Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg: Chancen und Herausforderungen für die Anwendung in Kindertageseinrichtungen

Beate Ruben

Einleitung

Der Zeitgeist unserer Epoche in Bezug auf die Kinder war von der Bekämpfung negativer Machtausübung durch Erwachsene gegenüber Kindern geprägt. Kinder haben inzwischen verbriefte Rechte. In Deutschland gibt es zahlreiche Vereine, die sich mit dem Wohl der Kinder befassen. Und Kinder erhalten mehr und mehr die Möglichkeit, sich selbst durch Vertretungen zu erklären.

Entsprechend wandelt sich die Kommunikation mit den Kindern. Als Erzieher und Erzieherinnen von kleinen Kindern im Alter von ein bis sechs Jahren in einer Berliner Kita haben wir nach einer Art gesucht, wie wir auch in schwierigen Situationen das Gespräch mit Kindern besser führen können. Wir fanden das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, unternahmen als Team eine dreitägige Fortbildung zu dem Thema und versuchten anschließend, unsere gewonnenen Einsichten in den Alltag einzubringen.

In diesem Artikel beschreibe ich, wie sich unser Team aufgrund einer Fortbildung in Gewaltfreier Kommunikation (GFK) in der erzieherischen Arbeit entwickelt hat und wie GFK auf allen Beziehungsebenen - mit den Kindern, mit den Eltern, mit uns untereinander - eine Veränderung bewirkt hat und weiter wirkt. Zuvor skizziere ich in Kurzform, wie eine Gewaltfreie Kommunikation geführt werden kann. Ich werde hier nur auf die wichtigsten Komponenten - die vier Schritte eines Dialoges und die Rolle der Empathie - eingehen. Zum Schluss betrachte ich als Einrichtungsleiterin zusammenfassend die Möglichkeiten und Begrenzungen der Anwendung von Gewaltfreier Kommunikation in Kindertagesstätten.

1. Was ist "Gewaltfreie Kommunikation"?

Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) wurde von Dr. Marshall B. Rosenberg als Möglichkeit zur konstruktiven Bearbeitung von Konflikten entwickelt, ist aber längst mehr geworden. Inzwischen ist GFK zu einer anerkannten Grundhaltung in menschlichen Beziehungen geworden. "Die GFK hilft uns bei der Umgestaltung unseres sprachlichen Ausdrucks und unserer Art zuzuhören. Aus gewohnheitsmäßigen, automatischen Reaktionen werden bewußte Antworten, die fest auf dem Boden unseres Bewußtseins über dem stehen, was wir wahrnehmen, fühlen und brauchen. Wir werden angeregt, uns ehrlich und klar auszudrücken und gleichzeitig anderen Menschen unsere respektvolle und einfühlsame Aufmerksamkeit zu schenken" (Rosenberg 2005, S. 22).

Es gibt inzwischen Zentren und Verbände für GFK auf allen Kontinenten, in denen zertifizierte Trainer die Methode lehren, sowie diverse Projekte zur Befriedung konfliktreicher gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. Rosenberg 2005, S. 220 ff.).

1.1. Die vier Komponenten der GFK

In einer nach GFK geführten Kommunikation geht es darum, sich selbst ehrlich auszudrücken und dem anderen empathisch zuzuhören. Das soll mit einer klaren, achtsamen Haltung geschehen. Rosenberg nennt diese Art der Kommunikation "Giraffensprache". Die Giraffe ist mit ihrem großen Herzen und ihrem langen Hals ein Sinnbild für verständige Empfindsamkeit und den Überblick in komplexen Situationen. Vier Komponenten bestimmen das Verhalten des Gesprächspartners:

  1. Das Beobachten: Was geschieht tatsächlich? Was hören wir, was sehen wir? Die Kunst ist, ohne Beurteilung und Bewertung wahrzunehmen und die Wahrnehmung einfach zu beschreiben. Dafür ist es sinnvoll, die Beobachtung in einen zeitlichen und kontextuellen Rahmen zu setzen. Dies präzisiert die Aussage und verhindert unspezifische, allgemeine Urteile. Statt "Er ist desinteressiert", was nicht nur eine Bewertung, sondern auch eine Verallgemeinerung darstellt, könnten wir eine Beobachtung so formulieren: "Michael hat in den letzten 20 Minuten nichts gesagt" und anschließend offen nach der Ursache fragen.
  2. Das Benennen von Gefühlen: Wir sprechen aus, wie wir uns fühlen: erschrocken, froh, amüsiert, irritiert etc. Dabei ist es wesentlich, zwischen Wörtern, die Gefühle ausdrücken, und Wörtern, die beschreiben, was wir meinen, wie wir sind, zu unterscheiden. Der Satz "Ich fühle mich in meiner Arbeit nicht wertgeschätzt" beschreibt kein Gefühl, sondern ist eine Einschätzung der Situation, und einem anderen wird die Verantwortung für das eigene Befinden übertragen. Nach Rosenberg ist dies ein typisches Pseudo-Gefühl. In der gewaltfreien Variante sollte es lauten: "Ich fühle mich traurig, einsam, ... weil ich mehr Wertschätzung in meiner Arbeit brauche". Rosenberg stellt in seinem Buch mehrseitige Listen für Gefühlsausdrücke sowie verschiedene Übungen zum Erkennen bestimmter Gefühle zur Verfügung.
  3. Das Ausdrücken unseres Bedürfnisses: Welches Bedürfnis steht hinter meinem Gefühl: Ruhe, Sicherheit, Liebe, Kreativität, Empathie etc.? Die GFK fordert von uns, die eigene Situation zu erkennen, anzunehmen und sodann alle Gefühle, die eine bestimmte situative Beobachtung in uns ausgelöst hat, vor diesem Hintergrund zu betrachten. "Wenn z.B. jemand zu spät zu einer Verabredung kommt und wir die Bestätigung brauchen, daß wir ihm etwas bedeuten, dann fühlen wir uns vielleicht verletzt. Wenn wir stattdessen das Bedürfnis haben, unsere Zeit sinnvoll und konstruktiv zu verbringen, sind wir vielleicht frustriert. Wenn wir andererseits das Bedürfnis nach einer stillen halben Stunde haben, dann sind wir unter Umständen sogar dankbar für die Verspätung und ärgern uns keineswegs. So wird deutlich, daß nicht das Verhalten des anderen, sondern unser eigenes Bedürfnis unser Gefühl hervorruft" (Rosenberg 2005, S. 165). Es geht um den Hintergrund unserer momentanen Lage, die sich aus Bedürfnissen, Wünschen, Erwartungen sowie einer individuellen moralischen und ethischen Grundhaltung zusammensetzt. Diese eigene Situation gilt es zu erkennen und anzunehmen, unser Bedürfnis zu thematisieren. Wir selbst müssen dafür sorgen, dass unsere Gefühle und unsere Bedürfnisse in Einklang miteinander kommen - niemand außer uns selbst kann wissen, was wir dafür benötigen. GFK ruft uns dazu auf, so genau wie möglich zu benennen, was wir gerade brauchen.
  4. Das Bitten: Was wollen wir vom anderen, und zwar so, dass beide es genießen können? Was kann er/sie tun, um unsere Lebensqualität zu verbessern? Die Kunst der gewaltfreien Bitte ist, das Gegenüber nicht mit einer Forderung unter Druck zu setzen, sondern tatsächlich um etwas zu bitten, sodass die andere Person frei entscheiden kann, wie sie reagieren möchte. Ein Nein ist eine mögliche Antwort. Eine negative Antwort anzunehmen heißt jedoch nicht, das eigene Anliegen damit aufzugeben, denn dann kann sich die eigene Lebensqualität kaum verbessern. Vielmehr ist es an dieser Stelle angezeigt, die Gründe, die das Gegenüber von einem "Ja" abhalten (also die Gefühle und Bedürfnisse, die in dieser Person angesprochen wurden), einfühlsam zu ergründen und zu akzeptieren - ein Kompromiss ist sicher möglich (vgl. Rosenberg 2005).

