Rezension zum Artikel:„Reflexintegration“ als Behandlungsansatz für Lern- und Verhaltensschwierigkeiten von Kindern? (Walker 2021)
Silke Krämer
Lern- und Verhaltensschwierigkeiten bei Kindern sind ein höchst komplexes Thema – gerade die betroffenen Eltern können davon wohl ein Lied singen. Die Behandlungsmethoden der westlichen Schulmedizin setzen, beispielsweise bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche, direkt am spezifischen Symptom an (Meier 2022), während die Behandlung mit alternativen Heilmethoden, wie beispielsweise TCM, das ganzheitliche Bild der physischen und psychischen Gesundheit des Kindes in seinem Umfeld beobachtet (vgl. Schreiber 2018, S. 4-8).
Die für Eltern oft überwältigende Vielfalt an Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten begegnet auch mir bei meiner alltäglichen Arbeit, früher als Gymnasiallehrerin und heute als Expertin für Kinder und Jugendliche. In diesem Zuge antworte ich hier auch auf den Artikel von Barbro Walker (2021), der sich mit der Frage beschäftigt, ob das Konzept ‚Reflexintegration‘ wissenschaftlich fundiert ist – und ob es für Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten empfohlen werden kann. Frau Walker macht ihre Position hierzu eindeutig klar:
„Seit einigen Jahren fallen auf dem gewerblichen Lebenshilfemarkt Angebote auf, die Pädagogen und Eltern, deren Kinder unter Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten leiden, eine wirksame Hilfe versprechen: Unter Schlagwörtern wie „Reflexintegration“ oder „Integration frühkindlicher Reflexe“ werden Behandlungen für Kinder angeboten, die angeblich unter einer „Persistenz frühkindlicher Reflexe“ leiden. Zur Thematik werden auch entsprechende Schriften und Übungsmaterialien angeboten.
Die Anbieter behaupten, dass einige Kinder angeborene frühkindliche Reflexe nicht überwänden und in der Folge in ihren psychischen, kognitiven und motorischen Kompetenzen beeinträchtigt seien. Dies mache sich durch Verhaltensauffälligkeiten und insbesondere durch Lernschwierigkeiten bemerkbar. Mit spezifischen körpernahen Behandlungstechniken könnten die persistierenden Reflexe angeblich „integriert“ werden. Dadurch verlören sie ihre störende Wirkung[1].
Die folgende Abhandlung wird der Frage nachgehen, ob die Idee von der „Reflexintegration“ wissenschaftlich fundiert ist und ob sie als Behandlung von Verhaltens- und Lernschwierigkeiten bei Kindern empfohlen werden kann. Kriterien für eine wissenschaftliche Fundierung sind die Plausibilität und Widerspruchsfreiheit der getätigten Annahmen sowie ihre Konsistenz mit wohlbestätigten wissenschaftlichen Erkenntnissen und darüber hinaus die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der propagierten Behandlung.“ (Walker 2021, o.S.)
Eine grundlegende Skepsis, die das Wohlergeben des Kindes in den Fokus setzt, ist dabei durchaus nachzuvollziehen. Folglich soll es zu keiner Bereicherung durch die Herausforderungen und Probleme Dritter kommen. Demgegenüber steht die Frage: Reicht ein reines Ehrenamt, um die dringend notwendige und gewünschte Unterstützung ermöglichen zu können? Wohl kaum, denn Eltern wünschen sich, dass sich ein Experte mit ausreichend Zeit und Motivation ihrem Familienthema annimmt und Hilfe anbietet. Diese Feststellung ergibt sich durch die vielen hunderte Gespräche, die ich mit Eltern in der Vergangenheit geführt habe.
Frau Walker kommt zu dem Schluss, dass Reflexintegration nicht empfohlen werden kann und ist davon überzeugt, dass Reflexintegration nicht plausibel oder mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar sei. Fachlich begegnen mir beim ersten Lesen des Artikels einige inhaltliche Bedenken. So werden bei der pädiatrischen Früherkennungsuntersuchung nicht alle Reflexe überprüft, wie Frau Walker schreibt, sondern nur einige wenige (vgl. Baumann et al. 2018, S. 56ff.). Die Überprüfung soll zerebrale Bewegungsstörungen aufdecken. Medizinisches Fehlwissen ist an dieser Stelle ausschlagend, hinsichtlich der Beurteilung der Reflexintegration.
