Eine Artikelreihe zum Thema „Soziale Wirklichkeit und Sprache“
Sascha Dümig
Einleitung
Eine merkwürdige Inkongruenz besteht zwischen den aktuellen Eingewöhnungsmodellen und Empfehlungen zu sprachlicher Förderung. Die Denkfigur ist im Grunde die folgende: Erst benötigt das Kind eine sichere emotionale Basis, von der aus es explorieren kann. Dies wird durch eine grundlegende Eingewöhnung ermöglicht und erst in der Folge baut das Kind relevante Kompetenzen aus, so unter anderem die sprachliche Kompetenz. Dieses Verständnis möchte ich die Domino-Vorstellung der Eingewöhnung nennen, da hier davon ausgegangen wird, dass ein grundlegender Entwicklungsbaustein zu Anfang die anderen Entwicklungsbausteine erst zur Aktivierung bringt.
Dieser Denkfigur unterliegt meines Erachtens ein wesentliches Missverständnis, welches auf einem spezifischen Begriff von Sprache beruht. Sprache wird nach diesem ausschließlich als ein internes, kognitives Vermögen verstanden, welches mit sozialer Interaktion per se nichts zu tun hat. Ursachen eventueller Erwerbsschwierigkeiten sind entsprechend entweder im Überträgersystem der sozialen Interaktion oder aber nachgeschaltet im Sprachmodul selbst zu suchen. Niemals aber, und das ist hier der entscheidende Punkt, wird Sprache als kognitiv UND sozial gedacht. Was bedeutet dies genau?
Stellen Sie sich die Eingewöhnungssituation eines Kindes in einer Einrichtung vor. In dieser Einrichtung wird eine Sprache gesprochen, die das Kind noch nicht beherrscht. Es sieht fremde Personen und hört eine fremde Sprache. Es fällt ihm schwer zu verstehen, was diese Personen von ihm wollen, mühsam muss es sich anhand der Körpersprache und der Mimik orientieren. Soziale Interaktion und sprachliches Verstehen fallen in dieser Situation im Erleben auseinander, eine Schere, die sich bei manchem Kind nicht mehr schließt. Es versteht durch die soziale Interaktion mit der Zeit, dass ihm hier wahrscheinlich keine Gefahr droht, aber die Abwesenheit von sozialer Gefahr beinhaltet nicht automatisch, wirklich angekommen zu sein. Wenn man Heideggers Formulierung „Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.“ (Heidegger 2000) ernst nimmt, dann wird eine sprachliche Obdachlosigkeit durch die Domino-Vorstellung der Eingewöhnung billigend in Kauf genommen, welche man späterhin, wenn überhaupt, mit Sprachförderangeboten kompensieren muss.
Auch wenn viele Wissenschaftler, so z.B. Tracy (2008), die Notwendigkeit einer sprachlichen Unterstützung von Anfang an betonen, so wird doch meist auf einen natürlichen Erwerb abgehoben, der mehr oder weniger durch die Fachkraft moderiert wird. Meines Erachtens lädt diese Anschauung aber zu obigem Vorgehen ein, Sprache erst nachgeschaltet als Thema anzusehen. Anzustreben wäre deshalb die strukturelle Implementierung in die Eingewöhnungsphase selbst, so dass wir zu einer Parallelitätsvorstellung der Eingewöhnung kommen. Die Entwicklungsbausteine werden von Anfang an gleichzeitig fokussiert und stützen sich dadurch im optimalen Falle.
Während die Domino-Vorstellung, nach der vor allem Bindungserfahrungen der Aktivierunganderer Vermögen vorgeschaltet sind, m.E. zurzeit in Fachkreisen den Mainstream darstellt, gilt es die Parallelitätsvorstellung und ihren spezifischen Antritt vor allen praktischen Gedanken wesentlich zu motivieren.
