Stefan Paetzholdt-Hofner
"Kinder werden nicht erst zu Menschen - sie sind schon welche. Ja! Sie sind Menschen, keine Puppen. Man kann ihren Verstand ansprechen - sie antworten uns; sprechen wir zu ihrem Herzen - fühlen sie uns. Kinder sind Menschen; in ihren Seelen sind Ansätze all der Gedanken und Gefühle, die wir besitzen. Also gilt es, diese Ansätze zu entwickeln, ihr Wachsen behutsam zu lenken." (Janusz Korczak, aus: Von der Grammatik und andere pädagogische Texte, Agentur Dieck, Heinsberg 1991).
1. Einleitung
Bereits vor über 80 Jahren beschäftigten sich nicht nur heute berühmte Personen wie Maria Montessori, Emmi Pikler oder Janusz Korczak mit der Würde und Einmaligkeit eines jeden Kindes, sondern auch der deutsche Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse, dessen Eltern unter dem eigensinnigen Sohn gelitten hatten, schrieb: "Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigen-Sinn. ... Wer eigensinnig ist gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem 'Sinn' des 'Eigenen'. ... Er schätzt eben nur Eines hoch, die geheimnisvolle Kraft in ihm selbst, die ihn leben heißt und ihm wachsen hilft." (H. Hesse, Eigensinn macht Spaß, Suhrkamp, 1986).
Es scheint etwas Tiefes, Wesen-tliches, d.h. zu unserem Wesen gehörendes zu sein, dass wir uns fragen, was das Leben für einen Sinn und für ein Ziel hat oder was bestimmte Ereignisse und Krisen für uns bedeuten.
Aber obwohl wir schon so lange wissen, dass das Kind kein leeres Gefäß ist, dass es eine geschützte Freiheit braucht, um sein eigenes Leben in seiner eigen-sinnigen Weise zu leben, dass es in der Pädagogik auf den "Geist", auf die innere Haltung, die Be-Achtung des kompetenten Kindes ankommt, tun wir uns in der täglichen Praxis immer wieder so schwer damit.
2. Postmoderne
Die Welt hat sich seit damals massiv verändert, wie wir wissen und täglich erleben, und so suchen wir und unsere Kinder auf alte Menschheitsfragen neue Antworten.
Die heutige Zeit wird als Postmoderne bezeichnet, weil tiefgreifende Veränderungen mit ihren Chancen und Risiken uns herausfordern:
- Wir registrieren einen Wandel bei Werten und gesellschaftlichen Strukturen.
- Wir sind konfrontiert mit Veränderungen und Mobilität in geographischer, sozialer, ideologischer Hinsicht, aber auch in Beziehungen.
- Wir erleben neue demographische Entwicklungen (Geburtenrückgang und Zunahme von älteren Menschen in der Gesamtbevölkerung), neue Lebensmöglichkeiten und den Verlust von Zugehörigkeit und Einbettung.
- Berufswelten verändern sich, und somit entstehen neue Erwerbsidentitäten.
- Virtuelle Welten entwickeln sich rasant mit neuen Erfahrungswelten.
- Die Geschlechterrollen werden neu definiert, Individualisierung, Selbständigkeit und Selbstverwirklichung betont.
Hinter diesen "Schlagwörtern" verbergen sich aber komplexe Lebenswelten, tiefgreifende Veränderungen in immer kürzer werdenden Zeitabschnitten, was nicht spurlos an uns, den Kindern und Jugendlichen vorübergeht.
Und ein Problem im Kontakt der Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen resultiert daraus, dass unsere Antworten, unsere guten Tipps, unsere gewohnten Strickmuster meist nicht mehr auf die jetzige Lebenssituation passen und viele Jugendliche nur die Augen verdrehen können, angesichts unserer Rezepte oder die der Politiker und Parteien. Auch die Kinder wachsen in einer anderen, "neuen" Welt auf, die mit unserer Kindheit nicht mehr zu vergleichen ist.
