Christian Büttner und Magdalena Kladzinski
Wer Erziehung heute auch als Hinführung zu demokratischen Verhaltensfähigkeiten versteht, für den sind partizipative pädagogische Angebote die Mittel der Wahl. Dort können - davon geht man heute im Allgemeinen aus - die Kinder lernen, wie man in der Gemeinschaft effektiv kommuniziert. Sie können erfahren, welche Probleme Interessenkonflikte schaffen, und möglicherweise werden ihre Anstrengungen sogar mit Erfolgserlebnissen belohnt. Wer an Kinder positive Erfahrungen mit dem vermitteln möchte, was Demokratie und Menschenrechte ausmacht, muss sich aber mit dem Faktum auseinandersetzen, dass Demokratie eigentlich erst mit der Volljährigkeit eines Menschen beginnt. Alle vorherigen Lernerfahrungen können allenfalls die Lust auf Demokratie (oder die Enttäuschung, dass demokratische Konfliktlösung nur in dem Sinne funktioniert, wie es die Erzieherin verstanden wissen will) steigern und dem Kind vermitteln, wie es auch unter im strengem Sinne nicht-demokratischen Verhältnissen (one man - one vote) "zu seinem Recht kommt".
Kindheit und Jugend als Entwicklungsstadien auf dem Weg zum mündigen Bürger sind von Abhängigkeitsverhältnissen geprägt. Pädagogik kann auf ganz verschiedene Weise in deren Rahmen Erfahrungsräume für ganz verschiedene Zwecke bereitstellen: für demokratisches Lernen ebenso wie für individuelle Entwicklung. Letztlich ist aber Pädagogik insofern zielgerichtet, im professionellen Verhältnis von Arbeitgeber, Eltern und Kind enthalten, als sie nur zum Teil die individuelle Förderung beinhaltet. Der andere, weitaus größere Anteil ist die Vermittlung von Bildung und Anpassung an die sozialen Normen - wie ausgesprochen oder unausgesprochen sie auch immer sein mögen. Die für das Kind verantwortlichen Erwachsenen, in erster Linie die Eltern, bestimmen, welche Lernerfahrungen ihr Kind machen soll und wo es sie machen kann. In der Grundschule schließlich, bestimmt die Demokratie durch die staatlichen Lehrpläne, was den Kindern abverlangt wird. Das Kind jedoch will nicht von Geburt an in eine bestimmte Richtung erzogen werden; es ist im Normalfall erst einmal ziemlich neugierig auf die Welt und offen für alle möglichen Lernerfahrungen.
Die Teilhabe an Entscheidungsprozessen ist eines der wesentlichen Elemente demokratischer Herrschaft. Warum nicht auch die Teilhabe daran, was das Kind selbst gerne lernen möchte? Insofern ist die Etablierung von partizipativen Strukturen im Alltag einer Kindertageseinrichtung auf den ersten Blick höchst sinnvoll. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Problemen bei deren Umsetzung, die u.a. mit darüber entscheiden, ob und welche Kinder positive oder negative Erfahrungen mit ihren Beteiligungsmöglichkeiten machen. Wesentlich scheint dabei zu sein, dass zwischen ganz unterschiedlichen pädagogischen Motiven und den darauf abgestimmten Interventionsstrategien bzw. Settings unterschieden wird, damit nicht dem richtigen Motiv eines Kindes mit einer "falschen" Intervention begegnet wird. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Interesse, aber auch die Auseinandersetzung mit Begründungen für "autoritäres" Verhalten, d.h. den Anweisungen der Erzieherinnen und der Leiterin. Im Folgenden geben wir einen Ausschnitt aus einem Dialog wieder, um zu zeigen, wie mühsam es sein kann, sich im "Gestrüpp" alltäglichen Kindergartendurcheinanders als Erzieherin zur Partizipation hin "durchzuwurschteln" (Auszug aus dem Transkript einer Supervisionssitzung des Projekts "Demokratie leben lernen"; Winter 2003):
"Wie kann man sich in einer sozialen Gemeinschaft gegen Machtmissbrauch schützen, also gegen solche Strategien zur Durchsetzung von Interessen einzelner, die auf Drohung, Verführung oder andere, die Menschen(kinder)rechte verletzende Maßnahmen zurückgreifen? Wie kann man erreichen, dass alle Kinder einer Gruppe mit den Entscheidungen über Interessenkonflikte untereinander zufrieden sind, ohne das eine Minderheit ersatzlos ausgeschlossen wird? Oder: Wie zufrieden muss eine Gruppe sein, damit sie demokratische Verhaltensweisen praktizieren und weiterentwickeln kann? Oder: Wie unzufrieden ist eine Gruppe, dass sie diktatorische Herrschaftsformen favorisiert?
- z.B. ein Kind, das ganz besonders toll sein will. Er möchte eine ganz bestimmte Rolle spielen, die es vielleicht nicht hat. Es bringt immer ganz besonders gefährliche Sachen wie Messer oder Feuerzeug mit , mit denen es besondere Beachtung bei den anderen zu finden glaubt. Es will als wichtig genommen werden und toll sein. Es macht dies aber sehr versteckt, wir fragen, wo es die Sachen her hat, reden mit der Mutter, die auch von nichts weiß. Es steckt diese Sachen also heimlich ein. Es hat seine Strategie, was besonderes sein zu wollen. Es scheint allerdings nicht unzufrieden mit dem Kindergarten zu sein, sondern mit sich selbst und seiner Rolle.