Eingewöhnung kommt zur Sprache
Das Ende der 80er Jahre entwickelte Berliner Eingewöhnungsmodell nach Infans (vgl. Bauer, Klamer & Veit 2009) legte den Grundstein für eine wichtige und dringend nötige Entwicklung im pädagogischen Bereich. Noch Anfang der 2000er Jahre gab es keine curriculare Einbettung des Themas Eingewöhnung in die Ausbildung von angehenden Erzieherinnen. Für die Kinder bedeutete dies, dass ihre Eingewöhnung einem Münzwurf glich: Entweder sie gerieten an empathische und verständnisvolle Erzieherinnen, die ihnen den Übergang sanft ermöglichten oder eben nicht. Durch die strukturelle Etablierung von Eingewöhnungsmodellen wurde der Willkür in der Eingewöhnung weitestgehend Einhalt geboten und eine erhöhte Sensibilität für Trennungs- und Sicherheitserfahrungen durch Bindungen langfristig gesichert. Diese Errungenschaften, vor allem des Berliner Eingewöhnungsmodells mit seiner Fundierung in der Bindungstheorie, sind wesentlich und müssen auch in Zukunft definitiv beibehalten werden.
Die Frage, die sich allerdings stellt, ist, ob es nicht an der Zeit ist, endlich über diese hinaus zu gehen. Wir finden bereits, dass im Bereich der Hunde- und Katzenforschung der Strange-Situation-Test von Ainsworth und die Bindungstypen erfolgreich etabliert sind (siehe z.B. Kusma 2019 und Thielke & Udell 2019) und Erziehungsempfehlungen für die Vierbeiner sind aktuell, so irritierend es sich anhören mag, in ihrem Antritt kaum mehr zu unterscheiden von denjenigen in aktuellen Büchern zur Krippenpädagogik. Niemand stellt in Abrede, dass die meisten höheren Säugetiere über ein Bindungssystem als eigenständiges Motivationssystem verfügen (vgl. Stegmaier 2008). Charakteristisch ist für dieses System aber deshalb gerade, dass es primär über einen affektiven Signalaustausch operiert. Wir sollten deshalb dringendst Überlegungen anstellen, wo genau artspezifische Unterschiede gegeben sind und wie wir diese in Eingewöhnungsmodellen, wie auch in die Pädagogik insgesamt, berücksichtigen können, wollen wir uns als Gesellschaft nicht dauerhaft mit dem Niveau – ich übertreibe hier bewusst – einer besseren „Haustierpädagogik“ zufriedengeben.
Um im Bild des Signalaustauschs zu bleiben, so liegt es nahe, zu berücksichtigen, dass neben nonverbalen, affektiven Signalen, der sprachliche Austausch, das Handeln mit Sprache, wesentlich für die Spezies Mensch ist. Inzwischen kann als gesichert gelten, dass eine eigenständige genetische Disposition vorhanden und damit das Sprachsystem ebenfalls evolutionär entstanden und angelegt ist (so beginnt z.B. der Spracherwerb schon intrauterin vor jedem direkten sozialen Austausch; bereits Föten ab ca. dem 6. Schwangerschaftsmonat können prosodische Muster unterscheiden (vgl. Moon et al. 1993; Moon et al. 2013)). Ebenso wenig wie wir Bindungsbedürfnisse lernen, sondern beantwortet bekommen müssen, entstehen „sprachliche Bedürfnisse“ entsprechend nicht durch soziales Lernen, sondern haben ihren Grund in unserer genetischen Ausstattung als Spezies Mensch. Sprachliche Bedürfnisse haben nun an sich gar nichts mit dem Bedürfnis nach Sicherheit zu tun, sondern mit Geltungsansprüchen, die in der sprachlichen Kommunikation gegenseitig eingelöst werden müssen, damit sie überhaupt gelingen kann. Wenn ich eine Äußerung tätige oder höre, muss ich erwarten können, dass spezifische Voraussetzungen gültig sind und von meinem Kommunikationspartner eingehalten werden. Habermas (1976) hat hier drei Geltungsansprüche als universal herausgearbeitet:
1. Wahrheit: Ein Sachverhalt wird auf die objektive Welt bezogen. Wenn jemand sagt, dass es regnet, müssen er und ich unterstellen, dass es eben regnet.