Des Weiteren stützt Frau Walker ihre Kritik stark darauf, dass es keine oder zu wenig Studien mit Belegen gäbe, die den Erfolg der Methode garantieren. Faktisch mag dies stimmen, doch möchte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass es allgemein bekannt ist, dass Studien, Medikamente und ausführliche Berichte in jenen Forschungsbereichen vorhanden sind, in denen die Industrie Geld damit verdienen kann. Die westliche Medizin ist, nach rein logischer Schlussfolgerung, als System in dieser Hinsicht eine bedingt verlässliche Quelle, deren Erkenntnissen Patient/-innen blind folgen können.
Ein Blick über den Atlantik zeigt, dass in den USA zum Beispiel Dr. Robert Melillo seit über 30 Jahren mehreren tausenden Kindern dabei geholfen hat, Lernschwierigkeiten zu überwinden. Er arbeitet unter Einbeziehung der Reflexintegration erfolgreich mit Kindern, die von ASS, ADHS, LRS, Sprachverzögerung uvm. betroffen sind (vgl. Melillo 2020).
Dass Krankenkassen die Reflexintegration als Training und nicht als Therapie ansehen und daher als Präventionsmaßnahme fördern (vgl. Meier 2022), ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Frau Walkers Argumentation am falschen Punkt ansetzt:
„Im Zuge dieser Entwicklung verschwinden einige der postnatal noch beobachtbaren Reflexe, weil sie durch willentliche motorische Abläufe abgelöst werden: „Viele Reflexe werden von älteren Hirnteilen (dem sog. Hirnstamm) kontrolliert. Sobald jedoch das Großhirn in seiner Entwicklung weit genug vorangeschritten ist, übernimmt dieses Steuerungsfunktionen. Aus diesem Grund verschwinden viele Reflexe, die für das Neugeborene kennzeichnend sind. (…). Der Übergang der Kontrolle von älteren zu jüngeren Hirnteilen erfolgt in der Regel reibungslos (…)“ (Mietzel, 2019, S. 115).
Zu den verschwindenden Reflexen zählen beispielsweise der Schreitreflex oder der Greifreflex. Für die verschwindenden Reflexe gibt es jeweils spezifische Zeitfenster, in denen sie sich zurückbilden (vgl. z.B. Wilkening, 2013). Das Verschwinden einzelner angeborener Reflexreaktionen ist im Rahmen der normalen Entwicklung ein ganz natürliches Geschehen, das bei gesunden Kindern, die in einer zumindest durchschnittlich anregungsreichen Umwelt aufwachsen, völlig automatisch geschieht.
Ein Fehlen eines frühkindlichen Reflexes im Säuglingsalter kann auf eine organische Beeinträchtigung des Zentralnervensystems hinweisen. Dies kann beispielsweise bei neurologischen Beeinträchtigungen wie sie etwa bei Zerebralparesen, intrakraniellen Läsionen, Epilepsien, peripheren Muskelerkrankungen vorliegen, beobachtet werden (vgl. z.B. Frankenburg et al., 1986). Auch ein Persistieren von Reflexreaktionen, die einem frühen Reifegrad eines kindlichen Gehirns entsprechen, ist in Ausnahmefällen zu beobachten wie z.B. bei geistig behinderten oder motorisch stark beeinträchtigten sowie bei blind geborenen Kindern, bei denen die fehlende visuelle Stimulation zu einer verzögerten Entwicklung der Motorik führen kann.“ (Walker 2021, o.S.)
Sie zitiert, dass „Der Übergang der Kontrolle von älteren zu jüngeren Hirnteilen erfolgt in der Regel reibungslos (…) (Mietzel, 2019, S. 115)“ erfolge und schreibt wiederholt, dass ein Persistieren oder Wiederauftreten von Reflexen bei gesunden Kindern nicht zu erwarten sei.
