Das Konzept der Partizipationssphären und seine Berücksichtigung in der Projektmethode

Sascha Dümig

Einleitung

In seinen Ausführungen zur Kritik von Partizipation kommt Brennan (2017) zu dem Schluss, dass es besser sei, dass eine deliberative Demokratie, also eine Demokratie der öffentlichen Teilhabe und des öffentlichen Diskurses, als Modell nicht gefördert werde. In seiner Argumentation verweist er auf die Neigung vieler Menschen zu kognitiven Verzerrungen, zur machtorientierten Übervorteilung anderer und zur Korruption (vgl. ebd. S. 125-128). Seine Kritik entfaltet sich aber an einem Begriff der Partizipation, der von Anfang an als ein politischer konzipiert wird, immer geht es schon um die Mündigkeit voraussetzende Teilhabe an Meinungsbildungsprozessen von Gruppen außerhalb und innerhalb von Institutionen. Hier wird offensichtlich das Pferd von hinten aufgezäumt und das ambitionierte Ziel einer partizipativen Bildung als das Primäre genommen. Auf Brennan bezogen bedeutet die Abwesenheit der Zielform also nicht, dass eine Anbahnung durch vorherige Partizipationsformen nicht möglich sei – man muss diese vorgeschalteten Partizipationsformen eben nur in Betracht ziehen.

Ein solches Missverständnis im Antritt ist m.E. auch in den Stufen der Partizipation nach Hart (1992), Gernert (1993) und in der Partizipationspyramide von Straßburger & Rieger (2019) gegeben. Diese bilden ausschließlich den Grad an gegebener Partizipation ab (wie in der Partizipationspyramide von unten nach oben: Information, Mitsprache, Mitentscheidung, Beteiligung in der Umsetzung und Selbstverwaltung), ohne aber die entwicklungspsychologischen und leiblichen Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen. Sie klassifizieren also soziale Teilhabemöglichkeiten unabhängig von altersbedingten Potentialen, sodass in der Folge der Eindruck entsteht, „höhere“ Teilhabemöglichkeiten, seien auch nur älteren Kindern und Jugendlichen zugänglich und, ein häufig auch übersehener Aspekt, dass diese aufgrund ihres Entwicklungsalters auch potentiell immer in der Lage wären, solche Teilhabeformen zu realisieren.

Wie Hansen (2013, S. 68) jedoch betont, finden wir Partizipationsformen schon ab dem Tag der Geburt: „Erste Partizipationsprozesse entstehen, wenn eine Mutter und ihr Baby aushandeln, wann es gestillt wird.“ Eine Beschränkung auf institutionelle und politische Partizipation erscheint entwicklungspsychologisch entsprechend nicht zielführend, d.h., es ist für die Bestimmung von Partizipation essenziell, dass auch definiert wird, worauf sich Partizipation inhaltlich bezieht (Erfahrungsräume, Tätigkeiten, Explorationsbedingungen etc.) und wodurch sie altersbedingt ermöglicht, aber auch begrenzt wird.

Das Konzept der Partizipationssphären

Machen Sie für sich oder mit anderen an dieser Stelle ein Gedankenspiel und versuchen Sie einmal, für das Kleinkind-, Kindergarten-, und Schulalter anzugeben, wo Sie im Alltag Möglichkeiten der Teilhabe sehen. Sie werden wahrscheinlich zum dem Schluss kommen, dass in jeder Altersstufe spezifische Partizipationsmöglichkeiten vorhanden sind. Während z.B. ein Kind im Alter von 2-3 Jahren in Anbetracht seiner Körperinformationen selbstständig darüber entscheiden kann, ob es Durst hat und sich entsprechend auch selbst etwas zum Trinken einschenken kann, ist das Kindergartenkind von 4 Jahren motorisch zu weit mehr in der Lage und kann seine Teilhabeintentionen einem Gegenüber sprachlich kundtun.