2. Richtigkeit/Angemessenheit: Hier ist die Aussage auf die soziale Welt bezogen. Wenn jemand sagt, dass er sich entschuldigt, dann müssen er und ich davon ausgehen, dass sein Anspruch des Entschuldigt-werdens eingelöst werden kann, weil der Anspruch sozial legitim ist.
3. Wahrhaftigkeit: Die Aussage ist auf die subjektive Welt bezogen. Wenn jemand sagt, dass es ihm schlecht gehe, so müssen er und ich davon ausgehen, dass dieser Zustand in Hinblick auf seine Innenwelt stimmig ist.
Wenn ein einjähriges Kind dada sagt und in Richtung eines Bechers zeigt, können sich dahinter unterschiedliche Geltungsansprüche verbergen, es möchte sprachlich verstanden werden. Hinter der Äußerung dada kann also stehen:
1. Wahrheit: Ich sage dir, dass dort ein Becher steht. Bestätige mir meinen Anspruch.
2. Richtigkeit/Angemessenheit: Wenn ich dich um den Becher bitte, gibst du ihn mir. Bestätige mir meinen Anspruch.
3. Wahrhaftigkeit: Wenn ich dir sage, dass ich wirklich Durst habe und dies unangenehm ist, berücksichtigst du das. Bestätige mir meinen Anspruch.
Wie bei affektiven Signalen die Feinfühligkeit der Bezugspersonen gefragt ist, so ist m.E. bei sprachlichen Äußerungen Mitverstehen verlangt (hierbei ist nicht die rhetorische Figur gemeint; man könnte auch Symverstehen – gemeinsames Verstehen sagen). Mitverstehen ist nicht bloßes Zuordnen von Geltungsansprüchen, sondern der intensive Versuch, ein gemeinsames Verstehen durch Nachvollzug zu erreichen. Durch dieses wird auf lange Sicht eine gegenseitige Abstimmung auf sprachliche Geltungsansprüche gewährleistet.
Auch dieser sprachliche Abstimmungsprozess kann misslingen, weil Bezugspersonen nicht (angemessen) auf die Geltungsansprüche des Kindes reagieren. Und dies auch, wenn eine bindungsorientierte Eingewöhnung stattfindet. Hierzu ein Beispiel:
Erzieherin Berta hat die 14 Monate alte Samira auf dem Schoß. Samira sagt wiederholt „taht“, was im Arabischen „runter“ bedeutet. Berta geht gar nicht auf Samiras Äußerung ein, weil sie weiß, dass die Familie mit Samira kein Deutsch spricht. Erst als Samira sich heftig nach unten beugt, lässt Berta Samira auf den Boden gleiten.
Von der Erzieherin im Beispiel kann nicht verlangt werden, arabische Wörter zu kennen oder zu lernen. Dadurch aber, dass der Sprache des Kindes überhaupt keine Geltung eingeräumt wird, verlegt sich das Kind auf eine nonverbale Art und Weise des Ausdrucks. Wird hier zusätzlich keine Unterstützung gegeben, benötigte deutsche Wörter zu erwerben, kann über die Zeit diese Form des nonverbalen Bedürfnisausdrucks dominant werden. Zusätzlich beginnt hierdurch eine Dynamik in Bezug auf die Bindung. Das Kind wird frustriert, weil ihre sprachlichen Geltungsansprüche nicht berücksichtigt werden und zeigt aus dieser Frustration heraus heftigere affektive Reaktionen als andere Kinder, welche die Erzieherin nicht nachvollziehen kann. Kurzum: Da der sprachliche Geltungsanspruch keine Rolle spielte, wird nun auch die Bindung brüchig und ein Machtkampf entsteht (Habermas 1987) unterscheidet die Handlungskoordination über Macht und Geltung als sich ausschließende Optionen).
