Ralph Christian Amthor
Der Beruf der "Erzieherin" zielt primär auf die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen: Erzieherinnen sollen zur Unterstützung, Ergänzung oder aber auch als Ersatz der elterlichen Erziehung Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung fördern. Nach Derschau (2002) ist es die allgemeine Aufgabe dieses sozialen Berufes, "...Kinder und Jugendlichen zu Selbsterfahrung und Selbstvertrauen, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu führen, zu gemeinschaftlichem und sozialverantwortlichem Verhalten anzuhalten, ihre Entscheidungsfreudigkeit, ihre Lernbereitschaft und ihr kritisches Urteilsvermögen zu stärken und sie zu geistiger Beweglichkeit und schöpferischem Tun anzuregen" (S. 279).
Während die Berufsbezeichnung "Erzieherin" in der Öffentlichkeit eng mit dem Bild einer beruflichen Tätigkeit im Elementarbereich, hier insbesondere im Kindergarten, verbunden ist, wird nicht zuletzt auch in Fachkreisen oft übersehen, dass hierzu ebenfalls die Arbeit in Horten, in Einrichtungen der Jugendarbeit sowie in Kinder- und Erziehungsheimen, Wohngemeinschaften, Internaten und anderen stationäre Hilfen zählt. Gerade aber der stationäre Bereich, das Arbeiten in der Heimerziehung, ist - geschichtlich gesehen - eine wesentliche Wurzel des heutigen Erzieherberufes.
Zur Geschichte der Heimerzieherschulen
Betrachten wir die Berufsgeschichte der Erzieher, so kommen wir an einem besonderen Datum nicht vorbei: Im Jahr 1967 beschloss die Kultusministerkonferenz der Länder eine "Rahmenvereinbarung über die Sozialpädagogischen Ausbildungsstätten", in deren Folge es in den einzelnen Bundesländern bis Anfang der siebziger Jahre zu neuen Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen und damit zu einer bundesweiten Neuordnung kam. Fortan gab es eine dreijährige Ausbildung an "Fachschulen für Sozialpädagogik" und die Berufsbezeichnung "staatlich anerkannte Erzieherin"/ "staatlich anerkannter Erzieher". Neu war zudem, dass die Ausbildung die bis dahin getrennten Aufbildungswege für die Arbeitsfelder Kindergarten, Hort, Heim und Jugendarbeit vereinheitlichte.
Obwohl viele Ausbildungsstätten noch lange Zeit traditionell deutliche Akzente im vorschulischen Bereich setzten, gab es nun keine gesonderten Ausbildungsstätten für "Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen" mehr, und auch die seit vielen Jahrzehnten bestehenden Heimerzieherschulen wurden in die neugebildeten Fachschulen integriert. Während jedoch die Geschichte der Erzieherin oftmals mit der Geschichte der Berufsausbildung für den Vorschulbereich gleichgesetzt wird, gerät die Tradition der Heimerzieher zunehmend in Vergessenheit.
Nachgewiesen werden kann diesbezüglich, dass es bereits zwischen den Jahren 1919 und 1933 im breiten Umfang zur Gründung von Heimerzieherschulen insbesondere konfessioneller Träger kam, in denen Männer und Frauen ausgebildet wurden. Im Nationalsozialismus fanden diese Schulen ein unterschiedliches Schicksal: Während viele Heimerzieherschulen - wie im Übrigen auch die Seminare für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen - nationalsozialistische Inhalte in die Berufsausbildung übernahmen, kam es auch zur Schließung von Schulen, und damit insgesamt betrachtet zur Unterbrechung der weiteren positiven Entwicklung des Heimerzieherberufes. Erst nach 1945 konnte die Entwicklung der Heimerzieherschulen, vor allem durch den großen Bedarf an Personal in diesem Arbeitsfeld, weiterverfolgt werden (1).
