Rüdiger Hansen
Es gibt, wie mir scheint, gute Gründe für Kindertageseinrichtungen, sich in der Auseinandersetzung mit Kinderrechten in ihrer pädagogischen und politischen Arbeit besonders auf die Beteiligungsrechte zu konzentrieren. Der Paradigmenwechsel, der mit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention verbunden ist, wird nirgendwo so deutlich, wie beim Recht von Kindern auf Beteiligung an allen sie betreffenden Entscheidungen. Partizipation verlangt unmittelbar, den Kindern als Subjekten zu begegnen, sie als gleichwertige Partner ernst zu nehmen und mit ihnen in ergebnisoffene Dialoge zu treten.
Schützen und fördern können wir Kinder hingegen vermeintlich auch, ohne das Verhältnis zwischen den aktiv schützenden und fördernden Erwachsenen und den passiv beschützten und geförderten Kindern zu überdenken. Doch auch Schutz und Förderung bedürfen sowohl aus kinderrechtlichen als auch aus Effektivitätsgründen der Beteiligung der Betroffenen. So weist Raingard Knauer (2006) darauf hin, dass Prävention Partizipation brauche, und im Folgenden wird deutlich werden, warum Bildungsförderung und insbesondere Demokratiebildung ohne die Beteiligung der Kinder nicht denkbar sind.
Bildung braucht Partizipation
Dass Kindertageseinrichtungen Bildungseinrichtungen sind, wird kaum noch jemand ernsthaft bestreiten. Aber wie frühe Bildung angemessen gefördert werden kann, beschäftigt Bildungsforscher, pädagogische Fachkräfte und Eltern. Dabei führen die Fragen, was Kinder angesichts eines rasanten gesellschaftlichen Wandels lernen sollten und wie sie das lernen können, zur Partizipation als Schlüsselprozess für gelingende Bildung.
Warum denken wir heute so viel über Bildung nach?
Fragt man pädagogische Fachkräfte und Eltern, warum wir heute so viel über Bildung nachdenken, lautet die häufigste Antwort: wegen der erschreckenden Ergebnisse der PISA-Studien. Die Nachfrage, warum die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, denn eine so aufwendige und kostenintensive Untersuchung in Auftrag gab, thematisiert den gesellschaftlichen Wandel, der mit den Begriffen "Ende der Arbeitsgesellschaft" und "Übergang in die Wissensgesellschaft" beschrieben wird, als Hintergrund der aktuellen Bildungsdebatte.
Der amerikanische Wirtschaftsjournalist Jeremy Rifkin (1997) vergleicht das Ausmaß dieses Wandels und seiner alles durchdringenden Folgen mit jenen der Industriellen Revolution, dem Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft. Rifkin schildert Mitte der 1990er Jahre sehr eindrücklich, wie durch technologische Entwicklungen und Automation menschliche Arbeitskraft in der Produktion wie im Dienstleistungssektor zusehends weniger benötigt wird. Fließbandarbeit wird immer seltener. Ganze Berufsgruppen, wie beispielsweise die Schriftsetzer, verschwinden. Internetkaufhäuser kommen fast ohne Personal aus. Gebraucht werden stattdessen hoch qualifizierte Fachkräfte, die die Automaten und Roboter, die allerorts die Arbeit erledigen, entwickeln, bedienen und kontrollieren können. An ihnen herrscht Mangel im Übergang in die Wissensgesellschaft. Darum gibt es die PISA-Studie. Daher wird auch unser dreigliedriges Schulsystem, das für die Industriegesellschaft entworfen wurde und auf frühe Auslese baut, nicht mehr lange bestehen. Und daher wird so viel Wert darauf gelegt, dass Bildung bereits früh, insbesondere in der öffentlichen Institution KiTa, unterstützt und herausgefordert wird.
Rifkin wie auch die französische Essayistin Viviane Forrester (1998) befürchteten bereits vor einem Jahrzehnt, dass dieser technologische Wandel sich nicht segensreich als Befreiung der Menschen von unwürdigen, monotonen Arbeitsbedingungen auswirken würde. Vielmehr drohte aus ihrer Sicht einer immer breiter werdenden Schicht nicht mehr benötigter, zu gering qualifizierter Arbeitskräfte Dauerarbeitslosigkeit und - da der Wert des Menschen sich immer noch am Marktwert seiner Arbeitskraft bemisst (Rifkin 1997, S. 13) - die damit verbundene Schmach (Forrester 1998, S. 14). Für die wachsende Gruppe ungeschützt und unterbezahlt Arbeitender und Arbeitsloser wurde seither eigens ein Begriff geprägt: das "Prekariat". Die Situation dieser Menschen ist in der Tat prekär, denn ihnen verspricht - anders als der "industriellen Reservearmee" des frühen Industriezeitalters - selbst wirtschaftlicher Aufschwung keine neuen Arbeitsplätze mehr.