1.2. Die Rolle der Empathie

Der GFK-Prozess bezieht sich auf die Fähigkeit zur Empathie - auf einfühlsame Reaktionen auf das Gegenüber. Rosenberg definiert die Kompetenz der Empathie wie folgt: "Den Verstand leer machen und mit dem ganzen Wesen zuhören" (Rosenberg 2005, S. 113). Das ist ein Zuhören, ohne den Versuch zu machen, den anderen zu verurteilen oder die Verantwortung für ihn zu übernehmen und Ratschläge zu unterbreiten, was jedoch sehr verbreitet ist.

Ein solcherart mangelndes Einfühlungsvermögen bezeichnet Rosenberg als Gewalt in der Kommunikation und führt dafür den Terminus der "Wolfssprache" als Gegenstück zur "Giraffensprache" ein. Rosenberg kritisiert insbesondere, dass Menschen dazu neigen, weniger bei sich selbst und den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu bleiben, sondern sich stattdessen mehr auf ihre Mitmenschen und ihre Umwelt beziehen. Auf diese Art wird die zwischenmenschliche Kommunikationsebene in Schieflage gebracht. Urteile und Verurteilungen sind eine wölfische Form, bei der es um Vergleiche, Analysen von Fehlverhalten oder um Bewertungen und Schuldzuweisungen geht. Hinter Vergleichen und Urteilen kann man mit GFK einen Ausdruck von Bedürfnissen erkennen. Eine Verurteilung findet tendenziell dann statt, wenn die eigenen Bedürfnisse nicht mit denen der anderen Person übereinstimmen. Dann kommt es darauf an, die eigenen Gefühle klar wahrzunehmen und auszudrücken, anstatt den anderen anzugreifen (vgl. Rosenberg 2005, S. 35 ff.).

Das komplementäre Gegenstück dazu bildet die Neigung der Menschen, sich zu rechtfertigen. Insbesondere die in unserem Sprachgebrauch stark verankerte Phrase "etwas tun müssen" dient solcher Rechtfertigung. Damit in Verbindung steht die Vorstellung, Entscheidungen oder Handlungen verdienten Lob bzw. Strafe. So kommt es auch, dass eine Bitte - nicht achtsam und einfühlsam ausgesprochen - schnell zur Forderung wird, bei deren Nicht-Erfüllung Strafe, Schuld oder zumindest ein schlechtes Gewissen droht. Oder dass eine Bitte erfüllt wird, um ein Lob oder eine Belohnung zu erhalten.

Es lohnt sich, in der Arbeit mit Kindern die eigenen Gesprächsmuster zu hinterfragen und zu reflektieren. Was leben wir Kindern vor? Eine Strafe ist zwar inzwischen im pädagogischen Diskurs und auch im erzieherischen Alltag geächtet, aber mit Lob operieren Erzieher/innen sehr gern und glauben, damit Gutes zu bewirken. Folgt man Rosenberg, ist es keine gute Idee, erwünschtes Verhalten von Kindern mit Lob oder Belohnungen zu verstärken; es ist lediglich die Umkehrung der Sanktionierung von unerwünschtem Verhalten. Wir erziehen damit im schlechtesten Fall Menschen, die nach Belohnung anstatt nach echter menschlicher Begegnung streben und ihre Gefühlswelt mehr in ihrem Umfeld als in sich selbst verorten. Das Problem eines solchen Narzissmus ist durchaus schon virulent.

2. Ein Kita-Team macht sich auf den Weg

Die Kindertagesstätte Am Spreebogen, von der hier die Rede ist, wurde 2013 neu gegründet. Es werden rund 35 Kinder betreut. Die Einrichtung befindet sich in einem sozial und kulturell heterogenen Kiez von Berlin. Von 35 Kindern haben 19 Kinder einen kulturellen Hintergrund aus jeweils verschiedenen Herkunftsnationen. Der pädagogische Schwerpunkt liegt auf der deutschen Sprachbildung und der Inklusion der Kinder aus all den verschiedenen Kulturen.

Der Start der neuen Einrichtung war von Enthusiasmus, aber auch von Niederlagen geprägt. Das Team hat sich in drei Jahren immer wieder verändert: Von sechs Personen am Anfang sind heute nur noch zwei Personen im Team. Nach ca. 2,5 Jahren wurde es ruhiger; und wir sind heute ein vollständiges und geschlechtergemischtes Team von vier Frauen und drei Männern.

Im Januar 2016 unternahmen wir eine dreitägige Teamfortbildung zum Thema der gewaltfreien Kommunikation. Die Gründe für diese Fortbildung lagen in den Schwierigkeiten, die wir vor allem mit verhaltensauffälligen Kindern hatten. Fast alle Mitarbeiter/innen waren Berufsanfänger. Wir waren guten Willens, aber oftmals schlichtweg überfordert. Alle wollten ihre Arbeit gut machen, alle wollten den Kindern gerecht werden. Nur wie? Wie können wir umgehen mit Aggressivität, mit Gewalt, mit dem Ärger der Eltern, mit unserer häufigen Hilflosigkeit?

Wir schlossen für drei Tage unsere Pforten und wollten lernen. Und sehr schnell begriffen wir, dass wir uns gegenseitig viel mehr öffnen müssen, wenn wir gewaltfrei kommunizieren wollen. Vorher glaubten wir, offen, zugewandt und mehr oder weniger jugendlich locker zu sein. Das mochte sogar sein, aber für eine gewaltfreie Kommunikation genügt das nicht. Wir lernten, die Person in uns, die sich durch vielerlei Häute schützt, zu hören und sie im anderen wahrzunehmen. Welches Bedürfnis drückt der Andere aus, wenn er zu uns spricht, wenn er agiert? Verletzt er, um sich selbst zu schützen? Zuhören und Innehalten haben wir gelernt, bevor wir antworten. Was kann den anderen bewegt haben, diesen Satz zu sagen? Welche Emotionen liegen darunter?

Gewaltfreie Kommunikation geht davon aus, dass jeder Mensch naturgegeben ein empathisches Wesen hat. Jeder Mensch kann wahrnehmen, was den anderen bewegt, kann mitfühlen. "Über wen ich mich ärgere, entscheide ich selbst." Diesen Satz trage ich seither in meinem Kopf. Das allein schützt mich nicht vor Ärger, aber ich weiß, ich kann mich entscheiden, ob ich mich einem Kampf stellen will oder den Konflikt anders lösen möchte. Ferner kann ich die Sache noch mal betrachten und entscheiden, dass sie es nicht wert ist, sich aufzublasen und Recht haben zu wollen. Ich muss nicht Recht haben; es ist viel schöner, die Fenster zu öffnen und den anderen zu verstehen, ihm Mitgefühl zu geben. Und abwarten, ob er seine Fenster öffnet. Das gelingt im stressigen Alltag leider viel zu selten; und solch eine Umgangsweise bedarf einer Schulung, die mehr als drei Tage währt. Verhaltensmuster müssen eingerissen und neue Mechanismen der Kommunikation erlernt werden.