3. Konstruktivismus
Wir wissen seit längerem, dass die Welt nicht so ist, wie wir meinen, dass sie ist. Wir alle konstruieren unsere Lebenswirklichkeit und bilden aus unserer Wahrnehmung unsere Wahrheiten (vgl. Theorie des Konstruktivismus).
Es fand und findet also auch ein großer und tiefgreifender Wandel im Weltbild statt, denn wir müssen begreifen und akzeptieren, dass wir andere nicht wirklich in unserem Sinne auf ein Lebensmodell hin erziehen, ihren Weg, ihre Entwicklung nicht festlegen können. Wir können aber andere Menschen, andere Systeme anregen, anstoßen oder stören.
Aber immer ist unsere Welt das Produkt einer eigen-sinnigen Konstruktion, eines Prozesses, in dem wir täglich neu Wahrheiten und Wirklichkeiten selbst bilden.
So müssen wir auch die Welt und ihre Erscheinungen immer wieder neu interpretieren und können nicht mehr sagen: "So war es, so ist es, so wird es voraussichtlich sein!" Dies bedeutet, wir sind gefordert, viel mehr als in der Vergangenheit über unsere Wahrnehmungen, über die Vielfalt dieser Welt und ihrer Menschen, über Irrtümer und Differenzen zu kommunizieren.
4. Gefahren der neuen Freiheit
Das Erwachsenwerden ist also ein umfangreiches Projekt, bei dem wir trotz und wegen der neuen Freiheiten auch scheitern und verzweifeln können. Kinder und Jugendliche sind oft verletzlich, unsicher, ängstlich, offen, sensibel und erleben Krisen und Konflikte nicht selten als Bedrohung des Selbstwerts. Dies belegen Zahlen und Statistiken. Ich zitiere aus Passolt:
"70% der Sechs- bis Neunjährigen geben an, unter Stresssymptomen zu leiden, bis 18 Jahre ist jedes zehnte Kind oder jeder zehnte Jugendliche psychisch auffällig, jedes zwanzigste behandlungsbedürftig; 200.000 Jugendliche sind alkoholkrank, ca. 15% aller Psychopharmakaverschreibungen in Deutschland fallen auf Kinder, jeder dritte Schüler nimmt Medikamente zur besseren psychischen Befindlichkeit.
Bei einer Befragung von 1.059 Männern und Frauen zwischen 20 und 25 (Gewis-Umfrage 2002) äußerten im letzten Jahr 72% Angst vor dem Leben, 67% gaben an, unglücklich zu sein und 97% vertrauen nicht mehr der Politik und den Politikern.
Ein etwas differenzierteres Bild zeigt die Shell-Studie von 2002, die bei den ab 12jährigen mehr Optimismus, Fleiß und Ehrgeiz ausmacht, allerdings nur dann, wenn sie aus einem sicheren sozialen und materiellen Umfeld kommen. Und die Jugend braucht in Moment viel mehr Kraft für sich selbst, die für andere Veränderungen oder Aufgaben oft nicht mehr zur Verfügung steht." (vgl. SZ vom 20.08.02, Seite 9).
Es gibt also eine dunkle Kehrseite der großen Freiheit, der Chancen, die dieses Leben bietet. Und dies ist eine Kernfrage unseres Themas: Wie können Kinder und Jugendliche stark und eigen-sinnig werden, damit sie in einer Welt, die zunehmend komplexer, verwirrender, unlesbarer geworden ist, nicht nur gut überleben, sondern damit sie die Chancen und Freiheiten auch nutzen und ihre Lebensziele erreichen können?
Hier kommt noch erschwerend hinzu, dass wir Erwachsenen das "Jung-Sein" als Kultur, als Objekt der Begierde entdeckt haben. Wir wollen anders sein als unsere Eltern, die sich noch über lange Haare und "Negermusik" aufgeregt haben, wollen "in" und "cool" sein, wir übernehmen "Klamotten", Sprache, Aussehen, Protestformen. Wir nehmen den Jugendlichen ihre eigen-sinnigen Systeme, Symbole und Zeichen und vermarkten sie, nehmen ihnen ihre Einmaligkeit und die Besonderheit dieses Lebensabschnitts und zwingen sie so, sich anders, massiver von uns abzugrenzen.
