Dr. Marianne Kokigei/Evelore Burkert
Kai kam mit einem Jahr in die Krippe der Kita Sonnenschein. Die Eingewöhnung gestaltete sich schwierig, denn Kai konnte sich auch nach gut 3 Wochen nicht von seiner Mutter lösen und sich auf seine Bezugserzieherin einlassen. Nach einem Jahr in der Krippe fiel es Kai immer noch schwer, in der Kindergruppe seinen Platz zu finden. Das wurde besonders in Situationen deutlich, in denen er sich anpassen MUSSTE: Wenn alle Kinder in den Garten gingen oder sich an den Tisch zum Mittagessen setzen sollten oder sich zum Schlafen auf ihre Matte legten.
Der Druck auf Kai nahm zu, sein Verhalten wurde immer "auffälliger", er reagierte mit Geschrei, warf sich auf den Boden, versteckte sich unter dem Tisch. Alle waren mit der Situation überfordert vor allem die Krippenerzieherinnen. Soll sich der Alltag in der Krippe für Kai in seinem Interesse verändern, müssen wir Erwachsenen uns unserer Verantwortung bewusst werden und z. B. die Struktur in der Krippe verändern. Die Einengung für Kai in den genannten Situationen lässt sich nur verhindern, wenn wir Erwachsenen Kai (und alle anderen Kinder) an Entscheidungen im Alltag beteiligen und Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen.
In diesem Beispiel hieße es: aus 2 Krippengruppen mit jeweils 11 Kindern und 4 Erzieherinnen wird EIN Krippenbereich. Die 4 Erzieherinnen verstehen sich als ein "Kleinteam", die den Alltag mit 22 Kinder gestalten und ihnen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen:
- die Kinder können in den Räumen oder im Garten spielen, bei Ausflügen haben sie die Möglichkeit teilzunehmen oder in der Kita zu bleiben,
- es gibt auch während der Mittagsruhe Möglichkeiten, in einem anderen Raum zu spielen. Einengung, Spielunterbrechungen oder verordnete Schlaf- bzw. Ruhephasen können minimiert werden.
Wir reden bewusst von „Erwachsenen“, denn wir meinen nicht nur die Verantwortung von Erzieher/innen, sondern auch die der Leitung, des Trägers, von Berater/innen und Fortbildner/innen – also von allen Professionellen im Bereich Kindertagesstätten. Und auf denen also auf uns liegt der Fokus dieses Beitrages. (Die Eltern gehören selbstverständlich dazu, stehen aber in diesem Artikel nicht im Mittelpunkt, wenn wir von Verantwortung der Erwachsenen reden.)
Diese Verantwortung wollen wir an den drei gesetzlich verankerten Aspekten des Bildungs- und Erziehungsauftrages ( SGB VIII, § 8 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, § 8a Schutzauftrag, § 79a Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) aufzeigen: Partizipation, Kinderrechte und Kinderschutz (siehe Abb. 1). Das Thema "Feinfühligkeit" zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche des pädagogischen Handelns. Wir konkretisieren es zum Abschluss am Beispiel der Eingewöhnung.
Abb. 1: Verantwortung der Erwachsenen für eigenständige & selbstbewusste Kinder. Quelle: Eigene Darstellung Dr. Marianne Kokigei & Nora Kokigei
Wir wollen in unserem Beitrag Gedanken mitteilen und Zusammenhänge beschreiben, um Mut zu machen und Möglichkeiten aufzuzeigen... und gleichzeitig unmissverständlich deutlich machen, dass wir Erwachsenen verantwortlich sind für das, was aus den Kindern wird!
Partizipation
Partizipation ist die Kinderstube der Demokratie
Demokratie ist ein hohes Gut, das andere vor uns erkämpft haben. Es ist an uns, dieses Gut zu verteidigen und es nicht als selbstverständlich zu betrachten – vor allem angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage. Wir tragen als Erwachsene die Verantwortung dafür, dass die Kinder in diese Demokratie hineinwachsen, sie bewahren und weiterentwickeln und dafür gut ausgestattet sind mit Wissen und Erfahrung. Die Beteiligung der Kinder ist daher Bestandteil des pädagogischen Auftrags!
