So früh schon in den Kindergarten? Eltern, Kinder und Erzieher/innen im Spannungsfeld von Unsicherheit und Angst

Aus: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, TPS 7/2006

Gertrud Ennulat

Im Umfeld von Kindern, die vor dem dritten Lebensjahr in den Kindergarten kommen, taucht oft die Frage auf: Ist das nicht zu früh? Dadurch fühlen sich vor allem die Mütter verunsichert. Offensichtlich braucht es ein gehöriges Maß an Stehvermögen, um die großen Veränderungen, die im Bereich der Bildungsarbeit mit kleinen Kindern im Gange sind, zu akzeptieren. Das gilt für Väter und Mütter ebenso wie für die Erzieher/innen.

Für alle geht es darum, bisheriges Denken über Frühbetreuung zu überprüfen und sich von Vorurteilen frei zu machen. Es ist ja noch nicht lange her, dass die Arbeit der Krippen in der ehemaligen DDR von den westlichen Bundesländern verteufelt wurde. Ein Staat, der Müttern zumutete, ihre Kinder frühmorgens in der Krippe abzugeben, entsprach nicht dem hehren Ideal der guten Mutter. Doch die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels kümmert das nicht.

Umbruchzeiten sind gekennzeichnet durch ambivalente Kräfte, die ins Neue treiben und zugleich Bisheriges bewahren wollen. Ins Spannungsfeld dieser Kräfte gerät jeder, der sich mit Bildung und Betreuung im frühen Alter auseinandersetzt. Dabei tauchen in der Diskussion emotional stark aufgeladene Reizwörter auf; schließlich drückt Sprache Denkweisen und Gefühle aus. Müttern wird der Vorwurf gemacht, sie würden ihr Kind abgeben. Unausgesprochen heißt das, sie geben ihr Kind als einen Teil von sich her, verlassen es, lassen es im Stich. Schuldgefühle beim Übergang in eine Kita sind deshalb ein typisch deutsches Phänomen.

Doch Mütter und Väter sollten sich nicht als Rabeneltern titulieren lassen! Eigentlich tun sie etwas ganz Natürliches, wenn sie einen Teil ihrer mütterlichen/ väterlichen Funktionen an Personen abgeben, die für diese Übernahme qualifiziert sind. Dem Verzicht auf die alleinige Verantwortung für das Kind steht der Gewinn an Freiheit und beruflicher Kompetenz gegenüber. Warum aber spürt die zur Arbeit fahrende Mutter einen Schmerz beim Anblick von Müttern, die ihre Kinder spazieren fahren? Ihr wird in dieser Situation bewusst, dass sie vielleicht nicht dabei ist, wenn ihr Kind weint, sie ihm nicht beistehen kann, wenn es traurig nach ihr ruft. Im Laufe des Arbeitstages verändert sich zwar ihre Stimmung, doch in den sensiblen Wochen des Übergangs kann sich diese Eintrübung wiederholen. Dies gehört als natürlicher Bestandteil zu den Erfahrungen von Abschiednehmen und Verlust, die Mutter, Vater und Kind, jeder auf seine Weise, durchleben.

Abschiednehmen vom bisherigen Lebenszuschnitt

Die natürliche Antwort auf Verlust heißt Trauer. Sie drückt das Lebensgefühl nach unten, ist selten gerne gesehen; doch hilft diese Emotion, einen Verlust zu überwachsen. Mütter, Väter und Kinder erleben den Übertritt in die Kita als einen gravierenden Einschnitt ihres Lebens. Der bisherige Rhythmus des Alltags verändert sich, und der Aktionsradius des Kindes wird größer. Ängste und Unsicherheiten melden sich, denn für einige Zeit sind Erwachsene und Kinder Pioniere in einem neuen Land.

Bei allen Übergängen gibt es Turbulenzen im emotionalen System. Wer dies als natürlich und gegeben nimmt, nicht meint, sich am Riemen reißen zu müssen, der hat es schon fast geschafft. An manchen Tagen steigen nicht nur beim Kind Tränen auf und weisen darauf hin, dass der Verarbeitungsprozess im Gange ist.

Warum sich nicht nüchtern eingestehen, dass mancher nicht enden wollende Tag mit dem Kind zuhause kein Zuckerschlecken war? Es ist gut, die sehnsuchtsvollen Blicke auf Frauen, die im Berufsleben stehen, nicht so schnell zu vergessen. Ich habe es mir doch so gewünscht, endlich wieder in meinem Arbeitsbereich tätig sein. Nun ist es so weit!

