Gruppendynamik - Teil 4

Kerstin Paulussen

Mit dem Begriff Gruppendynamik wird der Ablauf, welcher sich durch den zeitlichen Verlauf (bezogen auf den Start- und Endpunkt einer Gruppe) und den sich dadurch verändernden Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander, bezeichnet.

Die Gruppendynamik ist in fünf Phasen[1] eingeteilt. Als erstes wird die Orientierungsphase, gefolgt von der Machtkampf-/Rollenfindungsphase durchlaufen, auf welche die Wir-Phase und dann die Differenzierungsphase folgt. Zum Ende hin wird die Abschlussphase durchlaufen. [2]

Jede Phase hat spezifische Merkmale, welche sich aus den Bedürfnissen und dem Verhalten der Gruppenmitglieder und der Art der Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander ergeben. Ein spezifisches pädagogisches Handeln ist in jeder Gruppenphase erforderlich, um den Gruppenprozess zu begleiten und zu unterstützen. Zuvor ist es erforderlich die Gruppe, die je nach Gruppenart unterschiedliche Strukturen aufweisen kann, zu analysieren und so die jeweils aktuell durchlebten Gruppenphasen zu ermitteln. (Vgl. Spezifische sozialpädagogische Gruppen – Definitionen und Formen)

Gruppenphasen

Die erste Phase, welche von Gruppen durchlaufen wird, ist die Orientierungsphase; die Gruppe ist gerade erst zusammengekommen, die Mitglieder sind sich noch fremd, die räumlichen, personalen und organisatorischen Gegebenheiten sind noch unbekannt, die Gesamtsituation führt zur Verunsicherung. Die pädagogische Arbeit sollte darauf ausgerichtet sein, die Gegebenheiten vertraut zu machen, Vertrauen und Sicherheit zu geben und ein gegenseitiges Kennenlernen zu ermöglichen.

Die Mitglieder werden sich untereinander zunehmend vertraut, Freundschaften werden gefunden, Solidarisierungen ergeben sich und sie kommen damit in die Situation sich voneinander abzugrenzen und sich zu positionieren. In größeren Gruppen bilden sich Sub-Gruppen.

Daraus entwickelt sich die nächste Phase, die Machtkampf- oder auch als Rollenverteilungsphase bezeichnet. In welcher Rolle möchte ich wahrgenommen werden? Welche Position möchte ich in der Gruppe einnehmen? Welche Rolle / Position gestehe ich anderen zu? Welche wird mir zugestanden? Wer ergänzt sich mit wem? Die pädagogische Arbeit besteht in der Moderation, Unterstützung und Streitschlichtung. Auch die Position der sozialpädagogischen Fachkräfte wird herausgefordert und getestet. Notwendige Regeln sollten ermittelt, vermittelt und eingehalten werden. Freiraum zum Ausprobieren und Finden von Rollen und Positionen und zur Selbstregulation sollte gegeben sein. Die Gruppenleitung muss hier eine angemessene sowie lebbare Rolle finden und ein angemessener Erziehungs- bzw. Führungsstil sollte gefunden werden. Hierzu sind viele Gruppen- und Einzelgespräche erforderlich, Partizipation sollte ermöglicht werden.

Die sich nun anschließende Wir-Phase ist gekennzeichnet durch zunehmende Vertrautheit und durch Abgrenzung gegen Außen. Sub-Gruppen entstehen, was bei größeren Gesamtgruppen notwendig ist um sich als Gruppe formieren und identifizieren zu können.  Wir-Merkmale, Symbole und/ oder einheitliche Bekleidungsteile werden festgelegt und eingehalten. Die Abgrenzung gegen andere ist notwendig, teils wird sie durch Abwertung oder Ausgrenzung der Anderen bewirkt. Hier muss das Maß gefunden werden, welches eine Identität ermöglicht, ohne zu diskriminieren. Die Bildung von Sub-Gruppen sollte zugelassen werden, einfache Kooperationsaufgaben sind möglich.

In der dann folgenden Differenzierungsphase erreicht das Wir-Gefühl die höchste Intensität. Es ist die Zeit, in der für zunächst einfache und zunehmend komplexere Gruppenaufgaben vergeben werden können. Auch können eigenständige Projekte durchgeführt werden. Freiräume sollten zugestanden werden; die Fachkraft sollte sich angemessen zurückhalten und so Raum für die Selbstorganisation entstehen lassen. Offene Aufgaben können gestellt werden.

