Autismus im Kindesalter

Alexandra Sinzinger

Einleitung

Der Schweizer Psychiater Paul Eugen Bleuler (1857-1939), der vor allem bekannt geworden ist durch seine wegweisenden Leistungen in der Schizophrenieforschung, prägte 1911 als erster den Begriff „Autismus“ als medizinischen Fachbegriff und ordnete diesen zunächst dem Spektrum der schizophrenen Erkrankungen zu. Autistische Verhaltensweisen nach Bleuler sind z.B. durch Kontaktschwierigkeiten oder Störungen des Realitätsbezugs gekennzeichnet.

Bezogen auf Kinder berichtete der austro-amerikanische Kinderpsychiater Leo Kanner (1896-1981) 1943 erstmals über Autismus in seiner Studie über 11 Kinder, die Kontaktschwierigkeiten zeigten sowie Probleme beim Eingehen von Beziehungen aufwiesen: „The outstanding, pathognomonic‘ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life.“ (Kanner 1943, S. 242). Kanner ging hier von einer affektiven sowie angeborenen Störung aus: „We must, then, assume that these children have come into the world within nate inability to form the usual, biologically provided affective contact with people, just as other children come into the world with innate physical or intellectual handicaps.“ (edb.)

In diesem Interview befragen wir Expert:innen zum Thema Autismus im Kindesalter.

Was wird unter frühkindlichen Autismus bzw. dem Kanner-Syndrom verstanden?

Frühkindlicher Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich bereits in den ersten 3 Lebensjahren in ihrer Symptomatik zeigt und viele Lebensbereiche des Kindes betrifft (Kommunikation, Sprachentwicklung, Interaktion, Spielverhalten, Interessen, Stereotypien, Wahrnehmung, …).

Welche Merkmale kennzeichnen frühkindlichen Autismus und ab welchem Alter kann eine verlässliche Diagnose gestellt werden?

Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus zeigen sich erste Symptome oft bereits sehr früh. Die Kommunikation sowie die wechselseitige soziale Interaktion sind beeinträchtigt. Der Blickkontakt mit der Bezugsperson ist eingeschränkt, es bestehen wenig Mimik und soziales Interesse. Das nonverbale frühe „Teilen“ der Aufmerksamkeit mit der Bezugsperson im 1. Lebensjahr (z.B. auf etwas zeigen, sich etwas zeigen lassen, Aufmerksamkeitsfokus teilen) ist beeinträchtigt. Es besteht eine Beeinträchtigung der verbalen Kommunikation (Sprachentwicklungsverzögerung) sowie der nonverbalen Kommunikation (fehlende Versuche, die beeinträchtigte verbale Kommunikation nonverbal durch Mimik und Körpersprache zu kompensieren).

Das Interesse von Kindern mit frühkindlichem Autismus gilt nicht anderen Kindern, sondern vorwiegend bestimmten Objekten und Handlungen. Besonderheiten zeigen sich im Spielverhalten, das stereotyp ist. Bestimmte Handlungen werden wiederholt (z.B. Aufstellen von Gegenständen, „Kreiseln“) bzw. ungewöhnliche Objekte sind sehr interessant (Rohre, WCs, …). Routinen sind wichtig, Veränderungen lösen heftige aversive Reaktionen aus, was für den Alltag der betroffenen Familien häufig eine starke Belastung darstellt. Starke Ritualisierungen bzw. Zwänge zeigen sich. Besonderheiten bestehen auch im Bereich der Wahrnehmung (sensorische Überempfindlichkeiten). „Viele Menschen“ werden rasch zuviel. Rückzug wird gebraucht und gesucht. Wutausbrüche sowie Aggressionen gegen die eigene Person können vorhanden sein. Oft besteht eine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung, diese fehlt beim hochfunktionalen Autismus.

Eine frühe diagnostische Abklärung ist sinnvoll, um die Entwicklung bereits in jungen Jahren durch Therapien, Unterstützungsangebote im Umfeld des Kindes und Elternarbeit fördern zu können. Eine sichere Diagnose ist mit 4-5 Jahren definitiv möglich, oft auch bereits davor (je nach Ausprägung der Symptomatik sind Diagnosen bzw. Verdachtsdiagnosen auch bei 1jährigen Kindern möglich).

Was wird unter Autismus-Spektrum-Störungen subsumiert?

„Autismus-Spektrum-Störungen“ ist die „neuere“ Bezeichnung (Diagnosen nach dem Klassifikationsschema ICD-11), die den frühkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom sowie andere Formen der tiefgreifenden Entwicklungsstörung (Diagnosebezeichnungen nach ICD-10) umfasst. Gemeint ist damit, dass es sich um ein Spektrum an autistischen Symptomen handelt, die die Diagnose ausmachen. Die Symptome von Autismus-Spektrum-Störungen sind den Kernbereichen Kommunikation, wechselseitige soziale Interaktion sowie eingeschränktes, stereotypes Verhalten/eingeschränkte, intensive Interesse zugeordnet. Eine genauere Differenzierung der Autismus-Spektrum-Störungen erfolgt dann danach, ob eine Sprachentwicklungsstörung und/oder eine Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung vorliegen.

Welche psychischen Begleitstörungen können bei autistischen Kleinkindern auftreten?

Häufig bestehen als Begleitstörungen Wutausbrüche, aggressives Verhalten gegenüber sich selbst oder anderen Personen, Essstörungen, Schlafstörungen sowie starke Ritualisierungen bis Zwänge.

Wie können pädagogische Fachkräfte autistische Kinder in ihrer Entwicklung bestmöglich unterstützten?

Wesentlich ist vor allem ein fundiertes störungsspezifische Wissen über Autismus-Spektrum-Störungen der Fachkräfte, weil dadurch das Kind in seinem Erleben und Verhalten besser verstanden und unterstützt werden kann sowie eine Zusammenarbeit im Team, mit den Eltern und mit TherapeutInnen. Klare Strukturen und geregelte Abläufe geben Halt und Sicherheit. Rückzugsmöglichkeiten sind wichtig sowie das Finden einer Balance zwischen dem Ausleben lassen eigener Interessen bzw. des Rückzugs einerseits und der Arbeit am Kontakt, an der sozialen Integration in kleinen Schritten andererseits.

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