2.1. Der Umgang mit Kindern und GFK

Wenn wir GFK gegenüber den Kindern anwenden, öffnen sich oftmals Türen und Tore bei den Kindern. Ein typisches Beispiel: Ein Kind sitzt und spielt, das Mittagessen steht auf dem Tisch, der Erwachsene ruft das Kind zum Essen. Es kommt der eindeutige Ruf "Nein" zurück. Da steht der Erwachsene nun und kann sich in einen Wolf verwandeln und Gehorsam einfordern; er kann es aber auch sein lassen, das Kind ignorieren und spielen lassen ... es wird schon von allein kommen. Beides ist nicht im Sinne von GfK. Sowohl der Erwachsene als auch das Kind haben ein zugrunde liegendes Bedürfnis: Das Kind will spielen, der Erwachsene in Gemeinschaft mit allen essen. Ein achtsamer Erwachsener gesellt sich kurz zum Kind, sodass sie in Augenhöhe kommen. Den Blick lässt er einfach nur freundlich auf dem Kind ruhen und spürt seine gute Beziehung zum Kind. Dann kann er seine Frage an das Kind richten, die Frage nach dem Bedürfnis des Kindes, also z.B.: "Du möchtest spielen?" Das Kind wird wohl mit Ja antworten. Er kann weiter fragen: "Du bist gerade mitten drin im Spiel und möchtest nicht unterbrechen?" Es folgt wahrscheinlich wieder ein Ja.

Genau hier ist die Stelle, wo oftmals eine gewisse Ratlosigkeit einsetzt: Wie kann man nun das Kind überzeugen, dass es teilnimmt am gemeinschaftlichen Essen, wenn doch das Spiel sehr viel wichtiger ist? Manche Pädagog/innen meinen, es sei gut, das Kind spielen zu lassen und Kinder grundsätzlich vom "Zum-Essen-Kommen" zu befreien. Für unser Team gilt dies nicht; alle legen Wert auf das Zusammensein am Tisch. Was nun tun, wenn ein Kind nicht möchte? GFK schaut sich das Spiel genauer an, benennt es. Das Kind wird antworten, ob man richtig oder falsch liegt. Wenn man richtig liegt, kann man die kleinen Abschnitte im Spiel benennen, die eine Pause zulassen. Das Kind erfährt so, dass es sehr genau wahrgenommen wird in dem, was es tut; es empfindet dies als Wertschätzung. Und der Frager begibt sich tatsächlich auf diesen Weg und schätzt das Spiel des Kindes ein und wert.

Anschließend kann sich der Erwachsene selbst thematisieren gegenüber dem Kind: Er kann sein Bedürfnis formulieren und dem Kind sagen, dass er mit allen Kindern gemeinsam essen möchte - auch mit ihm. Es ist ihm wichtig, dass genau dieses wunderbare Kind auch dabei ist. Hier spürt das Kind, dass es um eine emotionale Annahme seiner Person geht, und hört nicht mehr nur die Aufforderung, das Spiel zu unterbrechen. Und der Erwachsene kann vorschlagen, dass das Kind später sein Spiel weiter führen kann.

Nach unserer Erfahrung ist das Kind gern bereit, zum Essen zu kommen, wenn man so mit ihm umgeht. Die Erfahrung zeigt auch, dass es zunehmend kein Problem mehr ist, überhaupt zum Essen zu kommen: Der Wert der Tischgemeinschaft wird erkannt und anerkannt.

2.1.1. Der Umgang mit Konflikten unter Kindern und GFK

Der gewöhnlichste Streit unter Kindern ist der, dass jemand etwas haben will, was gerade ein anderes Kind in Besitz hat. Manche warten auf die Gelegenheit, es zu stibitzen, andere spielen Dominanz aus, wieder andere warten einfach ab, bis das Objekt des Begehrens frei ist. Nur die letzte Art können wir gewaltfrei nennen: Dieses Kind beherrscht die Kunst der Selbstregulierung, was schön, aber nicht so sehr verbreitet ist. Im Kita-Alltag herrscht unter den Kindern häufig die Aneignungs-Mentalität (verstärkt dadurch, dass Kinder wegen des Berliner Betreuungsschlüssels von 1:9 ständig danach trachten, die Aufmerksamkeit der Erzieherin zu erhaschen). Zudem lernen die Kleinen gerade erst, was moralisch als richtig und falsch angesehen wird. Kinder bis zum vierten Lebensjahr sind gar nicht in der Lage, vorausschauend ihr Handeln an moralischen Normen zu orientieren. Wenn ein Kind, das gerade einem anderen etwas weggenommen hat, gefragt wird, wie es sich jetzt fühle, wird es sich garantiert nicht schlecht fühlen. Aussagen wie "Du solltest dich schämen!" kann man getrost aus dem Sprachrepertoire streichen, und man hört sie auch kaum noch - wie beruhigend.

Wie reagiert der Erwachsene? Manchmal wartet er ab, ob die Kinder den Konflikt selbständig lösen können, manchmal greift er ein. Nur wie? Allzu oft wird es nach "Wolf-Art" getan, indem man bestimmt, wie der Ablauf des Geschehens weiter zu gehen hat. Man kann es aber auch auf "Giraffen-Art" versuchen: Hier heißt es, erst einmal herauszubekommen, was für ein Bedürfnis hinter dem Begehren nach dem Spielzeug steckt. Weiß das Kind vielleicht nicht, was es machen kann, ist es hilflos und muss deshalb "stänkern"? Suchte es die halbe Zeit bereits nach dem Ding und hat es nun endlich in der Hand eines anderen gefunden? Hatte es vorher schon damit gespielt und wollte nun (vielleicht nach dem Toilettengang) weiter damit spielen? Eine "Giraffen-Erwachsene" fragt nach, etwa so: Was hat dich so in Unmut gebracht? Wusstest du nicht, was du machen kannst? Oder: Hast du nach dem Spielzeug gesucht? Oder, oder...

Wichtig ist nur, das Kind nicht bloßzustellen mit den typischen Warum-Fragen: Warum hast du das getan? Kein Kind kann darauf antworten. Die Warum-Frage impliziert eine Schuld (eine moralische Kategorie und für Erziehungsfragen in der Kita völlig unbrauchbar. Und wenn Kinder immer wieder rufen, dass der andere "Schuld" hat, zeigt dies nur, dass wir Erwachsenen den Kindern mit solchen Zuweisungen schon haufenweise Gewalt angetan haben und sie genau das weitergeben und wiederholen). Im Grunde lautet die Warum-Frage: Wolltest du dem anderen Kind Leid zufügen? Es ist Unsinn, einem Kind so etwas zu unterstellen!

In der Regel bekommt man sehr schnell eine Antwort vom Kind, was sein ungestilltes Bedürfnis betrifft. Nur müssen wir Erwachsenen die Art des Fragens immer wieder üben. Kinder finden häufig selbst eine Lösung für ihren Konflikt; man braucht nur ein wenig Geduld und benötigt Vertrauen in die Kompetenz der Kinder. Das wiederum ist für Erwachsene eine Kunst - und die muss man täglich üben. Die Erfahrung zeigt, dass dies unter Stressbedingungen schwerlich gelingt. Und leider sind die Bedingungen in den Kitas oft nicht stressfrei. Nun ja, aber wenn es gelingt, den "Streithahn" oder die "Streithenne" zu beruhigen, weil man sein/ihr Bedürfnis erkannt und benannt hat sowie geholfen hat, die Bitte gegenüber dem anderen zu formulieren, strahlt dies auf die gesamte Gruppe aus und schafft ein angenehmes Klima des Miteinander.

2.1.2. Der Umgang mit schwierigen Kindern und GFK

Schwierige Kinder, auffällige Kinder, verhaltensauffällige Kinder, aggressive Kinder - vielerlei Attribute für Kinder, die die Erzieher/innen schwer beschäftigen und manch eine Fachkraft nachts nicht schlafen lassen.