Aus all diesen Überlegungen erscheint zweierlei sinnvoll. Zum einen muss das Sprachsystem und mit diesem die Geltungsansprüche parallel zum Bindungssystem gedacht werden und nicht im Sinne der Domino-Vorstellung nachgeschaltet (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Verschiedene Eingewöhnungsvorstellungen.
Die beiden Systeme wirken aufeinander ein und können sich so befördern oder ausbremsen.
In Bezug auf Sprache sagt Habermas:
„Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt.“ (Habermas 1968)
Bindung ohne Geltung/Mündigkeit ist demnach nur Wohlfühlkollektivität so wie Geltung/Mündigkeit ohne Bindung einen asozialen Individualismus befördert. Hierauf aufbauend gilt es nun zum anderen die Parallelitätsvorstellung in eine genuin sprachliche Eingewöhnung einmünden zu lassen und die Bindungsorientierung durch eine sprachliche Orientierung zu ergänzen und strukturell zu verankern.
Bausteine sprachlicher Eingewöhnung
Greifen wir noch einmal Heideggers Bild auf, dass Sprache das Haus des Seins sei. Hier anknüpfend machen wir uns kurz bewusst, was einen guten Gastgeber eines solchen Hauses ausmachen sollte. Dieser wird sagen, dass man sich wie zuhause fühlen solle und damit dieses auch funktionieren kann, eine Führung machen und die wichtigsten Dinge, die zu beachten sind, genau und ausführlich erläutern. Nicht aber wird er uns zur Unmündigkeit ermutigen dadurch, dass wir immer in seiner Nähe bleiben und beständig bei ihm nachfragen müssen. Gemäß dieser Darstellung soll es bei sprachlicher Eingewöhnung darum gehen, dass sich Kinder sprachlich zuhause fühlen. Deshalb müssen wir Wert darauf legen, dass Sprache immer relevant ist und wir für diese responsiv bleiben. Sind die Eltern vor Ort, fragen wir nach, welche Wörter dem Kind wichtig sind und holen uns Feedback für die Äußerungen der Kinder. Zudem implementieren wir in die Eingewöhnungsphase die Verwendung verschiedener Medien, so dass über diese der Fokus auf Sprache auch strukturell verankert ist. Ein erster wichtiger Begleiter für die erste Zeit wäre z.B. das sprachliche Eingewöhnungsbuch.
Das Eingewöhnungsbuch – Semantische Felder als Orientierungskarte
Eltern und Kind bekommen von der Einrichtung das sogenannte Eingewöhnungsbuch, welches auch in der Einrichtung vorhanden ist (es kann auch ein einfacher Ringordner mit Ausdrucken auf festem Karton sein). In diesem Buch finden sich Bilder vom Team und von der Einrichtung mit all ihren Räumen und Gegenständen. Durch das Buch wird die räumliche Distanz des Eingewöhnungsprozesses durchbrochen – das Kind kann, wenn es möchte, auch zuhause durch die Betrachtung die Einrichtung und das Personal weiter verinnerlichen und versprachlichen. Die Bilder der Einrichtung und deutsche Bezeichnungen sind in dem Buch obligatorisch. Es sollten aber unter den Bildern Felder für die Bezeichnungen in der jeweiligen Muttersprache offen sein, so dass die Eltern mit den Kindern zusammen auch die Namen in dieser Sprache eintragen können. Zudem können weitere Bilder eingefügt werden, wenn sich besondere Situationen in der ersten Zeit ergeben, die dem Kind wichtig sind (z.B. die Begegnung mit Tieren etc.). Die Gliederung des Buches sollte sich an semantischen Feldern orientieren. Die Erzieher/innen bilden ein semantisches Feld, wie auch z.B. unser Spielzeug, unsere Möbel, unsere Küche, unsere Kleidung usw. semantische Felder bilden. Durch die Bedeutungsnähe sind Wörter für die Kinder besser erlernbar, da dies auch der Form entspricht, wie unser mentales Lexikon (unsere abgespeicherten Wortformen) organisiert ist (vgl. Aitchison 1997).