Partizipation heißt Vertrauen in die Kinder haben
Die Kinder sind fähig und hochmotiviert, etwas beizutragen zum Kita-Leben, etwas zu beeinflussen und etwas zu bewirken. Dafür müssen die Kinder entsprechende Erfahrungen machen. Im Berliner Bildungsprogramm heißt es dazu:
"Ich bin willkommen
ich gehöre dazu,
ich werde gesehen,
ich bin hier wichtig
und trage dazu bei, was hier ist." (BBP 2014, S. 13)
Partizipation ist ein Prozess und beginnt im Team
Obwohl Partizipation ein gesetzlicher Auftrag ist lässt sie sich nicht verordnen. Die Erwachsenen müssen davon überzeugt sein!! Kinder beteiligen bedeutet für uns Erwachsene Macht abgeben! Denn wir Erwachsenen haben das Sagen, wir bestimmen wo es langgeht, wir treffen die Entscheidungen. In dem Buch "Partizipation in Kindertageseinrichtungen"(2011) steht dazu: "Die pädagogischen Fachkräfte können dabei feststellen, dass die Kita in vielen Bereichen manchmal eher einer Monarchie als einer Demokratie ähnelt". Daher sind Diskussionen im Team wichtig zu den Fragen:
- Wer trifft in unserer Kita Entscheidungen?
- Was bedeutet es für uns im Team Macht abzugeben?
- Wo will ich/wollen wir Macht abgeben?
- Wo will ich/wollen wir die Kinder in Zukunft beteiligen?
Abb. 2: Interner Teamprozess: „Wo wollen wir Macht abgeben“. Quelle: Eigene Darstellung Dr. Marianne Kokigei & Nora Kokigei
Und dazu gehört auch zu entscheiden: Wo wollen und müssen wir in jedem Fall die Macht und die Entscheidungshoheit behalten" (siehe Abb. 2). Die Diskussion dieser Fragen bringen unterschiedliche Haltungen und Bedenken im Team an die Oberfläche.
- Wenn Kinder entscheiden, ob sie an Angeboten teilnehmen: Wie lernen sie die Vielfalt der Möglichkeiten kennen, innerhalb der Kita und in ihrem Umfeld?
- Wenn Kinder nicht basteln wollen: Wie lernen sie, mit der Schere umzugehen?
- Wenn Kinder nicht "kosten" möchten: Wie sollen sie einschätzen, ob Erbsen ihnen schmecken?
- Wenn Kinder auch mit ihren Händen essen können: Wie lernen sie Tischmanieren?
- Wenn Kinder sich immerzu entscheiden möchten: Wie lernen sie, sich anzupassen und einzuordnen?
Beispiel: Teilnahme an Aktivitäten
Es gibt Angebote der Erzieher/innen und die Kinder wählen aus, entscheiden, woran sie teilnehmen wollen. Das bedeutet, dass wir Erwachsene einen Rahmen entwickeln und zur Verfügung stellen, der den Kindern Beteiligung ermöglicht:
- Wenn die Kinder entscheiden, ob sie in den Räumen oder im Garten spielen,
muss gewährleistet sein, dass z. B. Erzieher/innen im Garten als Ansprechpartner/innen zur Verfügung stehen
- Wenn Kinder an einem Ausflug nicht teilnehmen wollen, muss geregelt sein, wo sie in der Kita betreut werden bzw. wo sie spielen können.
Wenn Sie sich also in Ihrem Team dafür entscheiden, dass die Kinder über ihre Teilnahme an Aktivitäten bestimmen, dann planen Sie neben den Angeboten gleich mit, wer von Ihnen die Aufgabe übernimmt, Ansprechpartner/in für die Kinder zu sein, die nicht mitmachen wollen und wo diese Kinder dann spielen können.