Diese Folgen der technologischen Entwicklung kann man mit Rifkin und Forrester politisch wie menschlich kritisch bewerten. Eines bleibt dennoch unübersehbar: Bildung und Qualifikation sowie ihre lebenslange Weiterentwicklung sind die wichtigsten individuellen Voraussetzungen dafür, fortan das eigene wie auch das gesellschaftliche Leben aktiv mitgestalten zu können. Wer gering qualifiziert ist, hat es zunehmend schwerer, am Erwerbsleben teilzunehmen. Wer wenig gebildet ist, wird vermutlich auch die dadurch gewonnene Zeit, selbst wenn der Lebensunterhalt sicher gestellt sein sollte, nur schwer kreativ nutzen können - nicht einmal, um "sich der Erniedrigung zu verweigern und eine Analyse der herrschenden politischen Verhältnisse zu fordern" (Forrester 1998, S. 14 f.).
Was sollten Kinder heute lernen?
Was sollten Kinder also vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen Wandels heute lernen, um in fünfzehn oder zwanzig Jahren als Erwachsene die Anforderungen des gesellschaftlichen und privaten Lebens erfüllen zu können? Welche Bildungsthemen erscheinen den Erwachsenen so bedeutsam, dass sie sie den Kindern zumuten wollen?
Leider lässt sich nur unzulänglich prognostizieren, vor welchen Herausforderungen die Kinder von heute einst stehen werden. Zu schnell schreitet die Entwicklung voran. Wer hatte schon vor fünfzehn Jahren ein Handy? Wer nutzte vor zwanzig Jahren einen Computer? So wenig wir wissen, welche Herausforderungen die nächsten Generationen zu bewältigen haben, so sicher können wir sein, dass sie vor neuen, heute vielleicht noch gar nicht vorstellbaren Aufgaben und Problemen stehen werden. Kinder sollten daher die Fähigkeit und Bereitschaft entwickeln, sich neuen Problemen immer wieder zu stellen und Lösungen dafür zu suchen. In der Bildungsforschung gibt es dafür u.a. den Begriff der "Problemlösungskompetenz".
Zur Lösung jedweder Probleme kann das aktuelle Wissen der Menschheit scheinbar überall und jederzeit herangezogen werden. Es ist via Internet leicht zugänglich und vermehrt und wandelt sich ebenfalls rasch. Um die Informationsflut allerdings sinnvoll nutzen zu können, muss man auswählen und abschätzen können, was für die Lösung eines aktuellen Problems jeweils verwertbar erscheint. Kinder sollten daher lernen, verschiedene Lösungsoptionen für ein Problem gegeneinander abzuwägen und eine Wahl zu treffen. Diese Kompetenz wird als "Entscheidungsfähigkeit" bezeichnet.
Lösungsoptionen können, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, unterschiedliche Vor- oder Nachteile haben. Wenn Problemlagen komplexer werden, sind meist unterschiedliche Personen oder Personengruppen betroffen oder verschiedene Fachdisziplinen in den Lösungsprozess eingebunden. Das verlangt von jeder und jedem Beteiligten die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Dialog. Kinder sollten daher lernen, sich anderen verständlich zu machen, die Sichtweisen anderer aufzunehmen und miteinander Lösungen auszuhandeln. Kurz: Sie sollten "Kommunikationsfähigkeit" entfalten.
Problemlösungskompetenz, Entscheidungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit - so komplex und unscharf diese Begriffe daherkommen, als Ziele von Bildungsförderung in Kindertageseinrichtungen stehen sie für eine Kompetenzorientierung jenseits einer Fächerorientierung, wie sie noch allzu oft aus den in den Bildungsplänen der Länder ausgewiesenen Bildungsbereichen abgeleitet wird.
Wie lernen Kinder?