- In den meisten Fällen holen sich die Kinder bei uns Sicherheiten, wenn wir versuchen, sie irgendwie miteinander ins Gespräch zu bringen. Etwa dass sie sich über diese Situation unterhalten, wenn es z.B. darum geht, wer jetzt auf der Hängematte schaukeln darf. Da ist immer ein kritischer Punkt: Wer ist wann und wie lange dran? Wie objektiv ist da das Zeitgefühl? Und wer ist da Freund oder Freundin und wird unter Umständen vorgelassen? Es gibt kleine Bestimmer, die die vereinbarte Reihenfolge zugunsten der eigenen Freundschaften nicht einhalten. Sie wollen die Reihenfolge bestimmen. Sie setzen ihre Macht ein und zeigen einem anderen Kind damit: Du bist nicht mein Freund. Wenn dann das Kind, das eigentlich dran wäre, sein Recht einfordern will, geht es zu einer Erzieherin und beschwert sich. Obwohl es eine Reihenfolge gibt, hat doch der, der grade in der Hängematte ist, die Macht über die anderen. Die Kinder stellen sich an, und wenn ein anderes Kind versucht, sich in der Warteschlange vorzudrängen, wird es von den Wartenden auch darauf hingewiesen, das sie sich hinten anstellen müssen. Aber es gibt Kinder, die so lange schaukeln, bis ein Kind kommt, dem sie die Hängematte gerne überlassen wollen.
Manchmal können die Kinder das untereinander mit Argumenten regeln, manche Kinder gehen aber sofort zu einer Erzieherin. Manchmal geht man auch selbst hin. Ich habe mich auch schon dabei ertappt, dass ich mich eingemischt habe, dass ich zu früh in diese Situation eingegriffen habe, ohne abzuwarten, ob die Kinder das vielleicht alleine regeln können. Da habe ich sozusagen die Polizei gespielt.
- Es gibt eine Reihe, da hat man sich anzustellen. Das ist der erwünschte Zustand. Im Fallbeispiel stellt sich aber eine Art wildwüchsige Regel her, die nicht immer so klar zu erkennen ist. Oder wissen Erzieherinnen immer, warum jetzt wer dran ist. Warum dieses Kind jetzt darf?
- Das ist meist ein Kind, das alle toll finden. Das muss dann ein starkes Kind sein. Ein schwaches Kind würden sie nicht vorlassen. Aber ganz schwache oder "süße" Kinder haben gute Chancen.
- Wenn man die Regelung, die die Kinder untereinander treffen, erlebt, hat man keine Veranlassung, in die Situation einzugreifen und die Regel mit der Reihenfolge durchzusetzen. wenn man zufrieden ist. Wenn die Gruppe aber so entscheidet, dass man nicht zufrieden ist, dann denkt man, man müsste eingreifen.
- Wenn z.B. ein Kind keine Freunde hat, wird es nie dran kommen. Und dieses Kind braucht Hilfe. Da fühle ich mich gefordert. Diesem Kind werde ich aus Gleichberechtigungsgründen helfen.
- Das ist eine Hinführung zur Demokratie: Meine Aufgabe ist, den Kindern Strukturen anzubieten und Vorschläge zu machen, wie man so etwas gemeinschaftlich besprechen kann. Es könnte aber auch sein, dass das Problem nicht darin liegt, demokratische Regeln an die Kinder zu vermitteln, die ich für richtig halte, sondern ich müsste das einzelne Kind darin unterstützen, Freunde zu finden. Das wäre eine ganz andere Intervention. Nicht die Verhaltensweisen in der Gruppe spielen die Hauptrolle, sondern die Frage: Wie kriege ich das Kind an und in die Gruppe?
- Es gibt schwerwiegende Gründe, warum ein Kind keine Freunde findet. Das Kind könnte z.B. ein Klugscheißer sein. Wenn ich das Kind aus den gleichen Gründen nicht mag wie die anderen Kinder - so etwas kommt ja vor -, wenn ich zu ihm keine tragfähige Beziehung aufbauen kann, sondern "nur" eine oberflächliche Erzieherin-Kind-Beziehung, damit ich überhaupt mit ihm in Kontakt bin, dann wird es schwer, den Integrationsprozess zu unterstützen. Und wäre dies eine Lösung: Ich gebe ihm z.B. ein Werkzeug in die Hand: Du hast jetzt nicht die Hängematte, aber dafür hast du etwas anderes, und davon bist du jetzt der Bestimmer?
- Man macht das Kind also etwas attraktiver für die andern. Das wäre eine pädagogische Intervention. Das hat aber mit Demokratie nicht viel zu tun.
- Aber man würde vielleicht darüber nachdenken: Wie sind die heimlichen Regeln der Gruppe? Sind sie so: Damit ich Beziehung habe, muss ich attraktiv sein? Und heißt das dann, jetzt gucke ich, wie kann ich die Attraktivität des Kindes steigern und Aspekte in ihm entdecken, die es selber vielleicht noch gar nicht sieht? Einen Einfluss auf die Beziehungsregeln der Gruppe nimmt man damit nicht, man bestätigt sie. Man könnte ja auch fragen: Wie reagiert man auf die Beziehungsregeln der Gruppe? Empfindet man sie immer als angenehm? Schafft der Gesichtspunkt der Attraktivität eine angenehme Gruppensituation, wenn die Kinder dies zum Kriterium ihrer Entscheidungsprozesse machen?