Im Blickfeld der Anderen

Es dauert seine Zeit, bis der Besuch der Kita selbstverständlich geworden ist. Anfangs überwiegt ein Gefühl der Fremdheit. Ein heimlicher Blick auf den Vater, der sein Kind gebracht hat. Ein heimlicher Blick auf die Begleitperson eines anderen Kindes. Ein heimlicher Blick auf die Erzieherin als Fachfrau. Unweigerlich werden Vergleiche gezogen. Auf einmal wird klar, das Kind ist zwar erst ein Jahr alt, doch durch den Übertritt in eine öffentliche Einrichtung gerät es in den Blickpunkt der Anderen. Das Kind quengelt, klammert sich an den Erwachsenen, dem ist das sehr unangenehm. Doch dieses Gefühl gehört zur gesunden Scham im sozialen Interaktionsfeld.

Scham-Angst entsteht, weil es Müttern und Vätern nicht gleichgültig ist, wie ihr Kind von anderen angeschaut wird und wie es im Vergleich mit anderen dasteht. Plötzlich sehen sie es im Kontext anderer Kinder und entdecken Unterschiede. Was die schon alles können! Was mein Kind noch nicht kann! Durch die Scham wird das bisherige Bild, das ich mir von meinem Kind gemacht habe, korrigiert. Es krabbelt nicht freudestrahlend auf die Erzieherin zu, sondern bleibt auf dem Boden sitzen und nuckelt am Daumen. Doch wer die Unterscheidungsmerkmale seines Kindes nicht als Mängel versteht, der spürt, wie das beklemmende Schamgefühl weicht. Das Kind sollte innerhalb seiner Grenzen akzeptiert werden, zumal es in wenigen Tagen schon wieder etwas Neues gelernt und seine Grenzen ausgeweitet hat. Was ihm heute nicht gelingt, schafft es vielleicht in ein paar Tagen.

Wer auf diese Weise die Individualität seines Kindes achtet, stärkt seine Identität als Mutter oder Vater. Da im Regelkreis der Emotionen alle miteinander kommunizieren, profitiert vor allem das Kind davon. Es spürt genau, wo Mama oder Papa innerlich stehen. Ob ein Kind sich auf das neue Arrangement der Betreuung einlassen kann, hängt deshalb sehr stark von der Haltung der Erwachsenen ab.

Verlust- und Trennungsängste

Bereits ab dem zweiten Monat zeigen Kinder Anzeichen von Stress, wenn die wichtige Bezugsperson verschwindet und eine andere Person erscheint. Ab dem achten Monat äußert sich diese Angst eindeutiger. Taucht ein fremdes Gesicht neben dem vertrauten auf, wechselt der Blick des Kindes ständig zwischen beiden hin und her. Es unterscheidet zwischen fremd und vertraut, fängt vielleicht zu weinen an und wendet sich dann ausschließlich der Mutter/ dem Vater zu. Mit dieser Rückversicherung hält es die aufsteigende Angst vor dem Fremden in Schach und beruhigt sich wieder. Der Prozess der gegenseitigen Abstimmung zwischen Kind und vertrauter Person kann nun wieder ungestört verlaufen.

Die Wiederkehr des Gewohnten gibt Sicherheit. Im ständigen Kommunizieren vergleicht das Kind seine Empfindungen mit dem Erwachsenen. Beide stimmen sich auf einander ein, stimmen sich gegenseitig ab. Sobald dieses Programm der inneren Abstimmung in Gang kommt, gewinnt ein Kind Vertrauen und Sicherheit. Neugierig wagt es sich in den Raum, beobachtet andere Kinder, nähert sich, macht nach, was andere machen, und wird bei diesem Tun vom aufmerksamen Blick der Erzieherin begleitet und erfährt diese als verlässlich und gut.

Kinder sind soziale Wesen und angewiesen auf einfühlsame Begleitung durch Erwachsene. Gleichzeitig erleben sie sich als Teil einer Halt und Struktur gebenden Kindergruppe. Auch die Jungen und Mädchen unter drei Jahren orientieren sich aneinander, haben Vorbilder, lernen am liebsten von anderen Kindern, schwingen sich aufeinander ein, sitzen nebeneinander auf dem Töpfchen, sitzen nebeneinander im Morgenkreis, freuen sich auf Himpelchen und Pimpelchen, auf die vertrauten Reime und Lieder. Wenn Kinder sich in der Gruppe sicher und gehalten wissen, sind sie emotional verankert, und ihr individuelles Lernprogramm kann sich entfalten. Die Energie der Gruppe sorgt dafür, dass alle miteinander im Fluss sind. Das tut auch den Erzieher/innen gut!