Dass derart komplexe Kompetenzen nicht mit dem Nürnberger Trichter vermittelt werden können, liegt auf der Hand. Die Bildungsforschung hat insbesondere im Zusammenhang mit frühkindlicher Bildung die Begriffe der "Selbstbildung" und der "Aneignung" geprägt. Was Selbstbildung bedeutet, kann man sich am besten vor Augen führen, wenn man ganz junge Kinder betrachtet. Niemals wieder lernen Menschen so viel in so kurzer Zeit wie in ihren ersten Lebensjahren. So eignen sich Kinder eine, auch zwei Sprachen mit allen grammatikalischen Regeln und allen Ausnahmen davon systematisch an - ohne jemals unterrichtet zu werden. Sie tun das nicht allein, aber sie tun es selbst.
Gerd Schäfer beschreibt diesen Vorgang aus konstruktivistischer Sicht: "Unter Selbstbildung verstehen wir die Tätigkeit, die Kinder verrichten müssen, um das, was um sie herum geschieht, aufnehmen und zu einem inneren Bild ihrer Wirklichkeit verarbeiten zu können" (Schäfer 2004, S. 7). Selbstbildung ist demnach eine Tätigkeit des Kindes. Bildung wird aktiv erarbeitet, nicht passiv entgegen genommen. Die Tätigkeit des sich selbst bildenden Kindes besteht darin, das in sich aufzunehmen, was um das Kind herum geschieht. Um das Kind herum gibt es Dinge, Geräusche, Bewegungen, Menschen, die etwas tun, sich äußern, Emotionen zeigen und vieles mehr.
Das Kind kann nur in sich aufnehmen, was sich seiner Wahrnehmung offenbart. Was nicht um das Kind herum geschieht, wird nicht Gegenstand seiner Bildung. Alles, was sich ihm darbietet, wird das Kind aber verarbeiten, jedoch auf seine ihm eigene Weise. Es entscheidet selbst, was es sich zu Eigen macht, wovon es sich abwendet, was es wie abwandelt oder vertieft - wenn auch nicht in einem bewussten Abwägungsprozess. Dabei konstruiert jedes Kind ein individuelles inneres Bild seiner Wirklichkeit. Donata Elschenbroich (2001, S. 48) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass jedes Kind die Welt neu erfinden müsse. "Wenn sie das nicht tun", fährt Gerd Schäfer (2004, S.7) fort, "sind wir als Pädagogen machtlos." Wir können ihnen unsere Erfahrungen und unser Wissen eben nicht eintrichtern.
Wenn Bildung in diesem Sinne Selbstbildung ist, dann ist sie ohne die aktive Beteiligung der Kinder nicht möglich. Damit wird Partizipation zum Schlüssel zur Bildung.
Partizipation als Schlüssel zur Bildung
Hartmut von Hentig hat auf die Frage, was Kinder bildet, gesagt: "Alles" (vgl. Hentig 1996, S. 13). Mit Gerd Schäfer könnte man ergänzen: Kinder bildet alles, was um sie herum geschieht und was sie aufnehmen und zu einem inneren Bild ihre Wirklichkeit verarbeiten. Partizipation bedeutet, Kinder an Angelegenheiten, die sie betreffen, zu beteiligen. Kinder zu beteiligen bedeutet also, das, was um sie herum geschieht, zu ihren Angelegenheiten zu machen, für die sie zuständig sind und für die sie Verantwortung übernehmen dürfen (nicht müssen!) - und damit Bildungsprozesse herauszufordern oder zu intensivieren.
Was Kinder dabei neben den die jeweilige Angelegenheit betreffenden Kenntnissen und Fertigkeiten erwerben können, wird in der Definition von Richard Schröder (1995) deutlich: "Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden" (S. 14). Es geht in Partizipationsprozessen immer darum, Lösungen für Probleme im Alltag zu finden. Dabei bauen Kinder Problemlösungskompetenz auf. Indem sie Entscheidungen treffen, entwickeln sie Entscheidungsfähigkeit. Und wenn sie Entscheidungen mit anderen teilen und Probleme gemeinsam lösen, entfalten sie Kommunikationsfähigkeit.
Partizipation - so wird hier deutlich - ist mehr als eine Methode zur Förderung von Bildungsprozessen. Partizipationsprozesse sind selbst Bildungsprozesse, in denen Kinder entscheidende Kompetenzen für die Bewältigung ihrer Zukunft ausbilden können.
Partizipation ist Demokratiebildung
Auch politische Bildung ist Selbstbildung und kann nicht vermittelt, sondern nur handelnd erworben werden. Demokratiebildung verlangt also die Erfahrung demokratisch gestalteter Beziehungen, Strukturen und Verfahrensweisen. Pädagogische Fachkräfte können Kindertageseinrichtungen als "Kinderstuben der Demokratie" gestalten, indem sie das "Recht Rechte zu haben" institutionell verankern.