- Welche Erfahrungen machen die Kinder eigentlich mit dem vorherrschenden Zustand der Attraktivität hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeit ihrer Interessen? Könnte man sich auch Erfahrungen vorstellen, die auf demokratisches Aushandeln zurückgehen? Nicht: Setzt euch mal der Reihe nach hin, denn dann sind die Regeln ja schon fertig. Sondern: Hier kommt das Kind, das sich beschwert. Aber es beschwert sich bei der nächst höheren Instanz, der Erzieherin. Es nimmt die gegebenen Strukturen in der Einrichtung in Anspruch. Solche Strukturen existieren nicht vorab in der Kindergruppe. Ein Modell wäre: Der Konflikt, der an die Autorität heran getragen wird, wird in die Gruppe zurück verlagert, mit dem Versuch, das Demokratiekriterium einzuhalten, dass jeder sprechen kann und dass die Gruppe die Aufgabe hat, für alle - sowohl für den, der die Macht hatte, als auch für den, der der Ohnmächtige war - eine Lösung zu finden.
- Eine weitere Frage schließt sich an: Es gibt also das Interesse des Einzelnen und den naturwüchsigen Regelungsprozess der Gruppe, der dem Interesse des einen Kindes nachgibt und das Interesse des anderen Kindes verweigert. Ist da nur eine temporäre Krisenintervention angesagt oder ist es die Frage einer grundsätzlichen Haltung in der gesamten Einrichtung? Mit der pädagogischen Intervention werden ja die Gesetze der Gruppe erst einmal in einem Einzelfall außer Kraft gesetzt.
- Sie werden neu überdacht. Es geht dann eben nicht mehr so, dass man sein Interesse so versteckt leben kann.
- Wenn es diesen Superoberbestimmer nicht mehr gibt oder auch nur zeitlich begrenzt, wie kann man erreichen, dass Kinder die Erfahrung machen, dass dieses naturwüchsige egozentrische Modell weniger erfolgreich ist als das demokratische?
- Dann käme man vielleicht auf das basisdemokratische Modell: Dass die Menschen für die Formen, in denen sie zusammenleben, selber die Verantwortung übernehmen und dass sie sie nicht an irgendwelche demokratischen oder institutionellen Instanzen delegieren. Das Denkmodell wäre: Erziehung zur Demokratie heißt nicht nur: die Befähigung, nach den demokratischen Kriterien in den dafür geschaffenen demokratischen Parlamenten über die Interessen zu verhandeln, sondern die Konflikte in sozialen Untergruppierungen mit pädagogischer Unterstützung entwickeln zu lassen. Die Frage ist: Welches Setting ist dafür geeignet? Wie kann ich bei etwas, was so stark an das Interesse der Kinder appelliert wie z.B. eine Hängematte, eine pädagogische Situation zu schaffen, in der möglichst viel Spielraum vorhanden ist, damit die Gruppe ihre eigenen Regeln finden kann - auch wenn ich das Problem anders gelöst hätte?"
Soweit einige Argumentationen und Ideen zur Partizipation im normalen Erziehungsalltag und ohne Kinderparlament oder Stuhlkreis. Um etwas genauer im Hinblick auf verschiedene Interventionsmöglichkeiten unterscheiden zu können, geben wir einen Rückblick auf die bisherigen wissenschaftlichen Anstrengungen, Bedürfnis und Interesse begrifflich zu fassen und damit handlungspraktische Alternativen zu begründen.
Bedürfnis vs. Interesse
Bedürfnis und Interesse ist ein spannungsvolles Begriffspaar, das schon seit vielen Jahren ein Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen ist und an dessen Definition sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen versucht haben. Die Förderung demokratischer Verhaltenseigenschaften bezieht sich vor allem auf die Fähigkeit, Konflikte um Bedürfnisse und Interessen so zu lösen, dass es zu keiner Gewalteskalation kommt bzw. dass die Gewaltimpulse kontrollierbar bleiben. Welche Bedeutung für pädagogisches Handeln haben also kindliche Bedürfnisse gegenüber kindlichen Interessen?
In der pädagogischen Forschungs- und Berufspraxis gehört der Begriff "Bedürfnis" zu den häufig benutzten Schlagworten und wird meist in Zusammenhang mit der normativen Forderung gebracht, in der praktischen Pädagogik müsse an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert gearbeitet werden. Auf der Basis von bedürfnisbezogenen Annahmen werden z.B. Leitkonzepte für Bildungseinrichtungen entwickelt und formuliert, die wiederum die Grundlage für die praktische Arbeit "vor Ort" bilden. An welchen Bedürfnissen von Kindern jedoch angeknüpft werden soll, bleibt in vielen Fällen entweder unklar oder wird gar nicht im einzelnen thematisiert. Der Grund dafür mag einerseits darin liegen, dass es kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu kindlichen Bedürfnissen gibt (diese Defizite sind wiederum auf die methodischen Schwierigkeiten bei Kinderbefragungen zurückzuführen), andererseits in dem Problem der Begriffsbestimmung selbst.
Die Bedeutung des Begriffes in den sozialwissenschaftlichen Disziplin variiert sehr stark; der Begriff wird selbst innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin nicht einheitlich verwendet. Dies trifft vor allem auf Beschreibungen menschlicher Grundbedürfnisse zu (z.B. in der Philosophie einerseits konkret Durst und Hunger, andererseits allgemein Streben nach Selbsterhaltung). Aus der Fülle von unterschiedlich akzentuierter und aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereichen stammender Definitionen lassen sich dennoch inhaltliche Gemeinsamkeiten feststellen. Dem Begriff "Bedürfnis" kann demnach folgende Bedeutung zugeschrieben werden: Bedürfnis ist auf den Mangelzustand eines biologischen Organismus zurückzuführen, der ein bestimmtes Verhalten auslöst, das darauf ausgerichtet ist, den empfundenen Mangel zu beseitigen.