Die Kinder brauchen die Sicherheit, dass Absprachen eingehalten werden, dass sie sich auf die Erwachsenen verlassen können. Das bedeutet, über die Teilnahme an Angeboten zu entscheiden gilt immer und nicht nur dann, wenn den Erwachsenen "nach Beteiligung zumute ist". So wie Gesetze in der Demokratie auch immer und für jeden gelten. Diese Verlässlichkeit können nur wir Erwachsene gewährleisten, dafür sind wir verantwortlich und die Kinder können sich darauf verlassen! Und wenn es nicht funktioniert, dann haben wir unsere Verantwortung nicht angemessen wahrgenommen.
Es ist wichtig zwei Ebenen von Verabredungen zu unterscheiden
- gemeinsame Regeln für Kinder (und Erwachsene),
die mit den Kindern erarbeitet und beschlossen werden.
Beispiel: Die Kinder können in den Räumen oder im Garten spielen.
- Isso's das sind Regeln, die die Erzieher/innen erlassen ohne Beteiligung der Kinder (dazu gehören auch Gesetze, Vorgaben des Trägers...).
Beispiel: Kein Kind verlässt alleine das Kita-Gelände oder positiv formuliert: Kinder verlassen das Kitagelände nur in Begleitung ihrer Eltern/oder Bezugspersonen – und sagen vorher Bescheid!
Alle Erwachsenen stehen vor der großen Aufgabe, gemeinsam entwickelte Regeln und "Isso's in einer angemessenen Balance zu halten!
Partizipation wird auf verschiedenen Ebenen sichtbar
Im Team spiegelt die Art wie Entscheidungen getroffen werden, den Führungsstil der Leitung wider und die Möglichkeit jedes Teammitgliedes, mit eigenen Ideen und Vorstellungen gehört und wahrgenommen zu werden. Durch die Beteiligung der Mitarbeiter/innen kann die Vielfalt der Kompetenzen genutzt und auch für Erzieher/innen Selbstwirksamkeit erfahren werden. Ein Beschwerdemanagement gilt nicht nur für Kinder und ihre Eltern, sondern auch für alle pädagogischen Fachkräfte! Der Träger bestimmt den Entscheidungsrahmen und unterstützt damit Partizipation oder schränkt sie ein oder verhindert sie.
Rechte von Kindern
1. das Recht auf Gemeinschaft und Solidarität in der Gruppe
2. das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, sich zurückzuziehen
3. das Recht, zu schlafen oder sich auszuruhen, wenn es müde ist, aber nicht "schlafen zu müssen"
4. das Recht auf einen individuellen Entwicklungsprozess und sein eigenes Tempo dabei
5. das Recht auf Hilfe und Schutz bei der Verarbeitung von gewalttätigen und zerstörerischen Situationen
6. das Recht, so akzeptiert zu werden, wie es ist
7. das Recht auf aktive, positive Zuwendung und Wärme
8. das Recht auf Spielen und darauf, sich die Spielgefährten selbst auszusuchen
9. das Recht auf verantwortungsbewusste und engagierte Bezugspersonen
10. das Recht auf eine gleichwürdige Beziehung zu Erwachsenen
11. das Recht auf zuverlässige Absprachen mit Erwachsenen
12. das Recht zu forschen und zu experimentieren, vielfältige Erfahrungen zu machen
13. das Recht auf Phantasie und eigene Welten
14. das Recht, mit Gefahren umzugehen
15. das Recht, die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zu erfahren
16. das Recht, sich im Rahmen seiner Fähigkeiten dort aufzuhalten, wo es will
17. das Recht auf eine vielfältige, anregungsreiche und gestaltbare Umgebung
18. das Recht auf eine gesunde Ernährung, auf Menschen, die die Frage, was gesund sei, thematisieren
19. das Recht zu essen und zu trinken, wenn es Hunger und Durst hat
20. das Recht, die eigenen Bedürfnisse im Sinne einer gesunden Entwicklung zu entfalten
|
Abb. 3: Kinderrechte. Quelle: Eigene Darstellung aus: Kokigei, M. (2018): Wie eine Konzeption entsteht und aktuell bleibt. Siehe: http://www.kokigei.de/konzeption.html
Im Kasten sehen Sie eine Liste von Kinderrechten aus der Broschüre "Wie eine Konzeption entsteht und aktuell bleibt" (Marianne Kokigei, Mai 2018). Grundlage dieser Liste ist die UN Kinderrechtskonvention, die am 20.11.1989 verabschiedet wurde. Allen Rechten von Kindern immer Geltung zu verschaffen, das ist ein schwieriges Unterfangen!