Im Alltag sollten alle relevanten Dinge von den Erzieher/innen mit Zeigegeste in Szenen der gemeinsamen Aufmerksamkeit benannt werden (vgl. Tomasello 2006), damit für die Kinder eindeutig ist, was genau benannt wird. Mit Hilfe des sprachlichen Eingewöhnungsbuches kann das Kind anschließend selbst durch Zeigegesten erfragen, wie etwas heißt und erhält damit die notwendige Selbstmächtigkeit über seinen Spracherwerb.
Eingewöhnungsbegleiter – Wie Monster sprechen lernen
Übergangsobjekte kommen von zuhause und helfen, in der Einrichtung anzukommen und die Trennung von den Eltern zu bewerkstelligen. Eingewöhnungsbegleiter, so die Idee, kommen aus der Einrichtung und sollen bei dem Gefühl unterstützen, dass immer schon jemand auf die Kinder wartet und mit ihnen zusammen die vielen Ankommenserfahrungen durchlebt. Dieser Begleiter kann ein lustiges Monster, ein Außerirdischer, ein Tier oder sonstiges sein. Diese Begleiter müssen sich auch erst in der Einrichtung zurechtfinden und die vielen Wörter lernen, die es im Alltag gibt. Im Stuhlkreis bringen so die Erzieher/innen mit den Kindern zusammen den Eingewöhnungsbegleitern bei, wie wichtige Dinge benannt werden, singen den Eingewöhnungsbegleitern Lieder mit wiederkehrenden Sprachformaten vor und zeigen ihnen Bilderbücher (die Benennung kann eventuell mit prosodischen Markierungen wie im KonLab-Ansatz erfolgen, vgl. Penner et al. 2006). Wichtig ist, dass wir hierdurch an die Phantasie der Kinder anknüpfen, sie immens motivieren und dabei dennoch vermeiden, bei ihnen den Eindruck zu erwecken, dass es um ihren sprachlichen Erwerb ginge (was ein Problembewusstsein befördern könnte). So nehmen sie on the fly wichtige sprachliche Informationen auf und erleben dadurch, dass sie den Eingewöhnungsbegleitern zusammen mit den Erzieher/innen Sprache beibringen, auch die Geltung ihres eigenen Sprachgebrauchs.
Die Eingewöhnungsraupe
In der Gruppe wird für jedes Eingewöhnungskind ein großes Plakat aufgehängt, auf dem viele große Kreise eine lustige Raupe bilden. Die Kreise können mit Kreppband flexibel abgenommen werden. Pro Eingewöhnungstag (ab dem das Kind bereit ist) kann so ein Kreis individuell bemalt und beklebt werden, bis die Eingewöhnung beendet und die Raupe „vollgefressen“ ist und alle Tage verdaut werden können (dann kann die Raupe vom Kind mit nach Hause genommen werden). Diese Ritualisierung von bildlicher Gestaltung bietet eigene Sprachanlässe für Äußerungen und stellt eine weitere Möglichkeit dar, mit dem Kind gezielten Sprachaustausch zu haben. Erste Worte können so im wiederkehrenden Kontext mit einem Eins-zu-eins-Setting erworben werden, wie z.B. Papier, Stift, geben, nehmen, sitzen, essen usw. Ermutigen Sie das Kind auch dazu, sein Bild zu kommentieren, wenn es dazu in der Lage ist und es möchte und versuchen Sie hierbei das Gesagte, so gut wie es Ihnen ebengelingt, nachzuvollziehen. Hierdurch erfährt das Kind weitere Wertschätzung seiner sprachlichen Geltungsansprüche.