Zu den bekanntesten Auffassungen dessen, was menschliche Grundbedürfnisse zu verstehen sei, gehört vor allem das Ordnungsschema für die Unterscheidung von Bedürfnisarten des Menschen von Maslow. Die nach ihm benannte "Bedürfnispyramide" ist allgemeinpsychologischer Natur und hat die Form einer Bedürfnishierarchie. Maslow geht davon aus, dass der Mensch von zwei Bedürfnisarten beeinflusst wird, nämlich von den sogenannten Wachstumsbedürfnissen und den Defizitbedürfnissen (vgl. Maslow 1985, S. 15). Laut Maslow gibt es in jedem Menschen - unabhängig von seiner Entwicklungs- und Lerngeschichte - fünf Motiv- und Bedürfnisgruppen, die sich wie folgt hierarchisch ordnen lassen: physiologische Bedürfnisse: Grundbedürfnisse des Menschen, wie z.B. Nahrung etc.; Sicherheitsbedürfnisse: beinhalten die Sorge um Stabilität, Schutz und Zukunftsvorsorge; soziale Bedürfnisse: umfassen Kontakte und Zuwendung zu anderen Menschen; Geltungsbedürfnisse: bringen Anerkennung durch andere und Selbstachtung; Selbstverwirklichungsbedürfnisse: zur Entfaltung und Entwicklung der eigenen Person.
Die unteren vier Bedürfniskategorien gehören zu den Defizitbedürfnissen. Die nächst höhere Stufe der Pyramide kann erst dann erreicht und aktiviert werden, wenn die Stufe darunter weitestgehend befriedigt ist. Anders formuliert: Sind die Bedürfnisse der untersten bzw. der unteren Stufen befriedigt, dann gewinnt die nächst höhere Bedürfnisstufe an Bedeutung und Vorrang. Das Modell der Bedürfnispyramide mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, vernachlässigt jedoch individuelle Unterschiede sowie geschichtliche und soziale Aspekte. Was für den einen unabdingbar ist, kann für den anderen als überflüssig erscheinen und umgekehrt. Die rein biologischen Bedürfnisse zur Lebenserhaltung haben alle Lebewesen gemeinsam. Der Mangelzustand muss aber nicht unbedingt biologischer Natur sein, sondern kann auf subjektiven Wünschen beruhen (z.B. die sehr unterschiedlich vorkommende Gier). Da menschliche Bedürfnisse individuelle Bedürfnisse sind und ihre Befriedigung von sozialen Regelungen abhängt, kann der Mensch schon von sehr frühem Alter an selbst entscheiden, wann welche Bedürfnisse befriedigt werden sollen, d.h. er kann die Befriedigung von Bedürfnissen zu einem gewissen Grad aufschieben.
Johan Galtung geht von der Prämisse aus, Bedürfnisse existierten auf der individuellen Ebene, seien sozial kontrolliert und modifiziert und ihre Befriedigung werde vom Menschen selbst gesteuert, was gegen jeglichen Versuch einer Hierarchisierung von Bedürfnissen spreche und somit die Theorie der Bedürfnishierarchie von Maslow widerlege (1980, S. 66). Er schlägt vier Bedürfnisklassen vor: das Bedürfnis nach Sicherheit, das Bedürfnis nach Wohlfahrt, das Bedürfnis nach Identität und das Bedürfnis nach Freiheit. Diese Bedürfnisse scheinen nach Ansicht von Galtung universell zu sein, weil sie unabhängig von unterschiedlichen kulturellen Interpretationen einen Sinn machen.
In seinen Überlegungen nimmt Galtung (1980, 1977) Bezug auf die amerikanische Debatte um den sog. "basic-needs-approach" aus der Friedens- und Konfliktforschung. Gemeinsam mit anderen Friedensforschern (Burton 1990, Lederer 1980) ging er der Ursachen von Konflikten nach und gelangte zur Hypothese, dass mangelnde Befriedigung von Bedürfnissen wie Identität, Anerkennung und Sicherheit zu heftigen sozialen Konflikten führen kann. Die Gründe für Nichtbefriedigung der Bedürfnisse können jedoch tiefgreifend sein. Der Gesellschaft aus Mitgliedern mit unterschiedlichen Bedürfnissen und der soziale Umwelt, die Mittel für die Bedürfnisbefriedigung bereit stellt, steht der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen gegenüber. Ein Konflikt entsteht dort, wo die individuellen Bedürfnisse nicht befriedigt werden.