Welche Rechte haben Kinder in der Kindertageseinrichtung?
"Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben" (Korczak 1992, S. 304).
Diese Worte stammen aus der Feder des polnischen Arztes und Pädagogen Janusz Korczak. Sie wurden 1920 in seinem pädagogischen Hauptwerk "Wie man ein Kind lieben soll" erstmals veröffentlicht und beziehen sich auf die Situation in öffentlichen Erziehungsanstalten jener Zeit. Doch die Einschätzung und der Appell Korczaks haben bis heute nur wenig an Aktualität verloren.
Ein Kind, das aus der Familie kommend in die öffentliche Institution Kindertageseinrichtung eintritt, bewegt sich in der Regel das erste Mal eigenständig ohne Begleitung seiner vertrauten Bezugspersonen in einem öffentlichen Raum. Für das Kind bedeutet dies - wie Hannah Arendt es vielleicht ausdrücken würde -, dass es die "Sphäre des Privaten" verlässt und die "Sphäre des Politischen" betritt. Dieser neuen Situation begegnet es mit Handlungskonzepten, die es für die eigene Familie entwickelt hat.
In der Gemeinschaft der Kindertageseinrichtung treffen sehr unterschiedliche familiäre Einzelerfahrungen aufeinander und müssen miteinander in Einklang gebracht werden. In diesem Prozess macht jedes Kind erste Erfahrungen mit der grundlegenden politischen Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, wenn es versucht zu ergründen, wer in dieser Gemeinschaft der Bestimmer ist, welche Regeln hier gelten, welche Abläufe hier üblich sind, welche Verhaltensweisen diese ihm abverlangen oder was es darf und was es nicht darf.
Führt man sich nun die Erfahrungen vor Augen, die Kinder heute in deutschen Kindertageseinrichtungen bezüglich dieser Fragen machen, wird man unschwer erkennen, dass in der Regel die pädagogischen Fachkräfte die Bestimmer sind. Sie verfügen über eine uneingeschränkte Entscheidungs- und Gestaltungsmacht. Sie entscheiden über die Abläufe und Verfahren, sie legen fest, was Kinder dürfen und was sie nicht dürfen, und sie bewerten die Verhaltensweisen der Kinder. Kinder sind im Alltag der Kindertageseinrichtung so rechtlos wie das Volk in einer absoluten Monarchie. Zwar gibt es unter den pädagogischen Fachkräften viele wohlwollende Monarchen, die den Kindern hier und da Rechte und Freiräume zugestehen. Aber sie können ihnen diese Rechte jeder Zeit ohne Begründung wieder entziehen, weil ihnen vielleicht die Entscheidung der Kinder missfällt oder weil ihnen die Mitsprache der Kinder gerade zu viel wird. Es gibt keine Rechtssicherheit. Die Willkür ist seit Korczaks Zeiten ungebrochen.
Welche Rechte sollten Kinder in der Kindertageseinrichtung haben?
Ein pädagogischer Ansatz, der an den Kinderrechten orientiert ist, steht also vor der Frage, welche Rechte Kinder in einer Kindertageseinrichtung haben sollen. Dass es weder sinnvoll noch notwendig ist, ohne weiteres die Kinderrechte der UN-Konvention zu übernehmen, wird deutlich, wenn man die Reaktionen von pädagogischen Fachkräften und Kindern betrachtet, in deren Einrichtung institutionalisierte Beteiligungsformen wie Kinderkonferenzen, Kinderräte oder Kinderparlamente eingeführt werden.
Die Fachkräfte werfen in diesem Prozess regelmäßig die Frage auf, ob denn die Kinder mit ihrer Mehrheit alle Entscheidungen der Erwachsenen überstimmen könnten. Sie fürchten, ihrer pädagogischen Aufgabe nicht gerecht werden zu können, wenn die Kinder gleichberechtigt mitentscheiden. Unabhängig davon, wie gerechtfertigt diese Befürchtung sein mag (sie zeugt ja auch von einem geringem Zutrauen in die Bereitschaft und die Fähigkeiten der Kinder, abgewogene Entscheidungen zu fällen), würde sie im Alltag mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Kinderrechte, die eine Fachkraft nicht aus Überzeugung mitträgt, im Zweifel nicht berücksichtigt oder sogar aktiv umgangen würden. Um die Umsetzung der ausgewiesenen Kinderrechte sicher zu stellen, erscheint es daher sinnvoll, Kindern nur solche Rechte zuzugestehen, die die pädagogischen Fachkräfte in der Einrichtung befürworten können.