Ich möchte hier noch einmal kurz zurückkommen auf die Grundidee der gewaltfreien Kommunikation. Sie geht davon aus, dass sowohl "Wolf" als auch "Giraffe" in uns wohnen. Der "Wolf" an sich ist kein Monster, sagt Rosenberg. Wenn er in uns die Stimme erhebt, ist dies ein Signal für uns, genauer hinzusehen, welches Bedürfnis hier gerade bedroht wird. Aggressive Kinder, wir könnten sie auch "wölfische Kinder" nennen, haben ein Problem, das sie artikulieren. Mit GFK können wir die Bedürfnisse solcher Kinder herausbekommen. Wir können als Erzieher/innen Brücken bauen, die die Kinder zurückführen in die Gruppe. Wie oben beschrieben, helfen "Giraffen-Fragen", und das Kind kann friedlich werden, wenn sein Bedürfnis artikuliert und verstanden wird und ihm auch geholfen wird, dieses Bedürfnis zu stillen. Manchmal ist es eine Reizüberflutung, die Kinder aggressiv werden lässt, manchmal ist es ein Kummer, der nicht gesehen wurde, manchmal beginnender Hunger oder Hitzestau unter dem Pullover.

Es wird m.E. viel zu häufig übersehen, dass es sehr einfache Dinge sein können, die zu Aggressivität bei Kindern führen. Diese sind leicht lösbar; schwieriger wird es aber mit anhaltendem Kummer oder fortdauernder häuslicher Vernachlässigung, was sich im Verhalten der Kinder widerspiegelt. Solche Kinder benötigen sehr viel mehr Betreuung, und die Eltern müssen mit ins Boot geholt werden. GFK ist als Kommunikationsmethode dann sehr wertvoll. In problematischen Fällen muss man sich sowieso Zeit nehmen und wenn man die vier Schritte gut drauf hat, gewinnt man sicher viel.

Zuweilen haben wir es jedoch mit wahrnehmungsbeeinträchtigten Kindern zu tun - mit Kindern, die ihre eigenen Gefühle nicht benennen und erst recht nicht die Gefühle anderer wahrnehmen können. Hier fehlt eine Grundlage zur Anwendung von gewaltfreier Kommunikation. Ich bin als Erwachsener zwar vielleicht in der Lage, das Bedürfnis des Kindes herauszubekommen und es dort abzuholen, benenne ich aber das Bedürfnis des anderen Kindes oder auch das eigene, ernte ich in der Regel Unverständnis. Das Kind blickt durch einen hindurch, wenn es lang genug schon die Erfahrung gemacht hat, dass jemand versuchte, ihm die emotionale Betroffenheit des anderen deutlich zu machen. Wenn es jünger ist, schreit es möglicherweise laut - die Brücke bricht in der Mitte ab, wenn Kindern die Wahrnehmungsfähigkeit von Gefühlen anderer Personen fehlt.

Hier muss erst einmal daran gearbeitet werden, Gefühle zu thematisieren, ihren Ausdruck differenziert zu erfassen, etc. Wahrnehmungsbeeinträchtigte Kinder benötigen eine Therapie, was die Kompetenz von Erzieher/innen übersteigt. Und gewaltfreie Kommunikation ist eben kein Therapieersatz; sie baut auf der Fähigkeit zur Empathie auf. Ist diese Fähigkeit nicht vorgebildet, braucht das Kind andere Hilfe. Wenn es erst im Kindergartenalter deutlich wird, ist das ein Problem, weil die Kinder nachholen müssen, was normalerweise schon sehr frühzeitig erlernt wird. Aus welchen Gründen auch immer haben manche Kinder eine unterentwickelte "Gefühlskarte".

Wer seine eigenen Gefühle kennt, kann sich gemeinhin in die Gefühle anderer hineinversetzen und Anteilnahme entwickeln. Zumindest weiß man, dass ab dem Alter von vier Jahren dies auch artikuliert möglich ist. Jüngere Kinder können sich noch nicht abstrakt in andere hineindenken, aber sie können sehr wohl Zeichen lesen, Mimik erkennen und Absichten interpretieren. Bei wahrnehmungsbeeinträchtigten Kindern muss dieser Schritt erlernt werden; es ist dann nicht selbstverständlich gegeben, dass über den Weg des Erkennens eigener Gefühle auch die Gefühlswelt anderer erkannt werden kann. Wenn sie es nicht können, hat es zur Folge, dass sie bei fast jedem Konflikt aggressiv reagieren.

Wir von der Kita Am Spreebogen haben jedenfalls mühevoll gelernt, dass es sinnvoll ist, solche Kinder schon beim Entstehen eines Konflikts aus dem "Schussfeld" hinauszubringen. Sie können sich oft schlecht regulieren und brauchen Ruhe und Hilfe dazu. Hilfe ist manchmal einfach nur die Hand halten, manchmal eine reizarme Umgebung. Und dann, wenn das Kind zurück zur Ruhe gelangt ist, kann man möglicherweise ein Gespräch mit ihm im Sinne der gewaltfreien Kommunikation führen. Und vielleicht kommt Erstaunliches dabei heraus.

Beispiel: Ein Kind sitzt bei Tisch und spricht von "Pups" und "Kacka". Der Erzieher will das nicht und sagt dies aus; das Kind spricht aber strahlend weiter von "Pups" und "Kacka". Der Erzieher ist genervt, will die Tischsituation nicht auf solche Art gestört haben. Hinzu kommt, dass das Kind als "Störenfried" bekannt ist, und er weiß, dass das Kind keine Ruhe geben wird. Er bringt das Kind aus der Situation hinaus, um mit den anderen weiter essen zu können. Das Kind sitzt nun im Büro. Nach einer Weile der Ruhe erzählt das Kind, dass es hier ist, weil es gepupst hat und das stinkt, und dass der Gestank stört, verstünde es ja. Für das Kind spielte das Bedürfnis des Erziehers nach friedlicher Essensruhe überhaupt keine Rolle. Es war so sehr mit seinen körperlichen Ereignissen befasst, dass alles andere ausgeblendet wurde. Der Erzieher hat eine "wölfische" Provokation wahrgenommen, die erst zu einer solchen wurde, als er die Worte unterbinden wollte. Aber dank GFK weiß er immerhin hinterher, dass das Kind ein Verdauungsproblem hat. Er hätte es gleich fragen sollen, ob es zur Toilette muss. Aber auch wir in der Kita Am Spreebogen sind keine Super-GFKler - im Gegenteil: Wir sind Anfänger/innen, aber wir wissen darum und wollen auf diesem Weg weitergehen.

2.2. Das Team und GFK

Die dreitägige Fortbildung zur gewaltfreien Kommunikation ist eine Art "Geburt" des Teams als solches gewesen. Die Offenheit, mit der wir uns begegneten, das offenbarte Vertrauen, das Verständnis füreinander waren in den drei Tagen bedingungslos. Es gab keine Angst, etwas falsch zu machen, da klar war, dass wir alle immer etwas falsch machen. Aber wir können lernen, es besser zu machen. Ich denke, dass der Schritt, diese Fortbildung gemeinsam zu unternehmen, von dem Willen des Teams nach Entwicklung zeugte.

Ich vermute, dass es in anderen Teams möglicherweise schwieriger ist, sich GfK zu nähern. Oft hört man von "Patt-Situationen" in Teams, "Ansagen" werden gemacht, Konflikte "ausgehalten" usw. Wir hatten solche Situationen nicht zu beklagen; unser Thema war vielmehr die Überforderung mit verhaltensauffälligen Kindern und die Suche nach einem Umgang damit. Auch wenn die Fortbildung in dieser Hinsicht nicht den Schlüssel für ein Wunder bereithielt, wir haben als Team enorm profitiert. Es fällt uns leichter zu sagen, was uns stört, ohne dass es das Gefühl gibt, gegenseitig Respekt zu verlieren. Es ist eine grundlegende Achtung vor der Person des anderen spürbar. Die offene Grundhaltung, die durch die GfK-Fortbildung gefestigt und sozusagen als positiv beglaubigt wurde, trägt das Team.