"Uns geht es vor allem darum", schreibt Rebeca Wild, "wie Kinder und junge Menschen in eine sich schnell wandelnde Welt so hineinwachsen, dass ihr Sein und damit ihre Fähigkeit zu einer positiven Anpassung an neue Lebensumstände durch den Erziehungsprozess nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt wird. ..." (R. Wild, Erziehung zum Sein, arbor, 1986).
5. Kohärenzsinn
Damit also Kinder und Jugendliche körperlich und seelisch gesund in dieser Welt aufwachsen, in sie hineinwachsen, damit sie Umbrüche auch als Aufbrüche, als Chance, als Freiraum erleben und nutzen können, brauchen sie etwas ganz Wesentliches:
Ich nenne es Eigen-Sinn, und von dem israelischen Gesundheitsforscher Antonovsky wird diese Grundhaltung als Kohärenzsinn bezeichnet. Herr Antonovsky hat sich damit beschäftigt, wie wir es schaffen, gesund zu bleiben trotz aller Belastungen. Wir bezeichnen diesen Ansatz als Salutogenese. Und er hat herausgefunden, dass wir Widerstandskräfte brauchen wie z.B. körperliche, psychische, materielle und psychosoziale Ressourcen.
Aber Antonovsky hat auch festgestellt, dass dieser Kohärenzsinn von überragender Bedeutung für unser Wohlergehen, für unsere seelische und körperliche Gesundheit ist. Gemeint ist damit eine geistige Haltung, die das Gefühl vermittelt, dass mein Leben, meine Geschichte Sinn hat, Sinn macht. Ich erkenne Zusammenhänge in meinem Leben und in meinem Schicksal, Aufgaben sind für mich Herausforderungen, die ich lösen kann, und es gibt Ziele, für die es lohnt, sich zu engagieren.
Ich bin überzeugt, dass wir alle mit einem einmaligen Eigen-Sinn auf diese Welt kommen, der sich entweder entwickeln und wachsen darf und kann oder aber der durch das Fehlen wichtiger Ressourcen und achtsamer Kontakte nur im Ansatz vorhanden ist und von Größenphantasien und Depressionen oder materiellen Problemen überlagert wird. Dann spüren wir das Gegenteil von einem gesunden Eigen-Sinn: das Gefühl der Demoralisierung, also der Ohnmacht und Hilflosigkeit, das Gefühl, Opfer des Schicksals zu sein.
6. Konsequenzen
Was folgert daraus? Wir Erwachsene haben eine hohe Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen, dass sie im Kontakt mit uns ihren Eigen-Sinn entdecken, zeigen, leben können, damit sie dieses Selbstgefühl und Selbstbewusstsein, damit sie ihr Leben entwickeln und leben können und nicht so werden wie wir, sondern wie sie es wollen.
Das ist oft schmerzlich, oft anstrengend, aber vor allem für beide Seiten auch bereichernd, lohnend und immer wieder sehr entlastend. Die wichtigsten Ansatzpunkte für unser Zusammenleben und unsere Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen sind für mich:
a) eine Haltung, die dem Gegenüber - gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Herkunft, gleich welchen Alters - Wert und Kompetenz zubilligt. Jedes Kind, jede(r) Jugendliche ist gleichwertig (und das ist nicht identisch mit gleichberechtigt, denn es gibt natürlich einen Unterschied in den Rechten zwischen Kindern und Erwachsenen). Und jedes Kind und jeder Jugendliche besitzt viele Kompetenzen, die es zu nutzen und zu aktivieren gilt. Immer noch gehen wir in Medizin, Psychologie, Pädagogik zu oft von den Defiziten aus und demoralisieren so unbewusst die Menschen, die wir eigentlich stärken wollen.