In der letzten Phase, der Abschiedsphase, ist allen Gruppenmitgliedern klar, dass bald ein neuer (Lebens-) Abschnitt beginnt - dass das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe in Auflösung begriffen ist. Die Ausrichtung des Denkens, Fühlens und Handels wird auf die Zukunft gerichtet. Auf den Abschied und die neue Lebenssituation bereiten sich die Einzelnen vor, Wege trennen sich oder werden nur von einigen gemeinsam beschritten. Eine Trennungsaggression kann sich bei Einzelnen entwickeln. Die pädagogische Arbeit besteht darin diesen Prozess vorzubereiten, zu begleiten und den Abschied zu gestalten.[3]

Abb. 1 Normalverteilung Gruppenphase, eigene Darstellung 

Der reale Verlauf der Gruppenphasen ist jedoch regressiv und variantenreich:

Abb. 2 Reale Verlauf Gruppenphase, eigene Darstellung 

Der Verlauf der einzelnen Phasen kann sich je nach Individualität und Alter der Gruppenmitglieder unterschiedlich ergeben. In der einen Gruppe sind die Mitglieder schnell miteinander vertraut, in der anderen ist die Machtkampf- und Auseinandersetzungsphase sehr anhaltend oder wiederum die Differenzierungsphase sehr ausgeprägt. In manchen Gruppen werden bestimmte Phasen, vornehmlich die Differenzierungsphase, möglicherweise nicht erreicht. Die Abschiedsphase kann erst sehr spät einsetzten und kurz, aber heftig verlaufen oder sich auch bereits sehr früh ankündigen. Dann ist möglicherweise die Differenzierungsphase weniger stark ausgeprägt verlaufen. Deutlich wird, dass die Qualität der vorhergehenden Phasen Einfluss auf die Qualität der nachfolgenden haben kann.

Regressionen sind möglich und üblich. Schon das Ausscheiden oder das Hinzukommen eines neuen Gruppenmitgliedes hat Auswirkungen, insbesondere auf das Konstrukt der diversen Rollen, welche nur in gegenseitiger Koexistenz vorhanden sein können. Schon die Veränderung des Verhaltens eines Gruppenmitgliedes hat Auswirkung auf das gesamte Setting. Die Anzahl der Regressionen kann sehr hoch sein, wenn mehrfach neue Mitglieder integriert werden mussten und/ oder häufig Mitglieder aus der Gruppe ausgeschieden sind.

Auch die Veränderung äußerer Umstände, eine räumliche Veränderung, ein Umzug oder eine personelle Veränderung, Änderung von Zuständigkeiten und der Wechsel des Personals kann bzw. wird Einfluss auf den Verlauf der Gruppendynamik nehmen.

Die Art der Institution, deren jeweilige Strukturen bedingen, dass sich spezifische Gruppenstrukturen bilden, welche Einfluss auf die Gruppendynamik haben. Die Gruppensituationen in Freizeiteinrichtungen werden eher unverbindlich und/ oder temporär sein, in Jugendhilfeeinrichtungen sind die Gruppen weniger freiwillig zusammengesetzt. Die Gruppenstruktur, das Zusammenleben ist dann eher durch eine notwendige Koexistenz als durch ein emotional starkes Wir-Gefühl gekennzeichnet. Wesentliche Gruppenmerkmale können daher unterschiedlich stark ausgeprägt sein und möglicherweise zum Teil auch fehlen.

Gruppenanalyse

Deutlich wird, dass der tatsächlich existierende Verlauf der Gruppenphasen nicht der idealtypischen Darstellung der Gruppendynamik entspricht. Die Gruppenphasen verlaufen weder linear noch klar voneinander abgrenzbar und nicht für alle Gruppenarten gleich. Gruppenphasen überschneiden sich, Regressionen sind möglich. Alleinschon das Ausscheiden eines Gruppenangehörigen durch Umzug, Sitzenbleiben o. ä. oder das Hinzukommen eines neuen Mitgliedes kann dazu führen, dass sich die Vertrautheit auflöst, Rollen und Positionen neu erstritten und verteilt bzw. eingenommen werden müssen. Jedoch durchlaufen alle Gruppen, angelehnt an dieses Modell, die Gruppen-Phasen zumindest tendenziell.