Daher unsere Empfehlung: Setzen Sie im Team Prioritäten. Wenn es dann in der Kita leichter und selbstverständlicher geworden ist, diesen (ausgewählten) Rechten Geltung zu verschaffen, dann nehmen Sie weitere Rechte in den Fokus und gehen so die nächsten Schritte der Umsetzung im Team. Wir wollen an unseren (momentanen) Favoriten verdeutlichen, worin die Verantwortung von uns Erwachsenen im Punkt "Rechte von Kindern" liegt.
4. Das Recht auf einen individuellen Entwicklungsprozess und sein eigenes Tempo
Dazu wünschen wir uns:
- dass es kein Raster und keine Schubladen gibt, was ein Kind in welchem Alter können muss/soll,
- dass wir Erwachsene davon überzeugt sind, dass Unterschiede zwischen Menschen eine Bereicherung sind ohne Bewertung,
- dass der Wechsel innerhalb der Kita zwischen Krippe und Kindergarten nach dem Entwicklungsstand erfolgt und nicht nach dem biologischen Alter.
1. Beispiel für das eigene Tempo "Sauber werden"
Foto 1 © Dr. Marianne Kokigei
Es gibt Windeln, es gibt Toiletten (und manchmal auch noch ein, zwei Töpfe) und die Kinder entscheiden, welches "Mittel" für sie angemessen ist. Und Kinder können an unterschiedlichen Tagen oder in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen "Mitteln" greifen ohne negative Kommentare zu hören. Alle Kinder lernen, Blase und Schließmuskel zu kontrollieren (wenn sie dazu körperlich in der Lage sind). Manche Kinder beginnen damit früh, manchen gelingt diese Kontrolle zuverlässig mit 6 oder 7 Jahren. Statistisch sind sie dann immer noch 80 Jahre "windelfrei".
2. Beispiel für das eigene Tempo "Laufen lernen"
Manche Kinder stehen mit 11 Monaten (ohne äußeren Druck) auf ihren eigenen Beinen.
Manche sitzen frei mit 14 oder 16 Monaten, manche krabbeln früh und andere gar nicht. Das bedeutet für uns Erwachsene, Kinder zu ermutigen, ihnen Zeit zu lassen, sie nicht in Positionen bringen, die sie allein (noch) nicht einnehmen können (hinsetzen, hinstellen, an den Händen mit ihnen laufen, sie hochheben zum Klettern).
Wenn wir Kinder ihren Weg in ihrem Tempo "gehen" lassen, dann erleben wir selbstbewusste Kinder, die sich sicher und "elegant" bewegen, die ihre Fähigkeiten einschätzen können, die ihren Körper kennen.
8. Das Recht auf Spielen und darauf, Spielgefährten selbst auszusuchen
Dazu wünschen wir uns:
- wenig bis gar keine Spielunterbrechungen.
- spielen in unterschiedlichen Konstellationen: alleine, zu zweit, zu mehreren.
- Erwachsene, die wissen, dass ich als Kind im Spiel am besten lerne und mich dabei stets mit dem beschäftige, was mich wirklich interessiert.