Ich entsinne mich einer Situation innerhalb des Teams, die sich noch vor unserer Fortbildung ergab. Hier trat eine "Wölfin" auf, und der "Giraffenpartner" ist übermannt worden. Der Kollege hatte den Kindern Papier, Pinsel und Farbe zur Verfügung gestellt; es herrschte vergnügte Stimmung am Tisch; die Kinder waren engagiert bei der Sache. Dann betrat seine Kollegin den Raum und fauchte: "Da gehört aber Zeitung drunter, der ganze Tisch wird ja vollgeschmiert!" Welch ein Debakel! Der Kollege wusste nicht, was er sagen sollte, sackte in sich zusammen. Die Kollegin sauste mit stampfender Empörung wieder hinaus. Die Kinder waren kurz irritiert, als aber der Mitarbeiter keine Anstalt machte, sie nun mit Zeitungspapier zu stören, malten sie einfach weiter. Heute, nach der Fortbildung, hätte er gewusst, dass er eine Frage nach dem Bedürfnis der Kollegin hätte stellen können. Hast du Sorge um die Tische? Wünschst du dir eine strukturiertere Anleitung für die Kinder? Sicher hätte es die "Wölfin" beruhigt, und eine Brücke der Kommunikation wäre entstanden. Rosenberg geht davon aus, dass es oft schon genüge, wenn nur einer der Partner GfK beherrscht.

Unsere dreitägige Fortbildung hat nun nicht dazu geführt, dass wir innerhalb des Teams Konflikte jederzeit mit Hilfe der gewaltfreien Kommunikation lösen. Sie hat aber eine Art Versicherungsband unterhalb der Sprache gebildet, aufgrund derer Verbindung miteinander sich alle sicher sind, dass sie nicht als Person angegriffen werden, wenn ein Konflikt auftaucht. Aber solch ein Band kann reißen, dessen bin ich mir bewusst.

Die bedeutendste Reibungsquelle für das Beibehalten von GfK ist nach meiner Wahrnehmung die unterschiedliche Position von Team und Leitung: nicht nur, dass Entscheidungen der Leiterin häufig aus der Position der Macht geschehen, sondern auch, dass Entscheidungen von Teammitgliedern unterschiedlich gewertet und interpretiert werden. Der eine findet die Entscheidung o.k., der andere hätte mit einbezogen werden wollen, den dritten stört sie in größerem Ausmaß.

2.2.1. GFK und die Rolle der Leitung

GFK setzt eine gleiche Augenhöhe aller voraus. Entscheidungen werden in diesem System nicht gegen den Willen anderer getroffen. Das ist in hierarchisch organisierten Kitas aber durchaus der Fall. Manche Entscheidungen müssen schnell und gegen das Bedürfnis des Mitarbeiters getroffen werden.

Dies ist in Berlin zurzeit besonders deutlich: Personalmangel führt zur Überlastung des bestehenden Teams, Krankheiten folgen; man kann von einem Personalnotstand in den Berliner Kitas sprechen. Erschwerend kommt die Abhängigkeit vom politischen Willen hinzu, die Kindertagesbetreuung mit adäquaten finanziellen Ressourcen zu unterfüttern. Die Kinder mit ihren Bedürfnissen sind nicht der Maßstab von Personalbemessungskriterien. Eine Fachkraft leidet darunter, wenn sie den Kindern nicht gerecht werden kann, und es ist nicht verwunderlich, wenn sie dorthin geht, wo wenigstens ansatzweise ein besserer Erzieher-Kind-Schlüssel besteht. Und selbstverständlich wirken sich auch Unterschiede im Gehalt aus: Werden anderswo sehr viel bessere Löhne gezahlt, hat die Leiterin bei allem Willen zu Qualität und Teamzusammenarbeit sehr schlechte Karten.

Ja, ich sage dennoch: Auch in Zwangssituationen kann ich als Leiterin durch das Wissen um die gewaltfreie Kommunikation sehr gewinnen. Ich kann üben, Notwendigkeiten im Sinne von GFK zu formulieren - so z.B. bei folgender sachlichen Lage: Es sind zwei Erzieher krank. Eine Kindergruppe ist nicht betreut. Es folgt im zweiten Schritt mein Gefühl: Ich bin alarmiert. Dritter Schritt - mein Bedürfnis: Ich möchte die Situation verändern. Und der vierte Schritt - die Bitte: Ich bitte dich, in die Gruppe zu gehen oder Kinder zu dir in die Gruppe zu holen.

Ich gestehe, das tue ich viel zu selten, wenn sofortiges Handeln verlangt ist. Ich prüfe hurtig die Sachlage und ordne an. In Stresssituationen verhält sich auch mein Geist nicht konstruktiv. Mein Team sagt dazu: "Das ist o.k., das musst du ja tun." Ich habe aber auch schon gehört: "Du bist ein Diktator." Die Spanne ist groß. Es ist eben so, dass der eine immer gern gefragt wird und mit entscheiden möchte, der andere hingegen eine schnelle Entscheidung von außen bevorzugt. Machtnutzung im Sinne von undifferenzierten "Ansagen" kommt dementsprechend auch verschieden an.

Eine Kommunikation im Sinne von GfK ist auch zwischen Leitung und Team hilfreich; es verlangt aber viel von der Leitung. Es verlangt, die Bedürfnisse des Teams wahrzunehmen, es verlangt, Verstimmungen zu verorten und anzusprechen, es verlangt, sich selbst nicht angegriffen zu sehen, auch wenn man verletzt wird. Die Einübung dieser Kultur verlangt sehr viel Ausdauer und mentale Ruhe. Aber wer in einer Kita arbeitet, der weiß, mentale Ruhe ist ein unerreichbares Ideal. Allein schon der Lautstärkepegel verhindert das.

Dennoch sehe ich unsere Fortbildung zum Thema der gewaltfreien Kommunikation als eine Bereicherung für den Austausch zwischen Team und Leiterin. Die Teammitglieder werden in die Lage versetzt, nicht einfach zu blockieren, wenn unsinnige Anweisungen gegeben werden, sondern können ihre Bedenken konstruktiv äußern. Und alle können sich auf GFK besinnen, wenn es zum Konflikt kommt. Das ist ein großer Gewinn. Die Leiterin selbst kann die "preußische Generalsmacht" in sich belächeln und ihr so allmählich den Boden ihres kulturellen Einflusses entziehen. Das ist doch was! Und last but not least hat die Fortbildung in GFK unseren Blick darauf gelenkt, das Gute zu sehen und sich gegenseitig Wertschätzung von Herzen zu geben. Ich mache das gern, und dann ist Chef-Arbeit eine innere Freude.

2.3. Die Zusammenarbeit mit Eltern und GFK

Die intensivsten Gespräche mit Eltern sind die Entwicklungsgespräche zu ihren Kindern. Hier kann die gewaltfreie Kommunikation ein gutes Mittel sein, um Wünsche der Eltern herauszufiltern, aber auch um die eigenen Bedürfnisse als Erzieher/in zu thematisieren. In der Regel werden diese Gespräche ohne mich als Leiterin gestaltet. Bei dem folgenden Beispiel bin ich aber dabei gewesen: Es handelte sich um ein Entwicklungsgespräch zu einem 2,5 Jahre alten Mädchen. Die Eltern waren sehr besorgt: Das Mädchen war sehr viel krank und an der Grenze zur Untergewichtigkeit; ständige Erkältungen und häufige Fiebererkrankungen belasteten Kind und Eltern.