Ein andere, soziologische Variante des Bedürfnisbegriffs stammt von Hondrich (1975). Er betrachtet den Menschen als "ein System, dessen Einheiten Bedürfnisorientierungen sind" (ebd., S. 20), die unterschiedliche Intensität haben. Drei Mittel der Bedürfnisbefriedigung werden unterschieden: politische Mittel wie Macht, ökonomische Mittel wie Güter und normative oder kulturelle Mittel (ebd., S. 32). Derjenige, in dessen Händen die Mittel liegen, hat Macht über Personen und soziale Systeme. Im dem Geflecht von Machtverhältnissen muss das Individuum eine Möglichkeit haben zu handeln, um seine Autonomie zu wahren. Aus soziologischer Sicht stehen die aus Bedürfnisbefriedigungsansprüchen entstehenden Konflikte im Mittelpunkt einer Definition, die sich mehr dem Verhältnis der Konfliktpartner zuwendet, als der inneren Befindlichkeit von Individuen: "In den Antworten der Soziologie auf die Frage, warum Menschen Konflikte beginnen, werden üblicherweise Annahmen darüber gemacht, dass und in welcher Weise Individuen in sozialen Konfliktsituationen konkurrierende bzw. strittige Ansprüche auf etwas erheben, auf das sie angewiesen sind: die Verfügungsgewalt über Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung und/oder soziale Anerkennung" (vgl. Bommes 2001, S. 35).
Die bisherigen Definitionsversuche haben beschreibenden Charakter, sie geben keinen Hinweis darauf, wie sich Bedürfnis und Interesse entwickelt. Ihr Bezugspunkt ist der entwickelte Erwachsene. Eine gesunde Entwicklung und ein problemloses Heranwachsen des Kindes in die Welt der Erwachsenen kann - so Brazelton und Greenspan (2002) - durch die Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse gewährleistet werden kann. Das erste Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen bezieht sich auf die Schaffung eines guten Klimas, das durch Emotionalität und Fürsorglichkeit gekennzeichnet wäre. Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation kann durch den Schutz der Kinder vor Misshandlungen und Vernachlässigung gewährt werden. In dem dritten Bedürfnis, nämlich nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind, manifestiert sich die Ansicht, dass Kinder als Individuen zu betrachten sind und die individuellen Bedürfnisse in der Erziehung berücksichtigt werden müssen.
Laut Brazelton und Greenspan haben Kinder das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen und nach Grenzen und Strukturen, also Regeln und Normen, die den kindlichen Erfahrungsraum gestalten, d.h. äußere Strukturen und Sicherheit durch Grenzen bieten. Sie sehnen sich nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität, in der sie gefahrlos anderen Kindern begegnen können. Schließlich unterstellen die Autoren das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit. Bei der Befriedigung dieses Bedürfnisses ist die Rolle der Erwachsenen von zentraler Bedeutung; die Zukunftssicherheit liegt in den Händen von Erwachsenen, die für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen und somit auf die Zukunft der nächsten Generationen Einfluss nehmen. Die Nichtbeachtung der kindlichen Bedürfnisse kann die Fähigkeit der künftigen Generationen beeinträchtigen, familiäre Beziehungen einzugehen und politische und ökonomische Stabilität aufrechtzuerhalten.
Eine weitere, für die Pädagogik relevante Bestimmung von Bedürfnis bzw. Bedürfnisgeschehen, die auch den Interessenbegriff mit einschließt, wurde von Jutta Mägdefrau herausgearbeitet: "Das Bedürfnis soll verstanden werden als eine psycho-physische Determinante menschlichen Verhaltens, die dem Mensch als Gefühl und Vorstellung wahrnehmbar wird und auf Befriedigung zielt. Diese Befriedigung bzw. Bedürfnisverwirklichung erfolgt durch Verwirklichungsmittel, die dem Menschen in Abhängigkeit von kulturellen, ethnischen, geschlechtsspezifischen, altersspezifischen und bestimmten individualpsychologisch begründeten Bedingungen zur Verfügung stehen, und auf bestimmte Art und Weise, die ebenfalls in Abhängigkeit von den genannten Variablen variieren kann. Bedürfnisse sind sozialisatorisch ausdifferenzierte, mit Zielvorstellungen und Richtungstendenzen verbundene Elemente individueller psychischer Dynamik, die wandelbar sind in der Richtung und der Wahl der Mittel" (Mägdefrau 2003, S. 302). Dieser Bedürfnisbegriff deckt allerdings den semantischen Raum von Wunsch, Begehren, Bedarf, Interesse etc. implizit mit ab.
Der Interessenbegriff wird philosophisch synonym mit Bedürfnisbegriff gebraucht. Man unterscheidet dabei zwischen subjektiven und objektiven Interessen. Während unter objektivem Interesse all diejenigen Bedürfnisse verstanden werden, die man tatsächlich hat (bewusst oder unbewusst), wird subjektives Interesse mit solchen Bedürfnissen oder Nutzen in Verbindung gesetzt, die man zu erringen oder zu haben glaubt. Der psychologische Bedürfnisbegriff hebt darauf ab, dass das Interesse eines Menschen auf eine Art selektiver Wahrnehmung im Sinne von Vorlieben oder Neigungen zurück geht. Es wird mit Einstellungen und Erwartungen verbunden, die gedanklich entstehen, bevor sie zum Ausdruck kommen.
Der Begriff des Interesses wurde in der Pädagogik und Psychologie oft diskutiert. Das Ergebnis der Interessenforschung sind zahlreiche Interessenkonzeptionen, die ein breites Spektrum an Begriffsbestimmung liefern. Prenzel (1988) führt die Definitionen auf zwei gemeinsame Merkmale. Das Interesse bezieht sich auf Gegenstände und bezeichnen eine Präferenz einer Person: "Interesse (...) bezeichnet Auseinandersetzungen einer Person mit einem Gegenstand, die von der Person ohne äußere Veranlassung ergriffen werden. Die Person greift aus der Vielfalt von Objekten, die ihre Umwelt anbietet, bestimmte heraus und läßt sich handelnd auf sie ein. Sie erschließt sich Stück um Stück einen bestimmten Umwelt- und Gegenstandsbereich. (...) 'Interesse' als 'Erschließen' von Gegenstandsbereichen beinhaltet einen Entwicklungs- oder Bildungsprozess auf seiten der Person" (Prenzel 1988, S. 10). Zusammenfassend kann Interesse mithin als selbstintentionales objektgerichtetes Handeln, das durch Kognition, Emotion und Wertbeziehung geprägt wird, bezeichnet werden (vgl. ebd.).
