinderärztliche Praxis mit niedergelassenen Therapeuten oder eine Frühförderstelle die erforderlichen Therapieaufgaben ab. Prinzipiell ist eine frühe Förderung im Rahmen einer Entwicklungsstörung wichtig, um die frühen sensiblen Phasen des Lernens auszunutzen und um sekundäre Folgewirkungen einer Entwicklungsstörung z.B. soziale Verhaltensauffälligkeiten, zu vermeiden.
Welche Kompetenzen sind besonders wichtig für frühpädagogische Fachkräfte, um auf entwicklungsverzögerte Kinder richtig reagieren zu können?
Um Entwicklungsverzögerungen frühzeitig zu erkennen, ist ein genaues Wissen über die normalen Entwicklungsschritte im Kleinkind- und Vorschulalter und mögliche Einflüsse auf die kindliche Entwicklung wünschenswert. Auf Entwicklungsrückstände wird man oft aufmerksam, wenn ein Kind sich schwer auf den Kontakt zu Gleichaltrigen einstellen kann oder wenn sich Anpassungsschwierigkeiten in der Gruppe zeigen. Dabei sollte man nicht zu schnell auf mögliche Ursachen schließen, sondern zunächst ein Kind in verschiedenen Spielaktivitäten und in Gruppensituationen beobachten. Hilfreich für die Bewertung ist die Kenntnis der wichtigsten Meilensteine der Entwicklung und der Entwicklungsaufgaben, die ein Kind in den einzelnen Altersstufen bewältigen muss.
Frühpädagogische Fachkräfte sollten gleichzeitig mit einzelnen Früherkennungszeichen von Entwicklungsstörungen vertraut sein, so dass sie die Eltern auf mögliche Besonderheiten bei ihrem Kind hinweisen können. Die Möglichkeit ein Kind Tag für Tag zu erleben und seine sprachlichen und spielerischen Fortschritte zu beobachten, schärft den Blick für mögliche Auffälligkeiten der Entwicklung. Tatsächlich ergeben sich viel häufiger Hinweise auf Entwicklungsrückstände und Entwicklungsstörungen aus den Beobachtungen der Kindertagestätte als aus den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. Deshalb haben die Fachkräfte in der Frühpädagogik eine wichtige Rolle in der Früherkennung von Entwicklungsrückständen bei Kindern.