Die Geschichte der Heimerzieherschulen lässt sich indessen mit dem Wirken des evangelischen Pädagogen Johann Hinrich Wichern (1808 - 1881) noch weiter bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen: War die Ausbildung für den Vorschulbereich traditionell ausschließlich auf Frauen ausgerichtet, so begründete Wichern um das Jahr 1836, und damit etwa zeitgleich mit dem Beginn der Ausbildung von "Kleinkinderlehrerinnen" durch den Theologen Theodor Fliedner (1800 - 1864), und sogar noch einige Jahre bevor Friedrich Fröbel (1782 - 1852) die ersten Kindergärtnerinnen ausbildete, mit einem so genannten "Gehilfeninstitut" bei Hamburg eine umfangreiche berufliche Ausbildung für Männer, die sie auf eine Tätigkeit als "Hausväter" oder "Gehilfen" in den damaligen Rettungsanstalten der Inneren Mission vorbereiten wollte. Wichern, der große "Pionier der Jugendfürsorge, Gründer des Rauhen Haus bei Hamburg, Initiator der Inneren Mission" (Maier 1998), war zu diesem Zeitpunkt gerade 28 Jahre alt und hatte wenige Jahre zuvor in einem kleinen baufälligen Haus damit begonnen, zwölf Jungen im Alter von 5 bis 18 Jahren zu erziehen. Im Vergleich zu den ersten Ausbildungsversuchen in der Kleinkindererziehung und auch aus der heutigen Perspektive erstaunt es schon außerordentlich, was Wichern in Hamburg aufbaute und leistete.
Die Begründung eines neuen Berufsstandes durch Wichern
Im Jahr 1868, und damit 32 Jahre nach dem Beginn der Ausbildung im Hamburg, problematisierte Johann Hinrich Wichern in seiner Schrift "Rettungsanstalten als Erziehungshäuser in Deutschland" die beträchtlichen Schwierigkeiten bei der Gewinnung geeigneten Personals für die als Rettungshäuser bezeichneten Erziehungsheime: "Die nächste und in der Tat natürlichste Erledigung schien und scheint sich zu ergeben, wenn der Stand der öffentlichen Lehrer dabei ins Auge gefaßt wird, wenn also die Lehrerseminare und Präparandenanstalten als die Pflanzschulen für derartige Hausväter und Gehilfen angesehen werden. Allein, gegen diesen Ausweg steigen auch sofort die erheblichsten Bedenken auf ... Statt einer, wenn auch bis dahin gewöhnlich, jedoch keineswegs allerorten kümmerliche, aber doch sicheren und vom Staat garantierten, mit der Aussicht auf Verbesserung ausgestatteten Existenz, die mit Pensionsberechtigung verbunden ist, kann ihnen die Verwaltung einer ins Leben tretenden Rettungsanstalt bei deren Armut entweder so gut wie nichts oder doch jedenfalls nur sehr Unsicheres bieten" (1975, Band 7, S. 452).
Wichern formulierte neben der Gehaltsfrage noch weitere Bedenken: "Der Hausvaterberuf ist ein vollständig andrer als der eines Lehrers. Der Hausvater muß zunächst auch Lehrer sein, allein außerdem werden von ihm noch ganz andre, dem Lehrer als solchem ganz fremde Leistungen gefordert, nämlich die Seelenführung der einzelnen Kinder und die Gabe, ein derartiges größeres Hauswesen auch geschäftlich und in Beziehung auf den Handarbeitsbetrieb leiten zu können" (a.a.O., S. 453). Neben der Frage, ob sich die Ehefrau eines Lehrers zugleich als Hausmutter eignen könnte, ging Wichern auf das Fehlen der christlichen Ausrichtung, des "Missionsgeistes" ein, die er als grundlegende Voraussetzung für ein Rettungshaus formulierte.
Als völlig ungeeignet erschien ihm der Lehrerstand für das Amt eines Gehilfen: "Jüngere, aber bereits examinierte Lehrer treten höchstens vielleicht als sogenannte Lehrgehilfen ein, aber geben sich bei dem traurigen Vorurteil gegen den Adel der Arbeit, vollends der Handarbeit, nicht zu Arbeitsgehilfen her, auch fehlt ihnen die zur Arbeitsbeaufsichtigung unerläßliche technische Fertigkeit und Autorität. Wo sollten sie diese auch erlangt haben?" (a.a.O., S. 454). Diese Einwände führten schließlich zu einer grundsätzlichen Frage: "Allein aus was für einen Grund soll die Auswahl sich auf den eigentlichen Lehrerstand beschränken? Vielmehr ist der Wunsch vollkommen gerechtfertigt, auch außerhalb des Lehrerstandes derartige Arbeitskräfte für das Hausvateramt zur Verfügung zu haben. - Aber wo wären dieselben zu finden?" (a.a.O., S. 453).