Foto 2 © Dr. Marianne Kokigei
- anregungsreiches Spielmaterial (wenig vorgegebenes und Material, das sich umfunktionieren lässt, das vielfältig einsetzbar ist) und ganz viel davon: 1000 Holzbausteine, 1000 Wäscheklammer, 500 Würfel...
- dass Kinder Dinge „zweckentfremden“ können (Tische werden zu Zelten und Höhlen, Hocker zu Kletter- und Balancierstrecken, Aufbewahrungskisten zu Booten...).
- klar strukturierte Räume, dass ich als Kind weiß, wo ich etwas finde.
Das bedeutet für uns Erwachsene, durchlässige Strukturen entwickeln, z. B. Öffnung innerhalb der Kita, Angebote, aus denen die Kinder wählen können, ein flexibler Tagesablauf... Das bedeutet auch zu wissen, dass das Spiel der Kinder für ihre Entwicklung oft bedeutsamer ist als unsere Angebote! Das könnte heißen, Aussagen von Eltern „ach, die spielen ja nur...“ beherzt entgegenzutreten, die Eltern fachlich zu informieren und sie mit ins Boot zu holen. Dazu gehört auch, die Rolle von Erwachsenen zu überdenken:
- mehr Begleiter/in und weniger Animateur/in,
- mehr Beobachter/in und weniger Anleiter/in,
- sich mehr zurücknehmen und weniger eingreifen!
Die Grundlage von allem dabei: Vertrauen in die Kinder setzen! Neugierig, etwas erkunden bedeutet auch etwas auseinandernehmen müssen. Das ist etwas anderes als etwas zerstören! Darin sehen wir eine zentrale Aufgabe der Kita: einen Rahmen für dieses Experimentieren schaffen, Regeln vereinbaren und Grenzen setzen ohne die Kinder in ihrem Handeln unnötig einzuschränken. Diese Balance zwischen Bildung und Erziehung zu halten das ist die Verantwortung der Erwachsenen und eine hohe Anforderung für Erzieher/innen, Leiter/innen, Träger und Berater/innen. Dieser Anforderung jeden Tag von Neuem gerecht zu werden, wir bewundern wie häufig das gelingt!
19. Das Recht zu essen und zu trinken, wenn das Kind Hunger und Durst hat
Das wünschen wir uns:
- dass sich jedes Kind aussuchen kann, was es isst.
- dass es die Menge selbst bestimmt und ob es überhaupt etwas essen möchte.
- dass jedes Kind während des ganzen Tages Zugang zu Essen und Trinken hat.
- dass "Tischregeln" mit den Kindern gemeinsam entwickelt und vereinbart werden.
Foto 3 © Dr. Marianne Kokigei
- dass für alle Kinder stets unterschiedliches "Werkzeug" zum Essen zur Verfügung steht: Messer, Gabel, Löffel und die eigenen Finger (und in der einen oder anderen Kita auch Stäbchen).
- Kinder, die sich selbst in ein Glas eingießen.
- Geschirr aus Porzellan oder bruchsicherem Glas.
Das bedeutet für uns Erwachsene, Vertrauen in die Kinder zu setzen. Sie kennen ihre Grundbedürfnisse am besten. Es liegt an uns, die Entscheidungen der Kinder zu akzeptieren und zuzulassen, dass ein Kind nichts essen möchte (in Deutschland ist jedes 4. Kind übergewichtig). Und wir müssen immer wieder überlegen, wie wir Erwachsene den Prozess der Selbstregulierung am besten begleiten können: Einerseits nehmen sich die Kinder selbst das Essen, andererseits muss das vorhandene Essen für alle Kinder reichen...
20. Das Recht, die eigenen Bedürfnisse im Sinne einer gesunden Entwicklung zu entfalten
Das wünschen wir uns:
- dass jedes Kind eigene Erfahrungen macht mit sich und seinem Körper:
"Wann habe ich Hunger?, Wann bin ich durstig?, Wann ist mir kalt oder warm?, Wie fühle ich mich, wenn ich friere?, Wie ist es zu schwitzen?, Wann bin ich müde und was tut mir dann gut?".