Mit größeren Gruppen ist es allerdings überfordert und kann die Akteure und Prozesse in diesen nicht überschauen. Kinder im Schulalter ab 7 hingegen, sind motorisch überaus elaboriert und verwenden Sprache zunehmend zum Aushandeln von sozialen Regeln und zur Gestaltung von entfalteten Gruppenprozessen, über die sie einen guten Überblick haben und in denen sie auch institutionelle Vorgaben mitdenken können. Ihnen wird vielleicht auch aufgefallen sein, dass in der Regel die Partizipationsmöglichkeiten aus früheren Altersstufen in den späteren aufgegangen sein sollten. D.h., es finden keine qualitativen Sprünge statt, sondern eine quasi-kontinuierliche Entwicklung, in der das Kind im Schulalter die Partizipationsmöglichkeiten des Kindergartenkindes, z.B. die Initiative mit Einzelnen oder Kleingruppen, mitgenommen und erweitert hat. Soweit auf jeden Fall die normative Erwartung nach dem reinen Entwicklungsalter.

Mit diesem kleinen Gedankenspiel sind wir schon direkt bei dem Konzept der Partizipationssphären. Grundlage dieses Konzepts ist die Idee, dass ich mir erst durch teilhabendes Tun Aspekte der Umgebung bemächtigt haben muss, damit sie für mich zukünftig als Handlungsbereich gegenwärtig sind. Nur nachdem ich vorher Aspekte der Umgebung als gestaltbar erfahren habe, kann ich mich auf (er-)weiterte Aspekte der Umgebung ausrichten. So hätte z.B. ein Kind erst einmal mit seinem Körper Bezüge zur Umwelt aufbauen können müssen, bevor es später sprachlich und authentisch darüber zu entscheiden vermag, ob sein Gruppenraum verändert werden soll.

Eine Partizipationssphäre stellt hiernach den Erfahrungsraum für mögliche und konkrete Teilhabe dar. Mit den Möglichkeiten der Teilhabe werden aber immer zugleich Grenzen derselben deutlich. Die durchlebte Erfahrung von Möglichkeiten und zugleich der Grenzen derselben eröffnet neue Partizipationssphären. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Propriozeption. Diesen findet man häufig in Bezug auf Psychomotorik, wird hier aber relativ eingeschränkt verwendet und meint hier so viel wie Eigenempfindung oder Eigenwahrnehmung. Hier soll vielmehr auf die Ursprünge des Gedankens bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) verwiesen werden. Seine Idee war auf den Punkt gebracht folgende: Immer, wenn wir etwas erfahren, erfahren wir uns gleichsam selbst mit. Körperlich ist das sehr einfach zu überprüfen. Wenn ich jemanden mit der Hand berühre, spüre ich nicht nur mein Gegenüber, sondern auch immer die eigene Hand. Das heißt weitergedacht, dass ich mich selbst immer nur durch anderes (ein Nicht-ICH nach Fichte), auf das ich mich richte, erfahren kann. Es bildet somit Erfahrungsgrund dadurch, dass es für mich eine Grenze bildet, die mir signalisiert, hier bist Du (hier ist Etwas), hier bin ICH.

Nun erfahren wir uns nicht nur körperlich, sondern natürlich auch in sozialen Verbänden. Hier erfahrene Grenzen bilden und erweitern die Sphäre meiner Partizipation über den Körper hinaus. Stehen anfangs Sinnesdaten und danach mein Körper in Bezug zu Raum und Zeit, so werden später über die verbesserte sprachliche Kommunikation andere Individuen und Gruppen zunehmend wesentlich für Partizipationserfahrungen (s. Abb. 1). Jede weitere Partizipationssphäre impliziert die vorherigen Bereiche, sodass in der demokratisch-politischen Entscheidung in Bezug auf die Gesellschaft (die oberste Sphäre) optimal die Verankerung in früheren Partizipationssphären gegeben sein sollte.

Abb.1: Die Abfolge der Partizipationssphären

Die selbstgesteuerte, gerichtete Aktivität ist es, die eine Differenzierung von mir und der mich umgebenden Umwelt in der jeweiligen Sphäre ermöglicht und damit auch wirklich verantwortungsvolle Entscheidungen verbürgt. Wird die Kontinuität der Partizipationssphärenentwicklung allerdings sozial gebrochen, also verunmöglicht oder mit falschen Zuschreibungen durchsetzt, kann es zu Fehlentwicklungen kommen. Setzt die Partizipation z.B. bei der abstrakt-sprachlichen Entscheidung an, ohne dass die Kinder vorherige Formen der Partizipation erleben konnten, so verbleibt die Entscheidung für das Kind inhaltlich leer, d.h. im weitesten Sinne bedeutungs-los. Dies meint aber nicht, dass diese Bedeutungslosigkeit dazu führen würde, dass das Kind nicht auf Anforderungen der Umwelt reagiert und versucht, sie umzusetzen. Es wird die erwarteten, aber seiner Entwicklung nicht entsprechenden Partizipationsformen bezugslos realisieren, sie sind aber eben nicht mehr durchformt von einem lebendigen Interesse, sondern rein funktional. Der alle vier Jahre stattfindende Gang zur Wahlurne dürfte für viele das Sinnbild einer solchen funktionalen Ausrichtung sein. Vergleichbar wäre hier ein Kind im Hort, das Kinderkonferenzen schematisch angemessen mitlaufen kann, diese aber nicht mit eigenen Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verknüpft und sich in den Prozessen gar nicht widerspiegelt.