Im Entwicklungsgespräch berichtete die Erzieherin auch über die Schwierigkeiten des Kindes in der Gruppe. Das Mädchen zeigte seit ca. einem Monat verstärkt aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern. Sie tat anderen weh und berichtete dies wie eine Sachanalyse der Bezugserzieherin: "Ich habe ... gehauen." Zuweilen legte sie sich auf andere Kinder und ließ nicht locker, auch wenn die unten sich beschwerten und die Erzieherin riefen. Sie steigerte sich hinein, bis die Erzieherin kam und sie aus der Situation nahm. Die Erzieherin kümmerte sich dann zunächst um die "Opfer". Das Mädchen saß solange auf einem Schemel. Wenn die "Opfer" wieder friedlich spielten, wendete sich die Erzieherin dem Mädchen zu; sie sprach sie an, wenn das Gesicht entspannt wirkte. Der Hintergrund dazu ist, dass das Kind die Grenze bemerken und akzeptieren soll. Würde die Erzieherin sofort mit Aufmerksamkeit bei dem Kind sein, würden alle Kinder und das Mädchen selbst Aggression als wunderbares Mittel verstehen, wie man zur Aufmerksamkeit der Erzieherin kommt. Wenn das Kind wieder entspannt wirkt, thematisiert die Erzieherin mit ihm das Geschehen kurz und benennt die Grenze, dann kann das Kind wieder spielen. Aufmerksamkeit erhält sie sofort wieder, wenn sie sich positiv gegenüber anderen verhält.

Die Erzieherin hat im Entwicklungsgespräch die Schritte, die sie unternimmt, wenn das Mädchen aggressiv ist, nicht bis ins letzte Detail genau berichtet. Ihr Augenmerk lag auf der Deutlichmachung, dass das Kind gerade ein Entwicklungsproblem hat. Die Eltern hatten ein ganz anderes Augenmerk. Bei ihnen ist angekommen, dass ihr Kind auf einen "stillen Stuhl" gesetzt wird, dass es bestraft wird. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Erstens waren sie überrascht, dass ihr Kind in der Kita aggressives Verhalten zeige, und zweitens war ihnen die Methode der Erzieherin unverständlich und verletzend.

Die Eltern baten um einen zweiten Gesprächstermin, nachdem sie zu Hause das Gehörte "verdaut" und dabei alles Negative in ihren Ohren ein ungeheures Gewicht erhalten hatte. In einem zweiten Gespräch konnte der Umgang mit ihrem Kind genau in allen Teilschritten erklärt werden, und beide Seiten haben sich wieder zur Vertrauenspartnerschaft bekannt.

Wir haben aus dieser Situation gelernt, dass GFK ein gutes Mittel ist, um Entwicklungsgespräche, die problematisches Verhalten thematisieren, vorzubereiten. Wenn wir nicht nur berichtet hätten, dass eine Problematik vorhanden ist, sondern vorher uns gefragt hätten, was die Eltern erwarten, mit welchem Bedürfnis sie in das Gespräch kommen, und man dort angesetzt hätte, wäre das Gespräch sicher anders verlaufen. Die Methode der gewaltfreien Kommunikation kann also schon zur Vorbereitung gut genutzt werden; sie kann aber auch als Methode der Analyse sinnvoll eingesetzt werden. Sie bringt Erzieher/innen auf den Boden zurück, wenn sie von Eltern angegriffen werden. Sie können deren Verhalten mit Hilfe von GFK einsortieren. Das ist sehr entlastend.

2.4. Ein Schlussbeispiel voller "wölfischer" Gefahr und mit "giraffischer" Versöhnung

An das Ende meines Erfahrungsberichtes stelle ich einen Konflikt zwischen mir als Leiterin und einer Erzieherin. Es war ein sonniger Tag, ich hatte erst einen Bruchteil meiner Schreibtischarbeit erledigt, da steckte ein Mitarbeiter seinen Kopf durch die Tür und fragte, ob ich die Kinder ins Bett bringen könne. Ich sprang auf, da ich wusste, dass das heute mein Job war, da eine Kollegin fehlte. Ich spazierte frohgemut in die Gruppe, um zu fragen, wer denn alles schlafen würde. Drei Kinder brauchten Schlaf, der Rest der Gruppe - immerhin neun Kinder - brauchten diesen nicht und benötigten eine Person, die sie betreut. Ich schüttelte innerlich den Kopf: Welch eine Verschwendung! Solch ein großer Gruppenraum, der mit drei schlafenden Kindern belegt wird, während neun Kinder zu dieser Zeit keinen Raum haben.

Dieses Problem hatten wir schon einmal im Team besprochen, und es gab die Absprache, dass bis zu vier Kinder mit in der Krippe schlafen können - allerdings nicht, wenn Schlafeingewöhnungen stattfinden. An just diesem Tag fand keine Schlafeingewöhnung statt. Ich dachte kurz nach, und da mein Kollege mit seiner Gruppe gerade schwer beschäftigt war, ging ich in die Krippe, um nach dieser Vereinbarung zu fragen. Die Krippenkollegin war gerade dabei, mit ein paar Kindern, die schon schlaffertig waren, ein Buch anzuschauen. Ich schätzte ein, dass meine Störung nicht allzu schlimm sei, und fragte: "Wie ist das mit der Regelung der Schlafkinder? Gibt es diese noch oder ist die Vereinbarung weggefallen?" Ich wollte eine sachliche Auskunft mit der heimlichen Hoffnung, doch wieder an meinen Schreibtisch zu können. Ich fand auch, dass ich die Frage nicht herausfordernd gestellt hatte.

Nun ja, das kam bei meiner Kollegin ganz anders an. Sie sprang auf, erklärte, dass das jetzt das dritte Mal sei, dass diese Frage gestellt würde. Erst gestern im Gruppenteam wurde sie von dem Mitarbeiter der anderen Gruppe darauf angesprochen, heute Morgen noch einmal, und jetzt käme ich und stellte die gleiche Frage. Sie würde es nicht gut finden, wenn die Kinder der anderen Gruppe hier die Ruhe der Kleinsten störten, und es sei eine Störung, wenn sie herüberkämen. Der Ton ihrer Stimme war hoch angespannt und schlug mir direkt auf die Nerven. Etwas in mir rief: Es reicht! Der Wolf war hellwach. Gleichzeitig erwachte die Leiterin, die empfand, dass ihr der Leitfaden zerrissen würde, der darin bestand, alle Interessen unter einem Hut zu harmonisieren. Meine Stimme wurde im Bruchteil einer Sekunde unwirsch, und ich sagte, dass es mich aus meiner Leitungsperspektive sehr störe, wenn ein großer Raum für drei schlafende Kinder verschenkt würde. Die Kollegin wiederum konnte meinen Tonfall nicht ertragen und reagierte entsprechend. Sie sagte mir, ich solle doch auf ihre Kollegin warten, die würde mir sagen, was gestern und heute Morgen genau besprochen wurde. Sie meinte das sicher sachlich, die Körpersprache und die Stimme waren es aber nicht. Bei mir kam an: Warte du nur auf meine Kollegin, die wird dir schon was sagen! Ich empfand meine Autorität vollkommen lächerlich gemacht und verließ den Raum, um schnell Schlimmeres zu vermeiden.

Das Schlimme war allerdings schon längst geschehen. Ich hatte mehrere Fehler gemacht: 1. die Erzieherin kurz vor dem Schlafen zu belästigen, 2. die Frage im Raum der Kinder gestellt zu haben und 3. mich durch ihre harsche Abwehr aus meiner inneren Ruhe bringen zu lassen und das Ganze dadurch der Eskalation anheimgestellt zu haben. Ich ärgerte mich einerseits über mich selbst. Andererseits war der "Wolf" noch hoch aktiv in mir. Er freute sich, dass er seine Zähne gezeigt und verdeutlicht hatte, dass er kein "zahmes Hündchen" sei.