Ein Kind mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten, die so ausschlaggebend auftreten, dass die Eltern Hilfe aufsuchen, ist schlichtweg sehr belastend für die Familie. Die Definition der Begriffe „gesund“ oder „krank“ folgen einer stark formalisierten Struktur, die lediglich eine mögliche Erklärung dafür sein kann, das schlechte elterliche Gewissen zu beruhigen.
Der Dreh- und Angelpunkt der Reflexintegration ist die Annahme, dass die automatische Ausreifung des Gehirns, die Frau Walker erwähnt, nicht im erforderlichen Maße stattgefunden hat und deshalb unterstützt werden muss. Zu dieser wichtigen Kernfrage zitiert sie wissenschaftliche Untersuchungen, die eine solche Entwicklung für ein schwerwiegendes Krankheitsgeschehen außerhalb des Möglichen bei einem gesunden Kind halten. Sie schreibt:
„Wie jedoch diese Persistenz überhaupt zustande kommen soll, wo nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bei gesunden Kindern die Ablösung frühkindlicher Reflexe durch die zunehmende Ausreifung des Großhirns völlig automatisch geschieht, bleibt im Dunkeln.“ (Walker 2021, o.S.)
Jene Fälle, in denen dieser Prozess nicht reibungslos funktioniert – auch hier wieder die Schlussfolgerung, dass jede Funktion des menschlichen Körpers eben auch nicht funktionieren kann – erwähnt Frau Walker nicht. Mit diesem Hinweis auf die fehlende westlich-medizinische Erklärung zu den Wirkungsweisen der Reflexintegration zeigt sie also lediglich auf, dass die Schulmedizin sich dieses Problems nicht annimmt. Frau Walker möchte die Behandlung und ihre Wirksamkeit folglich mit den Maßstäben eines Systems bewerten, das den Ursprung des Problems weder erkennt noch erklären kann.
Eines von vielen Beispielen einer vorerst „unkonventionellen“, in der medizinischen Fachwelt umstrittenen Behandlungen mit Bewegung ist, die von der Australierin Elizabeth Kenny entwickelte Methode, Kinderlähmung mit Physiotherapie zu kurieren – auch hinter diesem (mittlerweile anerkannten, erfolgreichen) Konzept verbirgt sich das Verständnis, dass geschädigte Abläufe im Gehirn über gezielte Bewegung, Massage und Entspannung geheilt werden können (Ross 1983).
Auf dieser Ebene könnte ich noch lange weiterschreiben: Weshalb ist die ‚große Menge und inhaltliche Variationsbreite der potenziellen Symptomatologie‘, die mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen ein Zeichen dafür, dass Reflexintegration fragwürdig ist? Wissen wir nicht alle von uns selbst, dass ‚Störungen‘ wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Konzentrationsprobleme mit tiefen Ursachen zusammenhängen und nicht der einfachen Kausalität von angehauenem Ellenbogen und blauem Fleck folgen?
Oder ich könnte auch zu der damit zusammenhängenden Frage schreiben, ob die westliche Medizin mit ihrem Fokus auf Zahlen, auf Durchschnitte und Beweise nicht viel zu schwarz-weiß ist, um den menschlichen Körper, die Psyche und den Geist zu verstehen… doch bis ich hiermit fertig wäre, wären alle Kinder mit Lernschwierigkeiten wahrscheinlich längst Erwachsene!
Im Vordergrund jeder Kritik sollte die Frage stehen, ob sie hilfreich ist.
Bei aller Kritik und Suche nach wissenschaftlichem Hintergrund schlägt Frau Walker keinerlei Lösungsansätze vor. Dies wird auch offensichtlich, wenn man die Liste, der von ihr publizierten Schriften durchgeht. Es findet sich dort ausschließlich Kritik. Durch meine ausführliche alltägliche Arbeit mit Kindern und ihren Eltern weiß ich, wie unglaublich wichtig eine lösungsorientierte Herangehensweise außerhalb theoretischer wissenschaftlicher Diskussionen ist. Mir ist bewusst, dass meine Bewertung des Artikels an dieser Stelle die eng abgesteckten Grenzen der (zumindest vermeintlich) sachlich-objektiven Rezension im Stile einer Universitätsarbeit überschreitet.