Trennungen sind schmerzhaft und können bei kleinen Kindern wütenden Protest oder heftiges Schluchzen hervorrufen, aber auch wortlosen Rückzug mit traurig gesenktem Kopf. Im Umgang mit Trennungsängsten helfen am besten Rituale. Sie bilden die Brücke an den Schnittstellen des Alltags, wo es von einem Bereich in einen anderen geht und Abschiednehmen nicht zu vermeiden ist. Jeder Morgen in der Kita folgt demselben Ablauf: Die Mutter/ der Vater zieht ihr/ sein Kind um; die Straßenkleidung kommt an den Haken, der sensible Vorgang der Trennung ist im Gang. Der Erwachsene und das Kind fangen an, sich voneinander zu lösen. Noch einmal ganz feste miteinander knuddeln, noch zwei Bilderbücher gemeinsam anschauen, dann aber geht der Papa endgültig. Erst jetzt taucht die Erzieherin auf, nimmt das Kind auf den Arm, stellt sich ans Fenster, andere Kinder kommen dazu, und alle winken dem Papa. Irgendwann stellt der Vater erstaunt fest, sein Kind dreht sich nach dem Verabschieden gar nicht mehr nach ihm um. Es hat den Übergang geschafft und weiß nun, mein neues Terrain ist so sicher, dass ich dort ohne Mama und Papa sein kann.

Am Ende des Vormittag tauchen die Eltern wieder auf. Manche Kinder sind müde, quengelig, weinen, sind bockig, wollen sich nicht anziehen lassen. Nicht jedes Kind rennt freudestrahlend auf die Mama/ den Papa zu, braucht etwas Zeit für die Umstellung. Doch sobald alle Kleidungsstücke am Kind sind, legt sich seine Erregung, denn der intensive Kontakt mit dem vertrauten Körper des Erwachsenen beruhigt.

Die Erzieherin

Auch sie bewegt sich im Spannungsfeld von Unsicherheit und Angst und muss täglich die Grenzen ihrer Qualifikation erweitern. Da nur wenige Kinder ihre Bedürfnisse verbal eindeutig äußern können, dominiert der Dialog durch Blicke, Gesten, eine lebhafte Mimik, wortloses Verstehen. Wichtig ist ihre körperliche und psychische Präsenz, authentisch sein im Hier und Jetzt. Aufmerksam verfolgt sie das Geschehen in der Gruppe der Kinder, ist bereit, ein Kind auf den Schoß zu nehmen, wenn es das braucht.

Die Erzieherin ist im ständigen Austausch mit den Kindern; sie nimmt Störungen wahr, wartet ab, was sich entwickelt, staunt täglich neu über die Entwicklungsprozesse dieser kleinen Individualisten, achtet auf die konsequente Einhaltung der Rituale, weiß, wie schnell manches Kind orientierungslos wird, wenn es nicht gehört hat, von wem es heute abgeholt wird, sorgt für einen guten Rhythmus, sorgt für die körperliche Sauberkeit, damit kein Kind zum "Stinker" in der Gruppe wird.

Das tägliche Programm gliedert den Vormittag und gibt Raum für den individuellen Kontakt mit jedem Kind. Zärtlich miteinander umgehen, Tränen aushalten, denn das traurige Gefühl verändert sich meist dann, wenn der Erwachsene das weinende Kind wahrnimmt und Mitgefühl ausdrückt. Wer ablenkt, nimmt das Kind in seiner Befindlichkeit nicht ernst und vergisst, dass Weinen eine Form der Selbstregulation ist - und meist besser als stundenlanges Gequengel. Über das Weinen findet das Kind aus der inneren Anspannung heraus und balanciert sich neu aus.

In England wird die Erzieherin als wichtige Bezugsperson key person genannt. Sie spielt eine Schlüsselrolle im Leben des Kindes und hat einen besonderen Einfluss auf seine Entwicklung und sein Wohlergehen. Es erlebt sich in dieser tragfähigen Beziehung geliebt und willkommen und erschließt sich seine Welt, angeregt durch sein inneres Programm und eine immer wieder neu stimulierende Umgebung. Meine Gespräche mit Erzieherinnen und Nurses zeigen sehr klar: Die Arbeit mit Kindern unter drei Jahren ist eine pädagogisch sehr reizvolle Herausforderung!

Anmerkung

Ich danke dem Kindergarten St. Nikolaus in Freiburg und der Asquith Nursery Elizabeth Terrace in Eltham, London (SE9 5DR) für Gespräche und Hospitation.

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