Wenn institutionalisierte Beteiligungsformen erst einmal eingeführt wurden und die Kinder ihre Mitsprachemöglichkeiten erkannt haben, hören die Erwachsenen oft Bemerkungen wie die folgende: "Das könnt ihr gar nicht allein entscheiden. Das müssen wir erst im Kinderrat besprechen." Es scheint also so zu sein, dass durch das Zugeständnis von Rechten und die Erfahrung sie anzuwenden den Kindern bewusst wird, dass sie Rechte haben. Diese grundlegende Erkenntnis animiert sie dann bisweilen, weitere Rechte einzufordern. Diese Beobachtungen legen nahe, dass es nachrangig ist, welche Rechte Kinder in der Kindertageseinrichtung haben. Zunächst geht es darum, dass sie Rechte haben und diese verbindlich garantiert sind.
Hannah Arendt hat das in einem anderen Zusammenhang das "Recht Rechte zu haben" (Arendt 2000, S. 614) genannt. Sie hatte das Schicksal von Staatenlosen während des 2. Weltkriegs analysiert und die Meinungsfreiheit dieser Rechtlosen, die sich in nichttotalitäre Länder geflüchtet hatten, als "Narrenfreiheit" bezeichnet, "weil das, was er [der Staatenlose] denkt, für nichts und niemanden von Belang ist" (Arendt 2000, S. 612 f.). Erst wenn dieser Zustand der Rechtlosigkeit aufgehoben wäre, erlange das Gesprochene Relevanz und der Mensch Zugang zu einer politischen Gemeinschaft und damit seine Menschenwürde zurück. Daher solle die Staatengemeinschaft dieses Recht Rechte zu haben als erstes Menschenrecht gewährleisten.
Auch wenn die Situation von Kindern in Kindertageseinrichtungen grundsätzlich nicht mit jener staatenloser Flüchtlinge vergleichbar ist, haben auch sie eine Art "Narrenfreiheit". Sie können sagen, was sie wollen - Relevanz hat es nur, wenn es die pädagogischen Fachkräfte aufgreifen. Und ob sie das tun, entscheiden allein und willkürlich die Fachkräfte. Dieser rechtlose Zustand, in dem sich die Kinder befinden, kann nur aufgehoben werden, wenn das Recht Rechte zu haben für jedes Kind in einer Kindertageseinrichtung gewährleistet wird und die jeweils spezifischen Rechte der Kinder strukturell verankert werden.
Wie kommen Kinder in der Kindertageseinrichtung zu ihren Rechten?
Kinder in Kindertageseinrichtungen können ihre Rechte nicht erkämpfen, wie es Erwachsene in der Vergangenheit immer wieder getan haben. Kinder sind existenziell darauf angewiesen, dass die erwachsenen Versorger ihnen zugeneigt bleiben. Darum können sie nicht gegen sie opponieren. Sie bemühen sich vielmehr - unabhängig davon, wie die Erwachsenen ihnen begegnen - heraus zu bekommen, was diese von ihnen erwarten, und diesen Erwartungen zu entsprechen. "Kinder kooperieren", nennt das der dänische Familientherapeut Jesper Juul, und zwar "im gleichen Umfang mit konstruktiven wie mit destruktiven Prozessen [...] Ihre Psyche kann nicht unterscheiden" (Juul 1997, S. 206 f.).
Kindern in Kindertageseinrichtungen müssen daher ihre Rechte aktiv nahe gebracht werden. Sie müssen ihnen zugestanden und bekannt gegeben werden; und sie müssen darin unterstützt werden sie wahrzunehmen. Dafür müssen zunächst die Erwachsenen freiwillig auf einen Teil ihrer Macht verzichten.
Zu diesem Zweck haben in Schleswig-Holstein seit dem Modellprojekt "Die Kinderstube der Demokratie" (Hansen/ Knauer/ Friedrich 2004) zahlreiche "Verfassunggebende Versammlungen" in Kindertageseinrichtungen stattgefunden. In einer Verfassunggebenden Versammlung verständigen sich die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die künftig in der Einrichtung geltenden Partizipationsrechte der Kinder. Sie legen die Inhalte und Grenzen sowie die Formen der Beteiligung fest (vgl. Hansen 2005).