So könnten wir uns in unserer pädagogischen Arbeit mehr bemühen, die Stärken und Chancen zu sehen, die sich hinter den oft so schnell gebrauchten Zuweisungen wie hyperaktiv, ungehorsam, aggressiv, faul, distanziert oder konzentrationsschwach verbergen. Ein freches, vorlautes Kind ist vielleicht auch spontan, einfallsreich, sprachlich fit, selbstbewusst, humorvoll und bringt seine Ideen zu Gehör (vgl. D.Eggert).
Wir müssen Hilflosigkeit und Ohnmacht vermeiden oder aufbrechen, indem wir ihnen das Gefühl geben, Akteure ihres Lebens zu sein, GestalterInnen ihrer Welt, dass sie Stärken haben, um die Kontrolle über ihr Leben selbst zu übernehmen, und dass sie sich immer wieder als einmalig und unverwechselbar erleben dürfen.
In vielen pädagogischen Konzepten steht auf Hochglanzpapier, wie wichtig es ist, die Kinder und Jugendlichen einzubeziehen bei Entscheidungen. Aber noch immer bestimmen z.B. ErzieherInnen im September ein Jahresthema und werden Kinder ausgegrenzt bei Themen wie Raumgestaltung, Tagesablauf, Materialausstattung, Hausaufgabenzeiten im Hort, Regeln, Mittagessen, obwohl es sie existenziell betrifft.
b) Wir sollten mehr üben, duldsam mit unterschiedlichen Werten, Meinungen, Lebensentwürfen und Ansichten umzugehen und die Fähigkeit entwickeln, Widersprüche in unseren Familien, in unserer Arbeit auszuhalten. Wir sollten weniger schnell be- und verurteilen, sondern Mehrdeutigkeit als Chance für lebendigen Austausch und für Entwicklung anerkennen.
Man nennt diese Fähigkeit Ambiguitätstoleranz, und sie meint nicht, dass wir nicht klar unsere Meinung vertreten sollen oder dürfen, sondern diese Haltung der Toleranz ermöglicht erst den konstruktiven Streit, den Dialog, denn sie ist eine Vorraussetzung für Einfühlungsvermögen in die Welt des anderen.
c) Der Dialog ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Eigen-Sinn. Ganz konkret bedeutet dies:
- Wir sind nicht im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit.
- Auch ich bin Lernender und verstecke mich nicht hinter Theorien, Ideologien oder alten Weisheiten.
- Ich bin bereit, mich durch Kinder und Jugendliche verunsichern und in Frage stellen zu lassen.
- Ich versuche, mich selbst klar zu äußern, mich als Person zu zeigen. Ich vermeide leere Worthülsen und achte auf eine persönliche, klare Wortwahl und Sprache.
- Ich überprüfe dazu auch meinen "inneren Anrufbeantworter" (vgl. Jesper Juul), der in bestimmten Situationen immer die gleichen Sätze oder Vorwürfe abspult, weil ich sie in meinem Leben abgespeichert habe, und versuche, neue Antworten zu finden.
- Ich bin bereit, Verantwortung im Alltag abzugeben und zu teilen, was mich entlastet und den anderen ernst nimmt. Aber ich mache mir trotzdem bewusst, dass ich im Dialog mit Kindern eine große Verantwortung trage, die z.B. auch beinhaltet, nach Streit und Konflikten wieder auf sie zuzugehen und sich auch einmal als Erwachsener zu entschuldigen, wenn ich spüre, dass ich mein Gegenüber gekränkt oder verletzt habe.
d) Um sinn-voll zu leben und Eigen-Sinn zu entwickeln bedarf es natürlich der Befriedigung vitaler Grundbedürfnisse - z.B. neben Geborgenheit und Nahrung auch Möglichkeit zur Bewegung (vgl. auch die Literatur zu Psychomotorik) oder zum selbständigen Ausprobieren im Spiel, und grundlegende ökologische und materielle Ressourcen müssen vorhanden sein. Wenn ich nur schauen muss, wie ich überlebe, wie ich über die Runden komme, dann habe ich keine Kraft, mich um meine seelischen Bedürfnisse zu kümmern. Die Politik ist und bleibt gefordert als Rahmengestalter der Lebensumwelt und ist leider so oft überfordert!