Fürs Erste war Stille. Ich brachte die drei Kinder im großen Raum zu Bett. Als ich aus dem Raum kam, sah ich meine Kollegin vor dem Büro sitzen; sie wollte vor ihrem Feierabend und dem Wochenende diese Angelegenheit mit mir klären. Ich war durchaus wieder ruhig und auch bereit zu einem Gespräch. Aber mein "Wolf" war noch hellwach; er war nicht bereit, noch ein Gran mehr Verletzung hinzunehmen. Meine Kollegin begann, und irgendwann formulierte sie die Bitte, dass ich so etwas nicht mehr vor den Kindern tun möge. Mein "Wolf" hatte nur auf solch eine Formulierung gewartet, die eine implizite Schuldzuweisung enthielt. Schuldzuweisungen sind wie Öl in einen schwelenden Brand zu gießen. Und so geschah es auch: Die Auseinandersetzung wurde heftig, und meine Kollegin ging emotional zerwühlt in das Wochenende. Ich auch.

Je mehr Zeit ich hatte, meinem "Wolf" in die "roten Augen" zu schauen, desto mehr schämte ich mich. Was war mir da passiert? Wie unprofessionell - das sagt man bei solchen Gelegenheiten ja immer gerne. Professionell ist jemand, der seine Emotionen gut kontrolliert und unter keinen Umständen so etwas zulässt. Das sagt sich schnell und platt dahin. Das Leben ist nicht so, und auch nicht das Arbeitsleben.

Aber ich konnte zu meiner Kollegin gehen und mich entschuldigen. Das tat ich dann auch am Montagmorgen. Und plötzlich löste sich die Verkrampfung zwischen uns. Die Verwirrung war wie weggeblasen, und dabei hatte ich nur drei Dinge gesagt: Ich möchte mich bei dir und den Kindern entschuldigen. Es tut mir sehr leid und ich schäme mich. Wir haben uns mittags noch einmal getroffen, uns gegenseitig entschuldigt und uns versprochen, dass wir es uns sagen, wenn wir den "Wolf" im anderen wahrnehmen.

Dieses Beispiel ist für mich so wichtig, weil es mehrere Lehren in sich trägt: Kommunikation und Absprachen müssen immer wieder von der Leiterin in einem geschützten Rahmen geführt und gesichert werden. Insbesondere Informationen zu problematischen Fragen gehören in einen geschützten Raum. Teamsitzungen zu heiklen Themen muss ich sorgsam vorbereiten und begleiten, selbst wenn die Kompetenz der Mitarbeiter hoch ist. Es werden Methoden zur Entscheidungsfindung benötigt. Und wenn eine Entscheidung nicht mehr getragen wird im Alltag, muss ich das Thema wieder auf den Tisch bringen, das Für und Wider besprechen, neu entscheiden.

Welch ein Glück, dass ich die GFK-Fortbildung hatte und ich - nachdem der "Wolf" in mir sich beruhigt hatte - sehen konnte, welchen Schaden ich selbst angerichtet hatte. Und welch ein Glück, dass wir im Team die GFK-Fortbildung gemacht hatten. So konnten meine Kollegin und ich beide schnell erkennen, was geschehen war; keiner hielt sich an Verletzungen fest. Wir konnten unser Einvernehmen schnell herstellen, und die Zusammenarbeit fließt wieder. Das ist der Gewinn von gewaltfreier Kommunikation.

3. Zusammenfassung und Schlussbemerkung

Gewaltfreie Kommunikation ist für alle Beziehungen, die wir in einer Kindertagesstätte eingehen, nützlich und fruchtbar.

Auf der Ebene des Teams kann mit Hilfe von GFK eine entspannte Kommunikation untereinander und ein wertschätzender Umgang miteinander etabliert werden. Das heißt nicht, dass immer alles friedlich ist, aber wenn Konflikte entstehen, ist es eine große Freude, sie mit Hilfe von GFK zu lösen. Und ich meine tatsächlich Freude: Wenn man sich auf das Bedürfnis des anderen einlassen kann, wird man anerkannt, wird man gesehen. Man verbindet sich mit dem anderen, und das Belohnungssystem im Gehirn springt an. Empathie führt zu gemeinsamer Freude.

Im Umgang mit Kindern stellt sich eine Verständnisebene her, die das Miteinander harmonischer werden lässt. Es kann ganz einfach sein, einem Kind zu zeigen, wie schön gemeinsames Essen ist. Allerdings benötigt man bei schwierigen Kindern sehr viel mehr Ausdauer. Es gehört mehr Investition von Zeit und Wissen dazu, eine dauerhafte Verbesserung der sozialen Fähigkeiten der Kinder zu erreichen. GFK ist hier nur ein Mittel, welches aber zumindest sofort und im Kita-Kontext hilft. Es ist bei verhaltensauffälligen Kindern vor allem ein Mittel zur Deeskalation von Konflikten.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern kann man mit Hilfe der gewaltfreien Kommunikation professionalisieren und gerade Problemgespräche harmonischer gestalten. GFK lohnt sich zur Analyse von Gesprächen. Und wenn wir uns in die Elternsicht hineinversetzen (wenigstens zu einem gewissen Anteil), können wir die Gespräche besser vorbereiten. Es ist natürlich nicht einfach, die Ängste und Sichtweisen der Eltern zu mentalisieren, zumal wir als Pädagog/innen uns immer als Anwalt des Kindes verstehen. Aber wenn wir es auch nur zu einem geringen Teil schaffen, bringt das schon sehr viel. Man findet eine gangbare Ebene zum Gespräch.

Empathie reicht in vielen Gesprächen nicht. Eventuell habe ich überhaupt keine Empathie für die "Problemeltern". Aber ich kann mich mit Hilfe der Frage nach dem Bedürfnis und den Gefühlen der Eltern in sie hineinversetzen. Das ist dann mehr als nur Einfühlen; das bedeutet, ich schaffe mir eine Theorie über das, was in ihnen vorgeht. Und mit den Fragen der gewaltfreien Kommunikation ist es möglich zu überprüfen, ob ich richtig liege. Selbstverständlich kann man hier an Grenzen kommen: Das Missverstehen triggert Gefühle, und dann brechen GFK-Brücken auch mal ab, müssen wieder neu gefunden werden usw. So einfach ist es eben nicht, auch nicht mit GFK. Und schon gar nicht mit nur einer dreitägigen Schulung in Sachen gewaltfreier Kommunikation, aber immerhin: Zur Analyse und Gesprächsvorbereitung können wir sie schon nutzen, das andere vielleicht später nach einer ordentlichen Ausbildung in gewaltfreier Kommunikation.

Für Leiter/innen ist die Kenntnis der gewaltfreien Kommunikation ein großartiger Gewinn. Auch wenn ich noch lange nicht in der Lage bin, sie zielsicher einzusetzen, nutze ich sie zur Reflexion und zum Verstehen unterschiedlicher Positionen. Ich bin nur halb so angreifbar, wenn ich das Bedürfnis meines Gegenübers erfassen kann. Ich muss nicht das kalte Bild eines Leitungsprofis erfüllen, das suggeriert, ein guter Manager steht über den Dingen, prüft rational die Kosten-Nutzen-Ebene und geht über das Wohl seiner Angestellten hinweg.

Gerade Leiter/innen von Kitas können mit Hilfe von GFK ein neues Bild von Management etablieren. Sie haben den ganzen Tag mit menschlichen Beziehungen zu tun, gleichzeitig ist das Unternehmen noch betriebswirtschaftlich klug zu führen. Wenn ich die Augen schließe und mir eine Kitaleiterin vorstelle, dann sehe ich vor meinem geistigen Auge eine gestresste Person, an der angstvolle Eltern, bedürftige Mitarbeiter/innen, qualitätssichernde Beauftragte der Geschäftsebene, Fachberater/innen und ergebnisorientierte Geschäftsführer/innen zerren. Wenn wir aber all diese Ansprüche von außen nicht als Forderung und Überforderung verstehen, wenn wir sie auf die jeweiligen Bedürfnisse des Gegenübers herunterbrechen, helfen wir uns selbst. Kein Ei wird ohne Wärme ausgebrütet.