Meine Erfolgsberichte aus vielen Jahren Arbeit mit zahlreichen Familien, denen ich mit der Reflexintegration helfen konnte, oder die von Kolleginnen Hilfe und Verbesserung erfahren haben, sind keine Statistiken einer anonymen Studie. Jedoch weiß ich sicher, wie viel der Heilung durch das System der Reflexintegration kam und wie viel durch eine liebevolle, angstfreie Zuwendung zu den Problemen des Kindes und seinem Umfeld? Nein. Aber Lösungen und positive Veränderungen gab es und das ist die Hauptsache meiner Meinung nach.
Während es natürlich wichtig ist, Kinder als Verbraucher und als Menschen vor der Enttäuschung falscher Erfolgsversprechen oder gar vor Schaden durch unvorsichtige Ansätze zu schützen, möchte ich also doch stark davon abraten, eine sanfte und kinder-freundliche Methode wie Reflexintegration komplett abzuschreiben. Vielleicht sollten wir, als Coaches, Trainer, Therapeuten, Mediziner, Professoren und sonstige kompetente Erwachsene, uns nämlich gar nicht so krampfhaft darauf konzentrieren, ob Methode A oder B am logisch-sinnvollsten, schnellsten und häufigsten im Durchschnitt wirkt, sondern viel mehr zu der Frage zurückkehren, wie wir, als Menschen mit Gefühlen, den Kindern, die uns anvertraut werden am besten weiterhelfen können.
Denn Heilung ist nie zu 100% garantiert, sei die Medizin oder Methode noch so wissenschaftlich erprobt. So können wir, als Helfende und als Eltern, immer nur aus dem besten Gewissen heraus agieren und darauf vertrauen, dass ein aufmerksames Ohr an der richtigen Stelle, eine helfende Hand und ein offenes Herz der Schlüssel zu einer erfolgreichen Maßnahme sind. Das sehe ich persönlich als Kern meiner Arbeit – und der Weg dorthin, ob er dann Reflexintegration heißt oder nicht, ist so individuell wie jedes Kind.
Literaturverzeichnis
Baumann, T. et al. (2018): Zerebralparese. Diagnose, Therapie und multidisziplinäres Management. Georg Thieme Verlag KG: Stuttgart. DOI: 10.1055/b-0038-151404.
Schreiber, H. (2018): ADS/ADHS bei Kindern mit Chinesischer Medizin behandeln. Naturheilkunde Journal, S. 4-8.
Walker, B. (2021): „Reflexintegration“ als Behandlungsansatz für Lern- und Verhaltensschwierigkeiten von Kindern? https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-besonderen-beduerfnissen-integration-vernetzung/verhaltensauffaellige-kinder/reflexintegration-als-behandlungsansatz-fuer-lern-und-verhaltensschwierigkeiten-von-kindern/ (Stand: 14.12.2022)
Internetquellen
Meier, T. (2022): RIT®-Reflexintegration. https://www.bvl-legasthenie.de/legasthenie/therapieansaetze.html (Stand 28.09.2022).
Melillo, R. (2020). Learning disability. https://www.drrobertmelillo.com/about/. (Stand: 14.12.2022).
Ross P. (1983): 'Kenny, Elizabeth (1880–1952)', Australian Dictionary of Biography, National Centre of Biography, Australian National University, https://adb.anu.edu.au/biography/kenny-elizabeth-6934/text12031, published first in hardcopy 1983, accessed online 14 December 2022.
Autorin
Silke Krämer ist Expertin für Jugend- und Familienfragen in Heidelberg. Sie hat 10 Jahre als Gymnasiallehrerin gearbeitet und hilft heute in eigener Praxis, wenn es Schulstress gibt und daheim die Fetzen fliegen. Mütter und Väter unterstützt sie dabei, sich den Herausforderungen des Alltags selbstbewusst zu stellen.