- dass jedes Kind seine Gefühle wahrnehmen und zulassen kann und in diesem Prozess Unterstützung und Begleitung erfährt.
- dass zum sich Kennenlernen auch gehört, über die Strenge zu schlagen (zu viel essen oder trinken und dann dreht sich der Magen um...).
- dass die eigenen Bedürfnisse manchmal auch mit den Bedürfnissen der anderen zusammenstoßen.
Foto 4 © Dr. Marianne Kokigei
- dass genug Rückzugsmöglichkeiten in den Räumen und im Garten vorhanden sind.
- dass die Kinder einfach mal nichts tun können und dabei in Ruhe gelassen werden.
Das bedeutet für uns Erwachsene, auch unangenehme Erfahrungen für die Kinder zuzulassen: kalte Hände, nasse Haare, Hunger erleben, übermüdet und unleidlich sein. Wir müssen die Kinder immer wieder genau beobachten: Was brauchen sie, um ihre Bedürfnisse wahrnehmen und immer besser einschätzen zu können?
Rückzugsmöglichkeiten schaffen gehört ebenfalls dazu, damit Kinder unbeobachtet sein können, sich hinlegen können während des gesamten Kita-Tages, um zu dösen, zu ruhen, zu schlafen. Und besonders wichtig und auch besonders schwer ist es, zwischen unseren Ängsten, unseren Gefühlen und denen der Kinder zu unterscheiden! Es ist hilfreich, wenn die Kinder wissen, dass so mancher Grund für Verbote die Angst der Erwachsenen ist und nicht, dass sie die Kinder etwas nicht können wie z. B. hoch hinauf schaukeln, hoch klettern, Wege alleine gehen...
Unser Fazit: Gelebte Kinderrechte in der Kita sind der beste Kinderschutz!
Kinderschutz in der Kita
Der § 8a SGB VIII beinhaltet:
- die Verantwortung der pädagogischen Fachkräfte,
- den aktiven Schutz von Kindern und Jugendlichen,
- die insoweit erfahrene Fachkraft als beratende Person.
Grundlage für ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern. Das bedeutet:
- mit Eltern im Gespräch bleiben,
- mit ihnen gegebenenfalls Verabredungen treffen,
- gemeinsam mit den Eltern nach Lösungen suchen (die Umsetzung ist dadurch viel einfacher),
- offen für Konflikte und Beschwerden sein und bleiben.
Beobachtungsstudien haben ergeben, dass ein Viertel aller pädagogischer Interaktionen immer noch für Kinder und Jugendliche verletzend und kränkend sind (vgl. Fasching 2019, S. 32).
Seelische Übergriffe auf Kinder und Jugendliche gehören zur Kindeswohlgefährdung
- Kinder vorführen - "Du schon wieder, das war ja klar."
- Druck ausüben - "Du bleibst sitzen, bist du aufgegessen hast!"
- Kinder demütigen - "Ich habe doch gesagt, dass du das nicht weißt."
- Zwang ausüben - "Du bleibst liegen, bis du eingeschlafen bist."
- Kindern drohen - "Du wirst schon sehen, was du davon hast."
- Kinder anschreien. Mit diesem Verhalten überschreiten Erwachsene eine rote Linie.
Was bedeutet das für ein Kita-Team?
Niemand ist vor Fehlern gefeit. Wenn die rote Linie überschritten wurde heißt es innehalten und das eigene Verhalten reflektieren.
- Gemeinsam eine Verhaltensampel entwickeln
grün: ist unterstützendes Verhalten,
gelb: ist fragwürdiges Verhalten, das Team ist (noch) unterschiedlicher Meinung, da pädagogisches Verhalten von der jeweiligen Situation abhängig ist,
rot: unzulässiges Verhalten, das nicht tragbar ist, das Konsequenzen nach sich zieht, das nicht hinnehmbar ist,
- Kolleg/innen oder die Leitung für die Reflexion ins Vertrauen ziehen,
- offen im Team über Situationen sprechen bezogen auf das eigene Verhalten oder das Verhalten von Kolleg/innen,
- anschließend in einer ruhigen Situation gemeinsam nach langfristigen Lösungen suchen und Formen der Unterstützung verabreden, um Spannungssituationen zu entschärfen und Eskalationen und Grenzüberschreitungen zu verhindern.