Prenzel, Krapp und Schiefele (1986) verstehen Interesse als eine Relation zwischen Person und Gegenstand. In einer Weiterentwicklung des Ansatzes Prenzel hat Krapp (1992) die Person-Gegenstands-Theorie des Interesses vorgelegt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Entwicklung eines für pädagogisch-psychologisches Denken und Handeln geeigneten Interessenkonzepts war die "grundlegende Feststellung", dass sich das Leben des Menschen als ein ständiger Austauschprozess zwischen dem Individuum und der Umwelt vollzieht (vgl. ebd., S. 304). Die Umwelt, die aus mehreren Teilbereichen besteht, wird von der Person aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Weltwissens kognitiv repräsentiert. Krapp bezeichnet den Gegenstand als "einen subjektiv bestimmten Umweltausschnitt, den eine Person von anderen Umweltausschnitten unterscheidet und als strukturierte Einheit in ihrem Repräsentationssystem abbildet" (ebd., S. 305). Daraus folgt, dass Interessensgegenstände nicht nur konkrete Referenzobjekte (also Gegenstände im alltagssprachlichen Sinne) sein können. Auch abstrakte Themen können als Gegenstände fungieren - gleiches gilt für Tätigkeiten. Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen Referenzobjekten, Themen und Tätigkeiten als potentielle Interessengegenstände erweist sich vor allem dann als recht sinnvoll, wenn man Eigenheiten eines bestimmten Interesses einer bestimmten Person genauer beschreiben will. Der Interessenbegriff wird schließlich von Krapp als eine "bedeutungsmäßig herausgehobene Person-Gegenstands-Relation" beschrieben (vgl. ebd., S. 307).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man ein Bedürfnis als einen Mangelzustand beschreiben kann, der darauf zurückzuführen ist, dass ein Mensch etwas objektiv oder subjektiv Notwendiges nicht besitzt. Die Folge dessen ist es, dass er dazu tendiert, den Mangelzustand, der eine mehr oder weniger große psychische Spannung zur Folge hat, zu beseitigen. Interesse ist vielleicht am plausibelsten als selbstintentionales objektgerichtetes Handeln zu verstehen, das durch Kognition, Emotion und Wertbeziehung, also durch im weitesten Sinne kulturelle Einflüsse geprägt wird und das im Prozess der Akkulturation (und darin maßgeblich durch Erfahrungen mit pädagogischen Autoritäten) mit Realisierungschancen und -wegen verknüpft wird. Das Interesse wird also solchen Gegenständen zugewendet, die in einer bestimmten Situation für ein bestimmtes Individuum eine Bedeutung haben oder durch die Bedürfnisse (sekundär) realisiert werden.
Wir legen den folgenden Auseinandersetzungen mit praktischen Beispielen eine Definition zu Grunde, wie sie Erik Erikson zur Beschreibung interkultureller Differenzen vorgelegt hat: "Während es ganz klar ist, was geschehen muß, damit das Kind am Leben bleibt (ein Mindestmaß an Nahrung und Anregung), und was nicht geschehen darf, damit es nicht körperlich geschädigt und chronisch gestört wird (Überschreitung eines eben noch zulässigen Maßes an früher Frustration), bestehen Meinungsverschiedenheiten im Hinblick darauf, was geschehen darf, und die verschiedenen Kulturen machen ausgedehnt Gebrauch von ihrem Vorrecht zu entscheiden, was sie für richtig und notwendig halten" (Erikson 1971, S. 64).
Bedürfnis, Interesse und pädagogisches Handeln in Demokratien
Folgende Fallschilderungen konkretisieren die zu Beginn beschriebenen Schwierigkeiten, denen man sich im pädagogischen Alltag ausgesetzt sieht, wenn es darum gehen soll, auf demokratische Verhaltenseigenschaften im Zusammenhang mit Bedürfnissen und Interessen bei den Kindern hinzuwirken:
Fallschilderung 1:
Oskar kam das erste Mal mit zwei Schnullern in die Einrichtung, einen im Mund, den anderen in einer Hand. Wie viele andere Kinder auch brauchte er eine gewisse Zeit, bis er seine Mutter, die ihn regelmäßig brachte und eine Weile blieb, aus freien Stücken gehen lassen konnte. Die Schnuller brauchte er noch eine ganze Weile. Als Oskar eines Tages die Erzieherin mit Schnuller im Mund anspricht, erwidert sie ihm, sie könne nichts verstehen, er solle doch den Schnuller aus dem Mund nehmen, wenn er mit ihr rede. Später fällt ihm dann der Schnuller aus dem Mund, und zwar in den Sand des Sandkastens. Die Erzieherin ergreift die Gelegenheit zu einem Versuch, ihn nun auch von seinem Schnuller - wenigstens kurzzeitig - zu trennen und bietet Oskar an, den Schnuller abzuwaschen. Oskar überreicht ihr den Schnuller mit den Worten: Du sollst ihn aber abgetrocknet zurückgeben.