Es ist zudem äußerst wichtig, dass wir Erwachsene den Unterschied von Bedürfnissen und Wünschen erkennen. Denn viele Eltern und PädagogInnnen erfüllen zu oft die Wünsche von Kindern und Jugendlichen in dem Glauben, sie damit ernst nehmen. Aber die Bedürfnisse nach Achtung, Klarheit und Wertschätzung werden nicht dadurch erfüllt, dass ich Kindern jeden Wunsch erfülle, sondern indem ich sie in ihren Gedanken, Gefühlen, Eigenarten ernst nehme und mich dem auch stelle. Und dazu gehören auch die notwendige Auseinandersetzung über meine Grenzen und mein Nein, wenn ich etwas nicht will oder dulde.
e) Eigen-Sinn braucht und lebt von Beziehung. "Der Mensch wird am Du zum Ich", wie es Martin Buber formulierte (vgl. auch Emmanuel Levinas). Damit wir unseren Eigen-Sinn in diesem Leben entwickeln und entdecken können, brauchen wir Freundschaften, Liebe, Kritik, Annehmen, Auseinandersetzung, konstruktiven Streit; wir brauchen lebendigen Kontakt mit anderen. Und dies bedeutet für mich, das zentrale Element in der Pädagogik, in Familie, Schule, Kindergarten, Hort, Freizeitheim ist das, was sich im Kontakt zwischen mir und dem anderen im Augenblick ereignet.
Pädagogik findet im "Jetzt" statt, hier können wir uns treffen, hier erleben wir das, was wesentlich ist, hier klingt etwas von unserem Eigen-Sinn als Person durch. Ursprünglich bedeutet dies auch Person: Etwas von meinem Wesen klingt hindurch (lat. personare - hindurchklingen).
Und alle Kinder und Jugendlichen, die uns mit ihren sogenannten Verhaltensstörungen nerven und stressen, zeigen uns, dass sie in Kontakt kommen, dass sie sich und uns spüren wollen und dass ihre gewählten Not-Lösungen meist Versuche sind, tiefe Not zu lösen und Eigen-Sinn zu bewahren und zu finden.
f) Bei der gemeinsamen Suche mit Kindern nach ihrem Lebens- und Eigen-Sinn sollten wir auch die Strukturen und Rahmenbedingungen in unseren Einrichtungen kritisch überprüfen. Sind alle Regeln wirklich notwendig? Wem hilft es, wenn nur vier Kinder ins Kuschelhäuschen dürfen? Wenn ich von "Grenzen" spreche, sehe ich dann auch die eigenen oder meine ich nur das "Begrenzen" der Kinder? Wo "führe" ich im Tagesablauf und wo "folge" ich den Kindern? Dürfen Kinder auch mit Tischen und Stühlen bauen und spielen oder sind diese nur zum Sitzen, Malen, Basteln und Essen da?
g) Auf der Beziehungsebene ist von großer Bedeutung, dass ich nicht nur Wohlverhalten und Leistung lobe und bestärke, sondern dass ich auch die Einmaligkeit und Integrität des einzelnen Kindes wahrnehme, indem ich ihm immer wieder das Gefühl gebe, dass ich es "sehe" und ernst nehme. Wenn mir ein Kind ein selbstgemaltes Bild schenkt, dann kann ich es dafür loben, indem ich z.B. sage: "Du kannst aber schon toll malen!", oder ich kann eine Rückmeldung geben, die die Person des Kindes und unseren Kontakt meint: "Danke, dass du mir dieses Bild schenkst. Soll ich es hier aufhängen oder darf ich es mitnehmen?"