Eine Verfassunggebende Versammlung beginnt mit den Fragen: "Worüber sollen die Kinder auf jeden Fall mitentscheiden?" und "Worüber sollen die Kinder auf keinen Fall mitentscheiden?" Diese Fragen müssen die beteiligten Erwachsenen in allen Partizipationsverfahren beantworten. Während aber bei projektorientierten Verfahren wie in der Spielraumplanung die Machtabgabe der Erwachsenen und die Bemächtigung der Kinder inhaltlich und zeitlich begrenzt bleiben, stehen bei der Einführung institutionalisierter Formen alle potenziellen Entscheidungen, die in einer Kindertageseinrichtung gegenwärtig und in Zukunft getroffen werden, zur Disposition: von der Frage, ob Kinder in der Einrichtung Hausschuhe und im Außengelände eine Jacke tragen müssen, über die Vereinbarung von Regeln oder die Gestaltung von Räumen, bis zu Finanz- und Personalangelegenheiten.
Das Ziel dieses Verständigungsprozesses im Team ist nicht, möglichst viele Rechte für die Kinder durchzusetzen, sondern den größtmöglichen Konsens unter den Erwachsenen darüber herzustellen, welche Rechte den Kindern eingeräumt werden sollen. Es geht also nicht darum, dass die "Gasgeber" in diesem Prozess die "Bremser" überreden oder überstimmen. Vielmehr gilt es eine Atmosphäre zu schaffen, die es ermöglicht, diesbezügliche Ängste, Vorbehalte und Bedenken zu äußern und zu reflektieren. Können diese Ängste, Vorbehalte und Bedenken nicht bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgeräumt werden, bestimmen sie die vorläufigen Grenzen der Kinderrechte. Jede pädagogische Kraft soll am Ende dieses Prozesses zuversichtlich und motiviert sein, sich mit den Kindern auf diesen Weg zu begeben.
Wenn auf diese Weise die Beteiligungsrechte der Kinder festgelegt sind, wird erarbeitet, wie die Kinder diese Rechte wahrnehmen können: "Wie sollen die Kinder mitentscheiden?" Gremien werden entwickelt, ihre Zusammensetzung festgelegt, Wahlmodi und Entscheidungsverfahren bestimmt, Moderations-, Dokumentations- und Transfermöglichkeiten erdacht, bis letztlich ein genaues Schaubild der Beteiligungsstrukturen entsteht.
Mit der Erstellung eines Handlungsplans für die Einführung der Gremienarbeit und die Erarbeitung einer schriftlich formulierten Verfassung endet die meist dreitägige Verfassunggebende Versammlung. Der Text der Verfassung wird anschließend im Entwurf formuliert, von den pädagogischen Fachkräften in erster Lesung überarbeitet und in zweiter Lesung mit den Eltern verabschiedet. Erst wenn sich die Erwachsenen verständigt haben, wird die Verfassung den Kindern vorgestellt.
Die in Schleswig-Holstein auf diese Weise bislang entstandenen Kita-Verfassungen umfassen ca. 20-25 Paragraphen in einer Präambel und vier Abschnitten: Verfassungsorgane, Zuständigkeitsbereiche, Geltungsbereich und Inkrafttreten sowie Übergangsbestimmungen.
Im Abschnitt Geltungsbereich heißt es: "Die vorliegende Verfassung gilt für die Kindertageseinrichtung XY. Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichten sich durch ihre Unterschrift, ihre pädagogische Arbeit an den darin festgelegten Rechten der Kinder auszurichten." Diese Unterschrift bedeutet für die Fachkräfte einen hohen Grad der Selbstverpflichtung. Sie unterschreiben keineswegs leichtfertig, da die Verfassung in der Einrichtung veröffentlicht wird und die Rechte der Kinder wie auch die Machtabgabe der Fachkräfte somit einklagbar werden. Spätestens an dieser Stelle ist unübersehbar, dass die Rechte der Kinder nur mit der aktiven Zustimmung jeder einzelnen Mitarbeiterin und jedes einzelnen Mitarbeiters verabschiedet werden können, wenn sie denn ernsthaft umgesetzt werden sollen.