Die Grundannahme des mehr oder weniger idealen Gruppenverlaufs ist der gemeinsame Start- und Endpunkt einer Gruppe. Bei einer solchen geschlossenen und homogenen Gruppe ist eine entsprechende Analyse der Gruppenphasen relativ nah am idealisierten Verlauf. Im ersten Schuljahr, zum Beispiel, befindet sich die Klasse überwiegend in der Orientierungsphase. Nach den Sommerferien wird es einen kurzen Moment der Eingewöhnung geben, aber schon schnell, durch die bereits im Vorjahr erworbene und zunehmende Vertrautheit und Sicherheit, wird das Finden und Vertiefen von Freundschaften beginnen bzw. fortgesetzt. Damit verbunden ist die Bildung von Sub-Gruppen, das Empfinden von Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach Abgrenzung und damit die Fortsetzung der Rollenfindung, Rolleneinnahme, Rollenzuschreibung, Positionseinnahme. Die zweite Phase der Rollenfindung/ des Machtkampfes wird beginnt, bzw. setzt sich fort, wenn sie bereits im ersten Jahr begonnen hat. Die weiteren Phasen werden in den folgenden Schuljahren mit einigen Regressionen durchlaufen und am Ende der Schulzeit beginnt mehr oder weniger gleichzeitig die Verabschiedungsphase und Vorbereitung auf die neue Lebenssituation.

Ähnlich, zeitlich komprimierter, ist der Phasenverlauf bei einer Ferienfreizeit. Idealerweise hat es im Vorfeld dieser eine Vorbereitungstreffen gegen, bei welchem organisatorisches besprochen wurde und ein erstes Kennenlernen stattfinden konnte. Bei Antritt der Freizeit wird es meist bereits bestehende Freundschaftsgruppen geben, die sich den Bedingungen vor Ort anpassen und diese gemäß ihren Bedürfnissen nutzen. Einzelne werden je nach Bedingungen integrierte, ggf. finden sich neue Kontakte oder gar Neustrukturierungen der Gruppenzusammensetzung finden statt, die mit Konflikten um die Rolle und Position Einzelner einhergehen. Es wird ein pädagogisches Programm mit einigen Höhepunkten geben und das Ende der Freizeitfahrt ist allen vor Augen.

Sozialpädagogische Gruppen, außer Schulklassen oder Ferienfreizeiten, sind meist jedoch nicht durch dieses Merkmal gekennzeichnet. Das Fehlen des gemeinsamen Start- und Endpunktes ist Ursache dafür, dass es mehrere formale Sub-Gruppen innerhalb einer Gesamtgruppe geben wird. Allein schon dadurch durchlaufen die Sub-Gruppen zeitgleich unterschiedliche Gruppenphasen, hinzu kommen dann noch die einzelnen informellen Sub-Gruppen. Je nach Gruppenart, (vgl. Sozialpädagogische Gruppen - Grundlagen) ist eine Gruppenanalyse bzgl. der Gruppendynamik daher unterschiedlich und deutlich komplexer.

Analyse der Gruppen-Dynamik in sozialpädagogischen Gruppen

In der sozialpädagogischen Arbeit handelt es sich häufig um vielschichtige, heterogene und mit Sub-Gruppen versehene Gesamtgruppen, die eine komplexe und vielschichtige Analyse nach dem Gruppenphasenmodel erforderlich machen.

Eine Kita-Gruppe besteht, je nach Gruppenform I, II oder III, gemäß KiBiZ NRW [4, aus ca.20 Kindern. Diese gliedert sich in der Regel in drei formelle Sub-Gruppen, die durch die unterschiedlichen Aufnahmezeitpunkte entstehen. Da ist die Sub-Gruppe der neuen Kinder, die der Kinder, die im vergangenen Jahr aufgenommen wurden und die der Kinder, welche die Kita in diesem Jahr wieder verlassen werden, um in die Schule zu gehen.

In Kitas bestehen daher parallel mindestens drei Gruppen, die sich jeweils in unterschiedlichen Phasen befinden. Der Teil der Kita-Gruppe, der erst vor einigen Wochen eingewöhnt wurde, befindet sich naturgemäß nicht in der gleichen Gruppenphase wie die Kinder, die im Sommer die Kita verlassen werden. Während die neuen Kinder noch viel Unterstützung brauchen, da sie gerade erst eingewöhnt wurden und sich in der Orientierungsphase oder in der Machtkampfphase befinden, grenzen sich die Vorschulkinder vom Rest der Gruppe ab, da sie sich bereits in der Differenzierungs- oder möglicherweise bereits in der Abschiedsphase befinden. Wohingegen bei den Mittelkindern zu diesem Zeitpunkt erste Vertrautheiten entstehen oder sie befinden sich bereits in der Differenzierungsphase.

Hinzu kommen die informellen Sub-Gruppen; die frei gewählten Spielgemeinschaften, die ebenfalls einem gruppendynamischen Prozess unterliegen. Hierbei haben die Abgrenzung zu anderen Gruppen, der Wechsel der Zugehörigkeit Einzelner durch Neuorientierung als auch der Wegfall, bzw. die Veränderungen, die sich durch die der formellen Gruppen ergeben, eine Relevanz. In altersgemischten Gruppen setzt sich die Kita-Gruppe nach den Sommerferien anders zusammen, da die älteren Kinder die Einrichtung verlassen haben, die formellen Gruppen rücken auf, die informellen werden sich zumindest teilweise neu zusammensetzten.