h) "Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das zweite, was er tut, und das dritte erst, was er redet." Dieses Zitat des Religionsphilosophen und Theologen Romano Guardini macht nochmals deutlich, dass wir, unsere Persönlichkeiten, es sind, die in der Pädagogik wirken. Deshalb ist es in der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen von existenzieller Bedeutung, dass wir uns selbst kennen- und lieben lernen, dass wir Kontakt mit unserem "inneren Kind" halten, das sich noch gut an die eigenen schönen und tragischen "Kindheitsgeschichten" erinnert.
Wir sollten lernen, die Verantwortung für unsere Fehler zu tragen, aber wir sollten nicht nur den Kindern, sondern auch uns unsere Fehler verzeihen, denn wir sind Menschen und keine Engel (vgl. "Verzeih dir selbst" von Peter Uffelmann).
Und Emmi Pikler formulierte es so: " Wenn die Erziehung im großen und ganzen von einem entsprechenden Geist durchdrungen ist, können die hie und da begangenen Fehler nicht von entscheidender Bedeutung sein. Wichtig ist, dass wir das Wesentliche uns aneignen: Beobachte! Lerne dein Kind kennen! Wenn du wirklich bemerkst, was es nötig hat, wenn du fühlst, was es tatsächlich kränkt, was es braucht, dann wirst du es auch richtig behandeln, wirst du es richtig lenken, erziehen." (E. Pikler, Friedliche Babys - Zufriedene Mütter, Herder, 1982).
Damit Kinder aus sich heraus ihren Weg finden, eigene innere Werte aufbauen und somit sich und die Welt als sinn- und wertvoll erleben können, dazu benötigen sie uns, sofern wir sie nicht nur an gesellschaftliche Normen anpassen wollen, sondern ihnen unsere eigenen Werte und Haltungen der Achtung und Wertschätzung vorleben. Und Kinder nehmen sehr genau wahr, ob wir nur reden oder ob wir dies auch im täglichen Kontakt spürbar werden lassen.
Auch der große Pädagoge Janusz Korczak gibt uns in seinen Schriften eine Ahnung davon, welches Glück wir in der "Arbeit" mit Kindern und Jugendlichen trotz der Anstrengungen immer wieder erleben dürfen, wenn wir uns durch ihr Verhalten nicht blenden lassen, sondern etwas vom verborgenen Eigen-Sinn erspüren und uns einlassen können auf die Einmaligkeit des anderen.
"Kinder sind Sachkenner in Angelegenheiten der Kinder. Das gilt nicht nur aus moralischer Empfindsamkeit zu respektieren, sondern das ist selbst ein Stück Heilung der Welt. Wie sie mit ihrer Kennerschaft ihre Welt ordnen, und wie Erwachsene dabei helfen können, davon handelt Korczaks gesamtes Werk." (H. von Hentig: J. Korczak oder Erziehung in einer friedlosen Welt, Börsenverein, Frankfurt 1972).
7. Praxisbeispiele
Abschließend möchte ich noch von einigen kurzen - oben z.T. angedeuteten - Situationen aus dem pädagogischen Alltag berichten, die ich selbst auf Praxisbesuchen oder in den Einrichtungen meiner Tochter erlebt habe. Sie sollen deutlich machen, wie wichtig es ist, dass wir unseren pädagogischen Alltag und unsere Haltung überprüfen auf Situationen, in denen sich die kleinen Kränkungen und Demütigungen verstecken, denen wir uns oft nicht mehr bewusst sind. Es sind meist keine großen konzeptionellen Änderungen notwendig, aber kleine Schritte hin zu mehr Achtsamkeit im Kontakt mit Kindern. Und nun einige negative Beispiele:
- In einer integrativen Einrichtung sitzen die Kinder gerade beim Geburtstagskuchen, als die Ergotherapeutin hereinkommt, sich zur Erzieherin setzt und sie gemeinsam über die Stunde eines Kindes sprechen, das auch in der Runde anwesend ist.