Zusammenfassung und Ausblick
Kinder haben nicht nur Bindungsbedürfnisse, sondern durch ihr angeborenes Sprachvermögen auch die Berechtigung, sprachliche Geltungsbedürfnisse erfüllt zu bekommen. In bisherigen Eingewöhnungsmodellen wurde dem Bindungssystem ausdrücklich Rechnung getragen, während sprachliche Kommunikation nur als Beiwerk gelten durfte. Dass hiermit allerdings (mindestens zur Hälfte) an der Conditio humana vorbei eingewöhnt wurde, stellte den Ausgangspunkt vorliegender Überlegungen dar. Unabhängig davon, ob man die praktischen Vorschläge in den Alltag übernehmen möchte, ist es hier ein Anliegen, das oben genannte Mitverstehen bzw. Symverstehen gleichberechtigt zum Konzept der Feinfühligkeit zu etablieren. Auf die Gefahren der Wohlfühlkollektivität wurde verwiesen: Zu einer wirklichen Demokratie gehört mehr, als sichere Bindungen eingehen zu können und sich nach dieser Maßgabe in einem neuen Familismus behaglich einzurichten. D.h., die demokratische Konsensbereitschaft in der Anerkennung gegenseitiger Geltungsansprüche muss auf den pädagogischen Radar und endlich frühzeitig strukturell implementiert werden. Erst dann muss man nicht mehr mit Goethe sagen:
„Welch ein früh wissendes und spät übendes Geschöpf ist doch der Mensch!“
Literatur
Aitchinson, J. (1997). Wörter im Kopf. Eine Einführung in das mentale Lexikon. De Gruyter.
Habermas, J. (1968). Technik und Wissenschaft als Ideologie. Suhrkamp.
Habermas, J. (1976). Was heißt Universalpragmatik? In: Apel, K.-O. (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Suhrkamp, S. 353–440.
Habermas, J. (1987). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 4., durchges. Auflage. Suhrkamp.
Heidegger, M. (2000). Über den Humanismus. Klostermann.
Moon, C., Cooper, R. P. & Fifer, W. P. (1993) Two-Day-Olds Prefer Their Native Language. Infant Behavior and Development 16, S. 495-500.
Moon, C., Lagercrantz, H. & Kuhl, K. P. (2013). Language experienced in utero affects vowel perception after birth: a two-country study. Acta Paediatr. 2013 Feb; 102(2), S. 156–160.
Penner, Z., Fischer, A. & Krugel, Ch. (2006). Von der Silbe zum Wort. Bildungsverlag EINS.
Thielke & Udell (2019). Evaluating Cognitive and Behavioral Outcomes in Conjunction with the Secure Base Effect for Dogs in Shelter and Foster Environments. Animals 9 (11), S. 932.
Tomasello, M. (2006). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Suhrkamp.
Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. Francke.
Internetquellen
Bauer, M., Klamer, K. & Veit, M. (2009). "So gelingt der Start in die Kita!" - Bindungsorientierte Eingewöhnung. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/gestaltung-von-uebergaengen/uebergangvon-der-familie-in-die-tagesbetreuung/so-gelingt-der-start-in-die-kita (abgerufen: 13. Oktober 2021, 11:30 UTC)
Kusma, S. (2019, 24. September): Katzen zeigen ihren Bezugspersonen gegenüber die gleichen Bindungsstile wie Kinder. https://www.nzz.ch/wissenschaft/katzen-bindung-an-bezugsperson-aehnlich-wie-bei-hundenld.1510668 (abgerufen: 13. Oktober 2021, 11:30 UTC)
Stegmaier, S. (2008). Grundlagen der Bindungstheorie. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/1722 (abgerufen: 13. Oktober 2021, 11:30 UTC)