Die stationäre oder teilstationäre Jugendhilfegruppe, die eine hohe Fluktuation aufweist und darüber hinaus noch eine heterogene Zusammensetzung bzgl. der Interessen und Fähigkeiten hat, wird eine andere Gruppendynamik aufweisen als eine familienähnliche, auf Dauer angelegte Jugendhilfeeinrichtung.

Bedingt durch die Struktur einer Offenen Ganztagsschule (OGS) mit nahezu 100 Schüler:innen aus vier unterschiedlichen Jahrgängen werden sich viele Sub-Gruppen bilden. Es wird informelle Sub-Gruppen, die vielen verschiedenen Freundschaftsgruppen, geben und formelle Gruppen, die sich aus der Organisation der OGS ergeben. Zum Beispiel die Lernzeitgruppe/ Hausaufgabengruppe, die Mittagessengruppe und ggf. die Stammgruppe, als auch die Gruppen, die an den verschiedenen AGs teilnehmen. Häufige Gruppenwechsel sind erforderlich. Es existieren mehrere und unterschiedliche Gruppen parallel, die jeweils unterschiedlichen gruppendynamischen Bedingungen und Prozessen unterliegen. Der Gruppenzusammenhalt wird je nach Gruppe variieren und daher wird auch der Verlauf der Gruppenphasen unterschiedlich ausgeprägt sein.

Fazit

In den vielen unterschiedlichen Gruppen wird eine ausgesprochen vielschichtige Situation vorgefunden, die es zu analysieren gilt. Dabei unterliegen die Gruppenphasen einer hohen Dynamik und zeitlichen Fluktuation. Eine gezielte und differenzierte Gruppenanalyse ist erforderlich, um zu ermöglichen Bedarfe und Notwendigkeiten der verschiedenen Gruppen und Sub-Gruppen wahrzunehmen und um angemessen pädagogisch handeln und begleiten zu können.

Überlegungen zu effektiven Gruppenbeobachtungen und flexibel zu dokumentierender Beobachtungsergebnissen, welche der Schnelllebigkeit der Gruppendynamik folgen und dennoch dokumentierbar sind und damit nachvollziehbar bleiben, sind erforderlich.

Endnoten

[1] Nach S. Bernstein und L. Lowy: Untersuchungen zur Sozialen Gruppenarbeit in Theorie und Praxis, Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag 1988; entwickelt in den 1960er Jahren.

[2] B. Tuckman definierte ursprünglich lediglich vier Gruppenphasen mit den Bezeichnungen Forming, Storming, Norming, Performing, die ähnlich oder gar analog zu denen von Bernstein und Lowy existieren und ähnliche pädagogische Handlungen erforderlich machen. Später wurden diese um eine fünfte Phase, als Adjourning bezeichnet, ergänzt.

[3] Vgl.  Bernstein, S. und Lowy, L.: Untersuchungen zur Sozialen Gruppenarbeit in Theorie und Praxis, Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag 1988

[4 Vgl. KiBiZ; Gesetz zu der frühen Bildung und Förderung von Kindern NRW; aus: lexsoft.de

Literatur

Bernstein, S. und Lowy, L.: Untersuchungen zur Sozialen Gruppenarbeit,

Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag 1988; 1. Auflage Freiburg/ Br. 1969

Fuchs, W., u. a.: Lexikon der Soziologie, Opladen: Verlag der Soziologie; 5. Auflage 2011

Geramanis, O.: mini-handbuch Gruppendynamik, Weinheim Basel: Beltz Verlag, 2017

Herrmann, A.: Wie funktioniert Gruppendynamik? Das rangdynamische Positionsmodell nach Raoul Schindler. München: Grin Verlag, 2019

KiBiZ; Gesetz zur die frühen Bildung und Förderung von Kindern NRW; aus: lexsoft.de; 09.08.2021

Kreher, Antje: Wie funktioniert eine Gruppe? Gruppenmodelle nach Tuckman und Cohn. München: Grin Verlag 2011

König, O. und Schattenhofer, K.: Einführung in die Gruppendynamik, Donauwörth: Carl Auer Verlag, 2018

Strätz, R.: Die Kindergartengruppe. Soziales Verhalten drei-bis fünfjähriger Kinder, Köln: Kohlhammer Verlag, 1992

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