Am Anfang ist Oskar ganz von seinem Sicherheitsbedürfnis eingenommen. Die Schnuller dienen ihm als Übergangsobjekt und die Erzieherin akzeptiert dies im Sinne ihres pädagogischen Konzepts der Unterstützung in der Übergangssituation vom Elternhaus in die Einrichtung. Allerdings muss sie auf Oskar mit ihren "normalen" Angeboten warten, sie kann nicht einmal angemessen mit ihm kommunizieren. Das produziert eine - nicht leicht eingestandene, gleichwohl verständliche - Ungeduld. Mit der Chance, den Schnuller wenigsten probeweise zu "entführen", verbindet sich die Erfahrung eines neuen Niveaus der Kommunikation: Oskar kann Bedingungen diktieren, so dass nicht nur die Kommunikation störungsfrei geworden ist, sondern beide Interessenlagen kommuniziert und verhandelt werden können. Dem Interesse der Erzieherin setzt Oskar sein Interesse an einem trockenen Schnuller entgegen. Während zu Beginn Oskar mit einer pädagogischen Haltung begegnet wird, kann er nun - offenbar hinreichend sicher - seine Interessen formulieren und durchsetzen.
Fallschilderung 2:
In der Einrichtung ist mit den Kindern ein Ausflug zur Kükelhaus-Austellung im Schloss Freudenberg (Wiesbaden) verabredet worden, dem zunächst auch Markus zugestimmt hatte. Am Tag des Ausflugs will er partout nicht mitkommen und provoziert damit seine Erzieherinnen. Der Leiterin sagt er, er bekomme stattdessen von seiner Mutter ein Spielzeug gekauft. Nachdem die Leiterin entschieden hat, dass Markus unter einschränkenden Bedingungen auf den Ausflug mitgenommen wird, setzt sie sich mit der Mutter in Verbindung und bespricht mit ihr, dass sie Markus abholen muss, falls er all zu große Schwierigkeiten mache. Der Ausflug verläuft dann aber recht harmonisch und für alle Beteiligten zufriedenstellend. Markus ist interessiert und genießt mit den anderen das Angebot, bleibt allerdings immer ganz dicht bei den Erzieherinnen und ist nicht zu bewegen, in den Dunkelgang mit zu gehen. Er kommentiert später den Ausflug mit: "Was ihr hier mit mir gemacht habt!"
An diesem Beispiel fällt in aller erster Linie der Interessenkonflikt auf: das Einzelinteresse von Markus am Spielzeugkauf vs. das Gemeinschaftsinteresse der Einrichtung am Ausflug. Zunächst äußert zwar Markus sein Interesse am Ausflug, dann aber aus zuerst schwer erkennbaren Gründen ändert er seine Meinung und gerät in einen Interessenkonflikt mit den Anderen. Auf der pädagogischen Seite entsteht das Problem, wie man den Konflikt zwischen dem Interesse der Einrichtung und dem (vermeintlichen) Interesse des Jungen an dem Spielzeugkauf durch einen Kompromiss abmildern könnte. Schließlich wird dem Jungen insofern entgegen gekommen, als er sicher sein kann, dass seine Mutter ihn holt, wenn es (für ihn) gar nicht mehr geht. Das Verhalten des Jungen während des Ausfluges lässt das Bedürfnis nach Sicherheit deutlich werden - die Sicherheit in der Nähe zu Leiterin und die Verweigerung, neue Erfahrungen (absolute Blindheit, höchste Vertrauensanforderung) zu machen.
Fallschilderung 3:
Anja bestimmt seit Neuestem jeden Tag, wo ihre vier Freundinnen während des Mittagessens sitzen sollen. Sie tut dies in einem solchen Befehlston, dass die Erzieherinnen sich nach einer Teambesprechung entschlossen haben, die Kinder aufzufordern, sich nicht willenlos bestimmen zu lassen, sondern die wechselseitigen Interessen zu verhandeln. Anja dagegen versuchen sie, in ihre Schranken zu verweisen. Erst auf Nachfragen im Rahmen einer Supervision wird deutlich, dass Anjas Freundinnen sich scheinbar einvernehmlich von Anja platzieren lassen, dass es also gar keinen Interessenkonflikt gibt, sondern dass die Erzieher eine von ihnen als undemokratisch empfundene Kommunikation ändern und ein demokratische etablieren und fördern möchten.
Bei weiterem Nachfragen stellt sich heraus, dass Anjas Mutter sich z.Zt. in einer Krise befindet, weil sie zu den Müttern den Kontakt verloren hat, mit denen sie sich mit deren Kindern, Anjas Freundinnen nämlich, und ihrer Tochter bis vor Kurzem privat getroffen hatte. Plötzlich wird klar, dass auch Anja sich in einer Krise befindet, genauer in einer für sie beängstigenden Situation: einer möglicherweise folgenden Trennung der Freundinnen auch von ihr. Ihre Freundinnen scheinen das erspürt zu haben. Sie gehen auf Anjas Bedürfnis nach Sicherheit ein, so dass der Befehlston für sie vielleicht gar kein Befehlston, sondern Ausdruck der Angst ist, auf die die Mädchen reagieren.
Pädagogische Interventionen
Im Sinne pädagogisch-professionellen Handelns sind nach diesen Fallinterpretationen mindestens drei Interventionstypen zu unterscheiden: die psychologisch begründete, die demokratietheoretisch begründete und die aus der Leitungsverantwortung begründete.