- Mit dem Kind an der Hand erzählt mir eine Erzieherin, dass sie jeden Tag auf die unzuverlässige Mutter warten muss und dass dies für das Kind so schlimm sei.
- Als ein Kind nicht sofort aufräumen will, sagt die Kinderpflegerin: "Hat das kleine Fräulein heute mal wieder keine Lust zum Aufräumen?"
- Trotz des Situationsansatzes in der Konzeption legt das Team der Einrichtung im Herbst das Jahresthema "Ritter" fest.
- Obwohl "Erziehung zur Selbständigkeit" im Konzept des Hortes steht, wird den Kindern von der Erzieherin das Mittagessen aus Alu-Auftauschüsseln in die Teller geschöpft.
- Wenn ein bestimmtes Kind "brav" beim Essen ist, dann bekommt es eine Sonne auf ein Blatt gemalt; bei zehn Sonnen bekommt es ein Geschenk.
- Als ein Kind der Erzieherin im Hort erzählt, dass es manchmal zu Hause geschlagen wird, antwortet sie: "Dann wirst du es wohl verdient haben."
- Bei den Hausaufgaben sitzt die Erzieherin vorne am Pult, und die Kinder müssen zum Korrigieren zu ihr kommen; immer wieder ruft sie, dass sie endlich mal ruhiger sein sollen, aber der größte Lärm im Raum ist ihr Rufen und das dauernde Stühlerücken.
- Ein Kind steigt beim Rollenspiel auf einen Tisch, worauf die Erzieherin es erinnert: "Komm sofort da runter, du kennst die Regeln. Tische sind zum Essen und Basteln da."
- Immer noch und immer wieder müssen alle Kinder zur gleichen Zeit zur Toilette. In einem Kindergarten mussten sie sich vorher zur Polonaise aufstellen - mit einem Zugführer, der die Kinder namentlich nacheinander aufrief. Da dies fast zehn Minuten dauerte, wurden einige Kinder unruhig, und sie durften dann zur Strafe erst als letzte gehen.
- Beim Essen kommt die Erzieherin leise von hinten zu meiner Tochter und schlägt ihr den auf dem Tisch aufgestellten Ellbogen weg und sagt: "Du weißt, dass wir anständig sitzen und essen."
- Bei der Nikolausfeier in einem Hort mit christlichem Träger steckt der Krampus ein Kind in seinen Sack, das entsetzlich zu schreien und zu zittern anfängt. Die Erzieherin nimmt das Kind und meint zu ihm: " Du musst doch keine Angst haben, dass ist doch nur ein Spaß."
- Ein Kind sitzt am Fenster, träumt, schaut nach draußen. Eine Erzieherin kommt vorbei, nimmt es an der Hand und sagt: "Wenn du dich langweilst, dann mach halt mal ein Puzzle oder willst du lieber mit mir was spielen?"
- Bei der Brotzeit in einem Kindergarten bekommt ein Kind ein Glöckchen, mit dem es immer dann läuten soll, wenn es zu laut wird. Da es sehr unsicher ist in seiner Rolle, schaut es immer wieder zur Erzieherin, ob es jetzt läuten soll.
- Beim Rundgang zu den Kindern bei den Hausaufgaben bleibt eine Erzieherin bei einem Kind stehen, hebt sein Heft hoch und sagt vor der ganzen Gruppe: "Typisch Marco, alles falsch, immer wieder hast du es wohl nicht nötig zuzuhören, wenn ich was erkläre." (Name geändert).
Werden Sie ärgerlich beim Lesen dieser Beispiele, weil Sie so nicht mit Kindern arbeiten?