Kitaleiter/innen könnten, wenn sie GFK praktizieren, sich vor dem Stress zerrender Anforderungen schützen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Man bräuchte eine Ausbildung zur GFK-lerin, und wer weiß, ob man dann noch in der Arbeit als Kitaleiterin seine Zukunft sieht.

Wenn alle Kitaleiter/innen schon Grundkenntnisse in GFK hätten, alle Erzieher/innen über diese Methode unterrichtet wären, sähe das schon anders aus. Es bliebe dennoch eine rollenspezifische Hürde zu meistern: Die Leiterin hat Entscheidungsgewalt, die Mitarbeiter/innen nicht. Die Leiterin steuert, die Mitarbeiter/innen ziehen mit. GFK benötigt aber gleiche Augenhöhe, kein Hierarchiegefälle. Entscheidungen müssten im Konsens getroffen werden. Hat die Leiterin es mit konträren Bedürfnislagen zu tun, ist es eine Art der gewaltfreien Kunst, hier einen Konsens herbei zu führen. Und zuweilen sind schnelle Entscheidungen gefragt; Konsens bedarf aber eines Kontextes, der Zeit beinhaltet und den Raum dafür hat. Insofern stehen strukturelle Gegebenheiten einer Methode der gewaltfreien Kommunikation entgegen. Zurzeit beschäftigt sich die Bildungspolitik mit Quantitäten; die Qualität der Kindertagesstätten scheint nachrangig, aber das ist hoffentlich in der nächsten Generation anders.

Noch einem weiteren Problem kann man m.E. mit GFK nicht beikommen. Das ist die Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern. Der Anteil der Schüler/innen mit sonderpädagogischer Förderung steigt seit einigen Jahren kontinuierlich an: Betrug die sonderpädagogische Förderquote im Schuljahr 2009/2010 noch 6,0%, so erhöhte sie sich auf 6,3% im Schuljahr 2011/2012 und auf 6,5% im Schuljahr 2012/2013 (Malecki 2013, S. 599). Von 2005 bis 2014 gab es in der Kategorie "Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung" einen Anstieg um 50% (Fokken 2014, o.S.). Auch wenn ein Teil des rasanten Anstiegs durch die institutionelle Anerkennung und Mittelbereitstellung für Förderung durch das System selbst generiert wird, ist doch davon auszugehen, dass Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten mehr als früher die Pädagog/innen belasten.

Im Umgang mit unseren verhaltensauffälligen Kindern sind wir mit der gewaltfreien Kommunikation jedoch nur teilweise vorwärtsgekommen. Bei Kindern mit Wahrnehmungsbeeinträchtigungen können wir nicht voraussetzen, dass sie die Gefühle der anderen erkennen und sich danach richten können. GFK ist kein Heilmittel für gestörte Interaktion per se. Es fragt sich weiterhin, ob - gerade bei wahrnehmungsgestörten Kindern - die Empathiefähigkeit überhaupt in geeignetem Maße für eine gewaltfreie Kommunikation entwickelt werden kann.

Und was genau ist überhaupt Empathie? Nach meiner Wahrnehmung spielt Empathie in wissenschaftlichen Untersuchungen noch nicht lange eine bedeutende Rolle. Im Brockhaus findet sich lediglich die Übersetzung aus dem Griechischen: Empathie ist Einfühlungsvermögen. Seit gut 20 Jahren boomt die Gehirnforschung, und seit der Entdeckung der Spiegelneuronen meint man, eine Ursache des sozialen Verhaltens gefunden zu haben. Inzwischen kennen wir das empathische System, das die Fähigkeit zur gemeinsamen Freude, zum ansteckenden Lachen, zur ansteckenden Traurigkeit beinhaltet. Wir kennen die "Theory of Mind", dass man sich gedanklich in den Anderen hineinversetzen und ihn aus seiner Perspektive heraus wahrnehmen kann. Zwischen dem System der Spiegelneuronen und dem System der "Mentalisierung" (Theory of Mind) besteht offensichtlich eine Wechselbeziehung (vgl. SWR2 Wissen, 28.01.2016).

Die Forschung steht noch am Anfang. Und ich möchte hier nur die in unserem Kontext sinnvollen Fragen stellen: Wenn wir Empathie und Mitgefühl auf eine Ebene stellen und das Mentalisieren auf eine andere Ebene, was geschieht, wenn es auf einer der beiden Ebenen Störungen gibt oder sogar auf beiden Ebenen? Wenn Kinder kein Mitgefühl entwickeln, wie können wir mit ihnen umgehen? Wenn die Spiegelneuronen vielleicht unterrepräsentiert sind? Was ist, wenn das Spiegelneuronensystem gestört ist? Was, wenn jemand sich nicht in andere hineinversetzen kann? Was ist, wenn jemand zwar sich in andere hineinversetzen kann, aber er kein Mitgefühl entwickelt?

Und möglicherweise kommt bei der Forschung heraus, dass empathisches und mitfühlendes Vermögen nicht allen Menschen gleich gegeben ist. Auch die Fähigkeit des Hineinversetzens in andere Personen ist unterschiedlich ausgeprägt. Wir unterscheiden ja auch in der Verhaltenspsychologie unterschiedliche Temperamente: ängstliche, befangene Typen; herzliche, durchsetzungsfähige Typen; fantasievolle, gefühlvolle Typen; ordentliche, pflichtbewusste Menschen; bescheidene, freimütige Menschen (vgl. Artikel zur Big Five Theorie, Wikipedia 2017). Warum hat sich gewaltfreie Kommunikation nicht schon längst überall etabliert? Sicher doch, weil es für einige schwer ist, sich in andere einzufühlen, dessen Bedürfnisse zu erkennen. Möglich ist auch, dass durchsetzungsfähige Typen es gar nicht wollen. So sinnvoll die Methode gerade für Pädagog/innen ist, sie ist offensichtlich keine universelle Methode der Harmonisierung sozialer Beziehungen.

In diesem Sinne schließe ich meine Betrachtungen mit der Erkenntnis, dass das Konzept jenen, die sich darauf einlassen möchten, viele Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten bieten kann. Wie alle Konzepte und Methoden birgt allerdings auch dieses gewisse Grenzen: Es ist kein Allheilmittel - doch es ist ein lohnenswertes Angebot zur Betrachtung und Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und eine Bereicherung für die eigene persönliche Ebene.

Literatur

Fokken, S.: Ist das noch normal? Zeit online, 2014. http://www.zeit.de/2014/24/inklusion-schule-gutachten5.Juni2014 (26.05.2017)

Malecki, A.: Sonderpädagogischer Förderbedarf - eine differenzierte Analyse, 2013. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/BildungForschungKultur/SonderpaedagogischerFoerderbedarf_102014.pdf?__blob=publicationFile (28.05.2017)

Rosenberg, M.B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Junfermann-Verlag 2005

SWR2 Wissen: Das soziale Gehirn (Produktion 2016). Redaktion: Anja Brockert/i.V. Charlotte Grieser, Regie: Günter Maurer. Sendung: Donnerstag, 28.01.2016, 08.30 Uhr, SWR2 Wissen. Verfügbar unter: http://www.swr.de

SWR2 Wissen: Wie der Mensch moralisch wurde. Produktion 2016. SWR2 Wissen: Ursprung der Ethik. Die Grenzen des Erlaubten. Sendung: Samstag, 30.7.2016, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen. Verfügbar unter: http://www.swr.de

Weckert, A.: Marshall Rosenberg, Bausteine einer Biographie. http://www.empathie.com/medien/detail/marshall-rosenberg-biografie (05.06.2017)

Wikipedia: Big Five (Psychologie), 2017. https://de.wikipedia.org/wiki/Big_Five_(Psychologie) (25.06.2017)

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