Die psychologisch begründete Intervention berücksichtigt die Bedürfnisse der Kinder. Sie schafft oder erweitert Räume, in denen verzögerte Entwicklung und/oder das Auffangen von Krisen möglich sind. Sie ist dann begründet, wenn alterstypische Rücksichten in Lernangeboten integriert sind oder wenn psychodynamische Konflikte vorliegen, die eine besondere "Schonung" und "Rekonvaleszenz" verlangen. Dieser Interventionstyp ist insofern von den subjektiven Wahrnehmungen der Erzieherinnen und ihrer Verständigung im Team abhängig, als dazu diagnostische Überlegungen ebenso vonnöten sind wie Empathie und die Fähigkeit, eine temporäre Regression eines Kindes oder einer ganzen Gruppe akzeptieren zu können.
Die demokratietheoretisch begründete Intervention dagegen ist deutlicher zielgeleitet. Neben dem Modell, dass die Erzieherinnen in ihrem eigenen (demokratischen) Verhalten bieten, setzt sie Strukturierungen der Gruppensituationen, ja der gesamten Beziehungen in einer Einrichtung voraus, in denen das einzelne Kind auf die Auseinandersetzung um Interessenkonflikte hingeführt werden kann. Problematisch ist dabei, dass die Verhandlungsstrategien der Kinder untereinander nicht immer dem entsprechen, was sich die Erzieherinnen als demokratische Interessenaushandlung vorstellen. Deshalb bedarf es so weit gehend wie möglich der Überprüfung der jeweiligen demokratietheoretischen Kriterien, ob ein Verhandlungsprozess und seine Lösung akzeptiert werden kann oder nicht. Diese können z.B. folgende sein:
- Bevor eine Politik von einer Gemeinschaft angenommen wird, müssen alle Mitglieder die gleichen und wirksamen Möglichkeiten haben, ihre Sicht, wozu die Politik dienen soll, den anderen vorzustellen.
- Im Augenblick der Entscheidung für die endgültige Politik muss jedes Mitglied die gleiche und wirksame Möglichkeit zur Stimmabgabe haben, und alle Stimmen müssen als gleichwertig gezählt werden.
- Innerhalb angemessener Zeitgrenzen muss jedes Mitglied die gleichen und wirksamen Möglichkeiten haben, die relevanten Alternativen einer Politik und deren wahrscheinliche Konsequenzen kennen zu lernen.
- Die Mitglieder müssen die exklusive Möglichkeit haben zu entscheiden, wie und - wenn sie auswählen - welche Angelegenheiten auf die Tagesordnung gesetzt werden.
- Alle - oder bis zu einem bestimmten Grad die meisten - Ortsansässigen sollten die vollen Bürgerrechte inne haben, wie sie in den ersten vier Kriterien beschrieben sind. Dieses Kriterium war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die meisten Verfechter der Demokratie inakzeptabel! (nach Dahl 1998, S. 37/38).
Die aus der Leitungsverantwortung begründete Intervention ist immer dann plausibel, wenn es um Anpassungsleistungen der Kinder geht, die auf jeden Fall erfolgen müssen. Das betrifft nicht nur die Beziehungsbedingungen des institutionellen Rahmens und die vom Team "aufgestellten Regeln", in die das Kind zu Beginn seiner Kindergartenzeit als neues Mitglied hineinwachsen muss. Es betrifft auch Momente der Gefahr für die anderen oder Gefahr für das Kind selbst. Gleichwohl ist auf dem Weg zu demokratisch definierten Lernerfahrungen auch wichtig, das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung transparent zu erleben und dort Übungsräume für demokratische Beziehungsformen erleben zu können, wo die Autorität Entscheidungen in Interessenkonflikten an Kinder abgeben kann.
Wie Demokratie im Hinblick auf Interessenkonflikte funktioniert und um welche pädagogischen Ziele es dabei gehen könnte, ist bei der Interessenabwägung und etwa gleicher Macht der Interessenvertreter zu sehen. Sie verläuft in Demokratien oft nicht anders als auf Bauermärkten: Soll des einen Interesse akzeptiert oder wenigstens teilweise berücksichtigt werden, dann muss auch der andere einen Vorteil davon haben. In den Konzepten der Mediation und/oder der Streitschlichtung gilt dies z.B. als ein erstrebenswertes Ziel: die so genannte win-win-Situation. Es versteht sich von selbst, dass es bei Interessen, bei denen es um Ressourcen oder Strukturen geht, dieser Kuhhandel weit weniger problematisch ist (auch wenn er sehr hart geführt wird), als bei in Zukunft erwarteten Wirkungen von Gesetzen und Vorschriften, die sich nur schwer vorhersagen lassen. Bei diesen kann nicht vollständig "sachlich" debattiert werden. Vielmehr enden Interessenabwägungen nach diesem Muster häufig in einer derartigen Veränderung eines ursprünglichen Planes, dass dessen Ziel nun höchstwahrscheinlich nicht mehr erreicht werden kann. Dies macht Demokratien gegenüber Reformen so außerordentlich schwerfällig. Und dies könnte auch in vorschulischen Einrichtungen in dem einen oder anderen Fall als allzu mühsam und langwierig angesehen werden. Eine demokratisch begründete Intervention kann deshalb leicht und unter der Hand zu einer der beiden anderen Interventionstypen umgedeutet werden. Die Erfahrungen, die Kinder damit machen und mit "Demokratie" verbinden, bleiben dann aber zwangsläufig zwiespältig.
Literatur
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