Die Verfassungsorgane sind in der Regel föderal aufgebaut, das heißt, es gibt meist Gremien auf der Ebene der (Stamm-/ Kern-) Gruppen und ein Gremium auf der Einrichtungsebene. Daneben gibt es manchmal ausschussartige Gremien, übergeordnete Gremien, die nur punktuell zusammentreten, und andere Varianten, die sich aus den individuellen Anforderungen der jeweiligen Einrichtungen ergeben. Häufig sind die Gremien auf der Gruppenebene als offene Kinderkonferenzen konzipiert, an denen die jeweils betroffenen oder interessierten Kinder und Erwachsenen teilnehmen, während auf der Einrichtungsebene, insbesondere in größeren Häusern, repräsentative Gremien mit gewählten Delegierten überwiegen. Auch die pädagogischen Fachkräfte und gegebenenfalls die Eltern und der Träger entsenden Vertreter in diese Gremien. Die Einführung der Gremien erfolgt am besten sukzessive von unten nach oben aufbauend. Der Zeitplan dafür wird im Abschnitt Übergangsbestimmungen festgeschrieben.
Wenn Delegierte die Interessen ihrer Gruppe vertreten und die ausgehandelten Ergebnisse wiederum in der Gruppe vorstellen sollen, wird deutlich, dass die Fachkräfte es nicht dabei belassen dürfen, den Kindern Rechte zugestanden zu haben, sondern dass sie sie auch dabei unterstützen müssen, diese wahrzunehmen. Elementarkinder können nur sehr bedingt ein imperatives Mandat erfüllen. Die dafür notwendige Fähigkeit zum Perspektivenwechsel entwickelt sich gerade erst. Aber sie sind durchaus in der Lage, eine Liste von symbolisierten Themen vorzutragen, die sie aus der Gruppe in das übergeordnete Gremium mitgebracht haben. Und ein ähnlich gestaltetes Protokoll erleichtert ihnen auch den Transfer der Ergebnisse. Die Verhandlungen um die einzelnen Punkte werden sie aber in der Regel aus ihrer individuellen Betroffenheit heraus führen.
Das weist auf ein generelles Merkmal institutionalisierter Beteiligungsformen in Kindertageseinrichtungen hin. Es geht hier nicht nur um die tatsächliche Mitbestimmung, also um das "Was". Kinder erleben gleichzeitig auch immer das erste Mal das "Wie" demokratischer Verfahren: die eigenen Interessen vor einer Gruppe zu äußern, darum zu verhandeln, Kompromisse einzugehen, Entscheidungen gemeinsam zu fällen und vieles mehr. Dies alles zu lernen ist anstrengend und bereitet Mühe. Dafür brauchen sie Zeit und eine fehlerfreundliche Atmosphäre. Und wenn das Thema, das "Was" der Mitbestimmung, für die Kinder bedeutsam ist, sind sie gerne bereit diese Mühe auf sich zu nehmen.
Typische Themenbereiche, für die die Zuständigkeiten im zweiten Abschnitt der Verfassungen geklärt werden, sind die Selbstbestimmung im Alltag (was sie wann, wo, mit wem und wie machen), der Tagesablauf, die Raumgestaltung und -nutzung, Themen und Inhalte, die Mahlzeiten, Regeln und Grenzen, Hygiene- und Sicherheitsfragen, Finanz- und Personalangelegenheiten.
Kaum ein Kita-Team kann sich zu diesem Zeitpunkt darauf einigen, Kinder bei Personaleinstellungen zu beteiligen. Zwei Jahre und viele Beteiligungserfahrungen später aber befragte ein Team die Kinder nach Kriterien für eine Stellenausschreibung und diskutierte ein anderes, ob es den Kindern nach einem Hospitationstag möglicher neuer Mitarbeiterinnen ein Veto-Recht bei der Auswahl zugestehen will.
Bei wenigen Themenbereichen werden hingegen in der Verfassunggebenden Versammlung die Zuständigkeiten so eindeutig zugewiesen. Die meisten Bereiche differenzieren die Fachkräfte sorgfältig aus. Wie dies aussehen kann, soll am Beispiel des Zuständigkeitsbereichs "Mahlzeiten" dargestellt werden.
Da heißt es vielleicht im Absatz (1): "Die Kinder sollen unter Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Küchenbereich mitentscheiden über die Auswahl und die Gestaltung der Mahlzeiten." Hier geht es um das Angebot an Speisen, das den Kindern gemacht wird. Zwei Aspekte erscheinen erwähnenswert: Erstens gibt es offensichtlich weitere Beteiligte, die in die Entscheidung einbezogen werden müssen. Die pädagogischen Fachkräfte können den Kindern nur Rechte abtreten, über die sie selbst verfügen. Sind weitere Entscheidungsberechtigte beteiligt oder engen Rahmenbedingungen (Finanzen, Gesetze, Vorschriften) die Möglichkeiten ein, muss dies berücksichtigt werden. Zweitens wird den Kindern hier ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt. Sie müssen also ihre Interessen und Wünsche mit anderen aushandeln.