Im Gegensatz zur Partizipation und dem Partizipieren möchte ich hier als Gegensatz deshalb das Begriffspaar Emulation und Emulieren vorschlagen. Diese Begriffe kommen aus der Computertechnik und bezeichnet die Nachahmung der Funktionen eines Computers durch ein anderes Modell: „Das nachgebildete System erhält die gleichen Daten, führt vergleichbare Programme aus und erzielt die möglichst gleichen Ergebnisse in Bezug auf bestimmte Fragestellungen wie das zu emulierende System.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Emulator) Diese Begrifflichkeit macht also deutlich, dass Kinder zwar weiterhin komplexe Verhältnisse verarbeiten und handhaben können und sich hier äußerlich der Eindruck von Weiterentwicklung aufdrängt. Erst Kontexte, in denen wirklich individuelle Entscheidung und Verantwortlichkeit gefordert wird, offenbaren, dass diese Weiterentwicklung nur im Sinne einer Emulation, nur in Form einer Systemnachbildung erwarteten Verhaltens besteht, und mit kognitiven Ressourcen bewerkstelligt wird, die losgelöst von individuellem Interesse, Selbstwirksamkeit und dem Gefühl der Selbstmächtigkeit operieren. Solche Kontexte sind meist durch Projekte gegeben, in denen ja vom Ansatz her die Gestaltung und Realisierung von Projektideen durch die Kinder und Jugendlichen über alle Projektphasen hinweg primär ist (vgl. z.B. Küls 2012). Individuelle Entscheidungen und authentische Verantwortlichkeit der Kinder- und Jugendlichen bilden hier das definitive Trittbrett dafür, dass überhaupt etwas gestaltet und etwas realisiert werden kann.

Die Bedeutung für die Projektmethode

In der Praxis ist die Aufgabe unter o.g. Aspekten genau zu bestimmen, welche Partizipationsformen für die jeweiligen Kinder und Gruppen angemessen sind. Das Modell macht ja letztlich die Vorhersage, dass dann, wenn die jeweiligen (zunächst altersgebundenen) Partizipationserfahrungen nicht ermöglicht werden, das Individuum hinsichtlich seiner Partizipationsmöglichkeiten auf früheren Stufen verbleibt (diese wesentliche Idee geht auf Jakob Wentzel, Klasse SP5b der Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt a.M., zurück). So ordnet man Grundschülern eventuell eine Entscheidungsfähigkeit zu, die sie de facto nicht besitzen. Fragt man sie nach eigenen Ideen für mögliche Projekte, sind sie schlicht überfordert, weil sie das Generieren eigener Ideen und deren Umsetzung in der Umwelt noch nie erlebt haben.

Möchte man nun nicht, dass die Kinder nach obiger Terminologie nur emulieren, gilt es in diesem Fall, von der sprachlich-abstrakten Ebene abzugehen und ihnen erst einmal in einem kleineren Rahmen Partizipationserfahrung machen zu lassen, z.B. in Interaktion mit anderen über längere Zeit im Bewegungsraum eine eigene Bewegungsbaustelle aufzubauen (sofern gegeben, sofern erwünscht). Wir gehen also von der Partizipationssphäre 4 weg und experimentieren mit Partizipationsformen der Sphären 2 und 3. Oder anders formuliert: Wir ermöglichen den Kindern einen Explorationsraum eigener Partizipationsmöglichkeiten, der, so trivial es uns auch von außen erscheinen mag, den Kindern den Anschluss an die zuletzt produktiv erfahrene Partizipationssphäre ermöglicht. Manchmal kann es die schlichte Resonanz eines Erwachsenen sein, in der ein Kind seine Teilhabeerfahrungen machen muss, d.h. wieviel Nähe ist erlaubt, wie viel Distanz braucht mein Gegenüber, wo erlebe ich Anerkennung, wo Widerstand?