Wir Erwachsenen brauchen das Vertrauen der Kinder, um sie gut zu begleiten. Unsere Aufgabe besteht auch darin, Kinder im „Neinsagen" zu bestärken (siehe Partizipation/Rechte), denn Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein bezogen auf die eigenen Bedürfnisse und das Erkennen von Grenzüberschreitungen sind der beste Kinderschutz! Wir geben den Kindern Orientierung, wir sind ihre Vorbilder, im Positiven wie im Negativen. Kinder brauchen für ihren Lernprozess Erwachsene, die ihnen zur Seite stehen, sie unterstützen, ermutigen und begleiten. Kinder brauchen uns als Vorbilder.
Lernen gelingt am besten, wenn es in Situationen geschieht, die für das Kind bedeutsam sind, die ihnen unter die Haut gehen, die sie begeistern. Was Spaß macht, das lernt man fürs Leben. Wenn Begeisterung sich mit Neugierde paart und sich so die Welt für das Kind öffnet, dann entsteht Lernen von sich heraus. Glücklicherweise bringt jedes Kind Neugierde, als großen Schatz, mit auf die Welt. Das Bedeutsame entdecken, sich die Welt selbst aktiv aneignen, diese Freude bleibt für immer.
Kinder brauchen, um zu lernen und sich zu bilden, Erwachsene:
- die begeistert sind von den zunehmenden Fähigkeiten der Kinder,
- die an ihnen Freude haben, sie ermutigen zu eigenen Erfahrungen,
- die sich mit den Kindern auf den Weg machen, die Welt zu entdecken,
- die den Kindern als "Ressource" zur Verfügung stehen,
- die fasziniert sind von der Ideenwelt der Kinder,
- die sie zum Philosophieren einladen,
- die sie feinfühlig begleiten,
- und ihnen Sicherheit und Schutz geben.
Nehmen wir unsere Verantwortung wahr und verändern dadurch unsere Arbeits- und Lebensbedingungen im Interesse an der Zukunft der Kinder!
Literatur
Fasching, Helga & Ableidinger, Lena (2019). Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern und ihren Transitionen über die Lebensalter. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Hansen, Rüdiger, Knauer, Raingard & Sturzenhecker, Benedikt (2011). Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern. 1. Weimar/ Berlin: Verlag das netz.
Kokigei, Marianne (2018): Wie eine Konzeption entsteht und aktuell bleibt. kokigei@kokigei.de.
Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014). Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege. Weimar/Berlin: Verlag das Netz.
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163).
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163)
§ 8 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163)
§ 8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung.
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163)
§ 79a Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe.
Weiterführende Literatur
Braun, Gisela & Wolters, Dorothee (1991). Das große und das kleine Nein. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr.
Deutsches Institut (2017). Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. Berlin: Rochow-Edition: Reckahn.
Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt (2011). Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar: Verlag das netz.
Lill, Gerlinde (2012). Was Sie schon immer über Offene Arbeit wissen wollten. Weimar/Berlin: Verlag das netz.
Emmi Pikler, Emmi (1988). Lasst mir Zeit. Pflaum Verlag: München.
Unicef (2020). Die UN-Kinderrechtskonventionen. https://www.unicef.de/die-un-kinderrechtskonvention/185424.
Autorinnen
Dr. Marianne Kokigei
Dipl. Pädagogin mit dem Schwerpunkt Erwachsenbildung
E-Mail: kokigei@kokigei.de
Internet: www.kokigei.de
Evelore Burkert
Fortbildung und Beratung für Kindertagesstätten
E-Mail: evelore.burkert@web.de