Wichern selbst sah als einzigen möglichen Ausweg, der großen Nachfrage nach Hausvätern und Gehilfen in Rettungshäusern beizukommen, in der Gründung einer eigenen Bildungsanstalt, die "Ziele und Zwecke für derartige Anstalten und verwandte Unternehmungen der inneren Mission ausschließlich ins Auge faßt" (a.a.O., S. 455). Im Jahr 1868 konnte er bereits auf eine jahrzehntelange Ausbildungserfahrung zurückblicken, die er allein schon durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen unter Beweis stellte (2).
Die hohen Hürden zur Zulassung zur Ausbildung
1833 errichtete Wichern als Antwort auf die sozialen Missstände in Hamburg eine kleine, überschaubare Kinderanstalt, das so genannte "Rauhe Haus", welches rasch in den folgenden Jahren ausgebaut und erweitert wurde und aufgrund seiner Pädagogik und Organisation weit über Hamburg hinaus Beachtung und Anerkennung erfuhr. Charakteristisch war insbesondere das Prinzip der Familiengruppen, die pädagogische Wirkung von Unterricht, Schule und gemeinsamer Lebensweise der Erzieher mit den Kindern sowie eine christliche Erziehung.
Eine Ausbildung seiner Erzieher, die zunächst als "Gehilfen", später allgemein als "Brüder" bezeichnet wurden und die in einer ordensähnlichen Gemeinschaft, der so genannten "Brüderschaft" zusammenlebten, besaß von Beginn an einen hohen Stellenwert, konnte allerdings aufgrund des Widerstandes der Hamburger Behörden nicht sofort verwirklicht werden. Wurden anfangs die Mitarbeiter noch von Wichern selbst zur pädagogischen Arbeit angeleitet, so errichtete dieser schließlich ab etwa dem Jahr 1836 ein "Gehilfeninstitut", das er Anfang der vierziger Jahre in "Brüderinstitut" umbenannte und schrittweise ausbaute. Die Brüder wurden von Wichern selbst sowie von Theologen und Elementarlehrern, so genannte "Inspektoren" und "Oberhelfer", ausgebildet (vgl. Hauss 1995, S. 128ff.).
Wichern legte in den Jahren 1843 und 1844 erste Ausbildungsprogramme vor, in denen die praktischen und theoretischen Inhalte in einem 4-jährigen Kurs verwirklicht werden. Zu einer Zeit, in der die Berufsausbildung in der Vorschulerziehung bei Theodor Fliedner oder Friedrich Fröbel lediglich einige wenige Monate dauerte, setzte er nicht nur vom zeitlichen Umfang hohe Maßstäbe, sondern hatte von Anfang an zudem sehr hohe Erwartungen an die Bewerber:
- "Eine wahrhaft christliche Gesinnung und ein bis dahin unbescholtenen Lebenswandel. Über den letztern müssen Zeugnisse von glaubwürdigen Männern beigebracht werden.
- Der Besitz einiger Schulkenntnisse oder doch die Fähigkeit, dieselben leicht nachzuholen.
- Die Fertigkeit in irgend einem Handwerk oder im Landbau oder doch die Bereitwilligkeit, sich solche Fertigkeiten hier anzueignen.
- Zeugnisse von den Eltern, daß dieselben mit der Übernahme des neuen Berufs zufrieden sind.
- Eine kräftige Gesundheit.
- Die amtlichen Zeugnisse, daß der Beteiligte vom Militärdienst befreit ist, nebst Tauf- und Konfirmationsschein.
- Unbedingst Anerkennung des Gehorsams gegen die Hausordnung der Anstalt und der lautere Wille, sich in derselben nicht bloß für einen künftigen Beruf vorzubereiten, sondern während des Aufenthaltes in der Anstalt die Arbeit in derselben schon als einen gegenwärtigen Beruf für das Reich Gottes mit allem Ernst zu beschaffen. Der eintretende Zögling soll zugleich Gehilfe im Dienst des Rauhen Hauses sein.
- Der eingetretene Zögling kann die Anstalt ohne vorgängige vierteljährliche Kündigung, von Quartal zu Quartal gerechnet nicht wieder verlassen. ..." (Wichern 1958, Band 4/I, S. 220).
Damit richtete sich die Ausbildung im Rauhen Haus ausschließlich an Männer. Zwar arbeiteten daneben "Gehilfinnen", die auch "Schwestern" genannt wurden, in der Einrichtung mit, wurden dort insbesondere für die pädagogische Arbeit mit Mädchen eingesetzt und konnten später auch als Lehrerinnen in der Anstalt tätig werden. Die Bedeutung ihrer Arbeit unterschied sich allerdings grundsätzlich von derjenigen der Brüder, die sich auf "Aussendung" und Beruf vorbereiteten, während Frauen keine eigentliche Berufsausbildung absolvierten, sondern in einem unbefristeten und besoldeten Anstellungsverhältnis standen (3).