Natürlich erlebte und erlebe ich sehr oft, wie achtsam, liebevoll und wertschätzend viele KollegInnen mit Kindern umgehen, wie viel sich in den letzten Jahren positiv verändert hat und dass z.B. die Stadt München verboten hat, Kinder zum Leeressen des Tellers zu zwingen - was meine Tochter noch in ihrem Kindergarten erlebt hat. Trotzdem, keines dieser Beispiele ist erfunden.
Mein Anliegen ist nicht die Verärgerung, sondern ich will Sie anregen und durch meine Gedanken und problematischen Beispiele gewinnen für eine kritische Durchforstung des pädagogischen Alltags, der Regeln, der unbewussten Reaktionen und der tradierten Abläufe, damit wir weniger Kinder kränken und verletzen müssen und wir selbst bewusster mit unserer erwachsenen Macht umgehen. Denn die Kinder fühlen die "Praxis" und nicht die Theorie mit ihren tollen Begriffen.
Dazu gehört aber eben auch der Mut, uns selbst, unsere Geschichte, unsere Werte und Normen, unsere inneren Bilder, unsere pädagogische Grundhaltung immer wieder kritisch zu hinterfragen und Reste einer Pädagogik zu entdecken und zu verändern, die kindliche Integrität unterdrückt und zu einseitig soziale Anpassung und Kooperation fördert. Erziehung bedeutet für mich, Kinder im Dialog dabei zu unterstützen, ihren Lebens- und ihren Eigen-Sinn zu entwickeln, den sie in dieser zunehmend verwirrenden Welt so dringend brauchen.
Literatur
Till Bastian: Lebenskünstler leben länger. Gesundheit durch Eigensinn, Kindler-Verlag, Berlin 2000
Dietrich Eggert: Von den Stärken ausgehen..., borgmann-Verlag, Dortmund 1997
Ben Furmann/ Tapani Ahola: Die Kunst, Nackten in die Tasche zu greifen, borgmann-Verlag, Dortmund 1999
Norbert Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1997
Hermann Hesse: Eigensinn macht Spaß, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986
Hermann Hesse: Eigensinn/ Autobiographische Schriften, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992
Jesper Juul: Das kompetente Kind, Rowohlt, Reinbek 1997
Jesper Juul: Grenzen, Nähe, Respekt, rororo, Reinbek 2000
Heiner Keupp: Ermutigung zum aufrechten Gang, dgvt-Verlag, Tübingen 1997
H. Klingenberger/ V. Zintl: Eigenständig, Don Bosco, München 2001
H. Klingenberger/ V. Zintl: Ichstark, Don Bosco, München 2001
H. Klingenberger/ V. Zintl: Selbstbewusst, Don Bosco, München 2002
Henning Köhler: Schwierige Kinder gibt es nicht, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart2001
Janusz Korczak: Das Recht des Kindes auf Achtung, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1973
Hans v. Lüpke/ Reinhard Voß (Hrsg.): Entwicklung im Netzwerk, Luchterhand, Neuwied 2000
Opp/Fingerle/Freytag (Hrsg.): Was Kinder stärkt, Reinhardt Verlag, München 1999
Rudi Palla: Die Kunst, Kinder zu kneten/ Ein Rezeptbuch der Pädagogik!, Eichborn-Verlag, Frankfurt a.M. 1997
Michael Passolt (Hrsg.): Hyperaktivität, Ernst Reinhardt Verlag, München 2001
Emmi Pikler: Miteinander vertraut werden, Arbor-Verlag, Freiamt 1994
Lienhard Valentin: Mit Kindern neue Wege gehen, rororo, Reinbek 2000
Reinhard Voß (Hrsg.): Das Recht des Kindes auf Eigensinn, Ernst Reinhard Verlag, München 1955
Rebeca Wild: Kinder wissen, was sie brauchen, Herder Verlag, Freiburg 1998
Rebeca Wild: Sein zum Erziehen, Arbor-Verlag, Freiamt 1998
Anmerkung
Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen einer Veranstaltung zu "Eigensinn macht Sinn" im Cafe Nanu in Traunstein am 16.11.2002.