So mühsam diese Erfahrungen der Partizipationssphäre 1 sind, so bilden sie doch den Grundbaustein aller anderen Partizipationssphären und sollten, wenn möglich, auch in Projekten mit sinnes- und körpernahen Inhalten Eingang finden. Wir müssen in der Projektmethode immer moderieren und begleiten, aber um Projektarbeit überhaupt mit den Kinder- und Jugendlichen produktiv starten zu können, müssen die Erzieher/innen zum Einstieg den Schlüssel zur richtigen Partizipationssphäre finden.

Bezogen auf Gruppen können sich Kinder natürlich in verschiedenen Partizipationssphären bewegen. Es ist m. E. wahrscheinlich, dass in einem pädagogischen Klima der relativen Bevormundung eine synchronisierte Passivität gegeben ist und Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihrer Partizipationssphäre sehr eng beieinander sein werden. In einem pädagogischen Klima der Partizipation werden sich individuelle Muster ausgestalten und verschiedene Partizipationssphären sichtbar sein. Hier gilt es, gemäß der Projektmethode, individuelle Zielsetzungen zu erarbeiten, die Kinder sich gemäß ihrer eigenen Partizipationssphäre einbringen zu lassen und entsprechend zu moderieren und zu begleiten. Die Zielsetzung muss immer weg vom Emulieren hin zum genuinen Partizipieren sein.

Hierfür ist selbstredend die Haltung der Erzieher/innen wesentlich. Wenn die rein altersgebundene Zuweisung von Partizipationsmöglichkeiten vermieden werden soll, gilt es auch die eigenen Vorstellungen darüber, was man selbst als Teilhabe gelten lässt, zu reflektieren, sodass jegliche Form der Scheinpartizipation vermieden wird.

Ausblick

Es sollte deutlich geworden sein, dass Partizipation in ihrer Entwicklung selbst beschrieben werden muss, um in der pädagogischen Praxis falsche Zuschreibungen zu verhindern. Durch das Verständnis dieses eigenen Entwicklungsstrangs nach Maßgabe der Partizipationssphären, können Fachkräfte sich wesentlich sensibilisieren und Unter- wie Überforderung der Kinder und Jugendlichen vermeiden. Letztlich ist das Modell auch zur Selbstreflexion von Fachkräften hilfreich. Wenn man sich Fragen stellt, inwiefern man seiner eigenen Körperlichkeit gewahr ist und im Alltag achtsam für sie ist (Partizipationssphäre 1 und 2) und eigene Bedürfnisse im sozialen Kontext produktiv einbringt und Arbeit mit anderen gestaltet (Partizipationssphären 3 und 4), dann können das wichtige Indikatoren dafür sein, ob man auch selbst in seinen grundlegenden Partizipationsmöglichkeiten so durchformt ist, dass man sich wirklich als mündiger und geerdeter Mensch im wahrhaft demokratischen Sinne bezeichnen kann. Auch für Erwachsene ist die Gefahr der Emulation immer gegenwärtig und sollte kontinuierlich in der Selbstreflexion hinterfragt werden.

Literatur

Brennan, J. (2017). Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen sollten. Ullstein.

Gernert, W. (1993). Jugendhilfe – Einführung in die sozialpädagogische Praxis. UTB.

Hart, Roger (1992). Children's participation. From Tokenism to Citizenship. UNICEF International Child Development Centre.

Hansen, Rüdiger (2013). Mitbestimmung der Kleinsten im Alltag – so klappt’s (Interview). KiTa aktuell ND, (03), S. 67-69.

Küls, H. (2012). Projekte ko-konstruktivistisch planen und durchführen. Bildungsverlag EINS.

Straßburger, G. & Rieger,J. (2019). Partizipation kompakt. Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Beltz Juventa.

Internetquellen

Seite „Emulator“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. November 2020, 00:44 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Emulator&oldid=206002829 (Abgerufen: 19. Mai 2021, 16:35 UTC)

Autor

Dr. phil. Sascha Dümig arbeitet zurzeit als Dozent bei Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt am Main. Er ist staatlich anerkannter Erzieher, Germanist und Psychologischer Berater.

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