Im Absatz (2) heißt es: "Die Kinder sollen selbst entscheiden, ob, was und wie viel sie essen." Damit wird den Kindern ein individuelles Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Niemand wird sie mehr dazu zwingen, vom Mittagessen "wenigstens ein bisschen" zu probieren. Niemand wird sie damit erpressen, dass sie nur dann Nachtisch bekämen, wenn sie ihren Teller leer gegessen hätten. Die Nahrungsaufnahme erfolgt ohne jeden Zwang. Selbstverständlich dürfen Erwachsene sich nach wie vor für ein vielfältiges Nahrungsangebot einsetzen, die Kinder motivieren, etwas Neues auszuprobieren, und sie anregen, sich ausgewogen zu ernähren. Aber jedes Kind hat nunmehr das Recht "Nein" zu sagen erhalten, und die Fachkräfte verpflichten sich durch diese Formulierung, dies ohne Einschränkungen zu akzeptieren.
Dies ist ein Recht, das üblicherweise in der dritten Lesung der Verfassung durch die Eltern erneut thematisiert wird. Sie machen sich häufig Sorgen um eine genügende Versorgung ihres Kindes. Eine intensive und detaillierte Auseinandersetzung des Teams über die Rechte der Kinder während der Verfassunggebenden Versammlung stärkt die Fachkräfte darin, diese Auseinandersetzung mit den Eltern sachlich zu führen.
Und schließlich heißt es im Absatz (3): "Die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter behalten sich jedoch das Recht vor, die Tischkultur zu bestimmen." Hier wurde eine eindeutige Grenze der Mitbestimmungsrechte der Kinder gezogen. Die Fachkräfte argumentierten, dass sie den vielen Kindern aus belasteten sozialen Verhältnissen in der Einrichtung ermöglichen wollten, eine Esskultur zu erlernen, die allgemein akzeptiert sei. In der Verfassunggebenden Versammlung ging es an dieser Stelle darum, dass diese Fachkräfte in dieser Einrichtung bewusst abwogen, was ihnen wichtiger erschien: die Erfahrung einer akzeptierten Esskultur oder das Mitbestimmungsrecht der Kinder.
Die Erfahrungen aus den Schleswig-Holsteinischen Einrichtungen, die die Rechte der Kinder auf diese Weise in ihren Konzeptionen verankert haben, sind durchweg positiv. Die pädagogischen Fachkräfte berichten, wie kompetent die Kinder ihre Rechte wahrnehmen und wie ihre eigene pädagogische Kompetenz wächst. Aus absoluten Monarchien sind konstitutionelle Monarchien geworden, in denen die Kinder sich als Träger eigenständiger Rechte erleben.
Fazit
Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen ist der Schlüssel zu Bildung und Demokratie und beginnt in den Köpfen der Erwachsenen. Sie müssen die Beteiligung der Kinder beschließen und gestalten, wodurch sich die pädagogische und politische Arbeit der Einrichtungen nachhaltig verändern und intensive Teamentwicklungsprozesse ausgelöst werden können. Das Institut für Partizipation und Bildung hat in Schleswig-Holstein die ersten 20 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für Partizipation in Kindertageseinrichtungen qualifiziert, die nunmehr die Einrichtungen auf dem Weg zu Kinderstuben der Demokratie begleiten können.
Anmerkung
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag während der Delegiertenversammlung der Katholischen Tageseinrichtungen für Kinder im Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg am 08.10.2008.
Literatur
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Forrester, Viviane: Der Terror der Ökonomie. München 1998
Hansen, Rüdiger: Die Verfassunggebende Versammlung in der Kindertageseinrichtung. KiTa spezial Nr. 4/2005, S. 15-17
Hansen, Rüdiger/Knauer, Raingard/Friedrich, Bianca: Die Kinderstube der Demokratie. Partizipation in Kindertagesstätten, Hrsg.: Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein. Kiel 2004
Hentig, Hartmut von: Bildung. München, Wien 1996
Juul, Jesper: Das kompetente Kind. Reinbek 1997
Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, 10. Aufl. 1992 (Erstveröffentlichung 1920)
Knauer, Raingard: Prävention braucht Partizipation. KiTa spezial 3/2006, S. 34-37
Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Frankfurt am Main 1997
Schäfer, Gerd E.: Auf Augenhöhe mit dem Kind? Die Bildungsvereinbarung NRW - Fragen und Antworten. klein & groß Nr. 4/2004, S. 7-11
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