Die praktische Ausbildung im Rauhen Haus
Die Ausbildung bei Wichern war im Vergleich zu den gegenwärtigen Ausbildungsformen sozialer Berufe viel umfassender und bezog sich auf alle Lebensbereiche der Brüder. "Praxis und Theorie", so formuliert die Sozialpädagogin Gisela Hauss, "durchdrangen sich gegenseitig und bestimmten das Lernen und Arbeiten der Brüder im Rauhen Haus" (Hauss 1995, 146). Dabei sah Wichern das Leben, Lernen und Arbeiten der Brüder in der Einrichtung bereits als Vorwegnahme der künftigen Tätigkeit der Schüler: "Der künftige Beruf ist den Brüdern hier in die Gegenwart hereingerückt; das Werk, das sie vor dem Eintritt in die Anstalt vielleicht noch in weiter Ferne als hinter der Vorbereitungszeit liegend glaubten, sollen sie als unmittelbarste Aufgabe in der Anstalt selbst und darin die lebendige Vorbereitung für die Zukunft finden" (Wichern 1958, Band 4/I, S. 278).
Das Leben im Rauhen Haus war geprägt von praktischem Lernen, hier zum einen durch die handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit, der hoher erzieherischer und sittlicher Wert beigemessen wurde. Die bereits beruflich vorgebildeten Erzieher lernten voneinander und waren nach dem Austritt fähig, verschiedenste Tätigkeiten auszuführen: "Schon bei seinem Eintritt in die hiesige Anstalt ist er der Regel nach im Besitz mindestens Eines Handwerks oder Einer Handfertigkeit gewesen und hat sich während des hiesigen Aufenthaltes soviel Fertigkeit in den andern hier ausgeübten Geschäften erworben ... , daß er im Stande ist, darin die ihm übergebenen Kinder nützlich und mannigfach zu beschäftigen. Der eine Gehilfe wird nämlich in diesen Arbeiten immer der Lehrmeister des andern ..." (Wichern 1958, Band 4/I, S. 284) (4).
Die praktische Ausbildung differenzierte sich im Laufe der Jahre in unterschiedliche Ausbildungsstufen aus, in denen die Brüder zunehmend schwierigere Aufgaben zu bewältigen hatten, und deren Abfolge Wichern selbst als "anfänglich enge und dann immer weitere Arbeitsringe, in denen die Arbeit von der Gebundenheit zu einer immer größeren Geistigkeit fortschreitet", beschrieb (Wichern 1958, Band 4/I, S. 283). Anfangs hatte ein Bruder die Aufsicht der Kinder zwischen festgelegten Zeiten zu übernehmen, später durfte er in Arbeits- und Werkstattgruppen mitarbeiten und diese anschließend leiten. In der dritten Stufe war der Bruder verantwortlich für die Gestaltung der freien Zeit, um danach im vierten Aufgabenbereich den Familienvorsteher zu unterstützen und einzelne neu eingetretene Kinder zu betreuen. Als fünfte Aufgabe war die Leitung einer Familiengruppe vorgesehen, zu der auch der Elternkontakt und die Nachbetreuung von Jugendlichen nach ihrem Ausscheiden aus dem Rauhen Haus gehörte. In der letzten Phase durften die Schüler schließlich im Hinblick auf ihre Begabungen und spätere Arbeitsstellen inhaltliche Schwerpunkte setzen. Während der ganzen Ausbildungszeit musste der Bruder zudem ein "Journal", eine Art Tagebuch, führen, in dem er über den täglichen Umgang mit den Kindern berichtete; dieses wurde in den Wochenkonferenzen zu Beginn der Woche mit Wichern besprochen und reflektiert.
Das Ausbildungskonzept erlaubte es Wichern, die Fähigkeiten der Brüder zu erkennen und zukünftige berufliche Möglichkeiten einzuschätzen: "Familienvorsteher oder Lehrer oder Teilnehmer an der Verkündigung des göttlichen Wortes ... wird nicht ein Jeder, der doch ein vortrefflicher Führer einer Werkstatt und gewandt in allem Praktischen und gar tüchtig zur Assistenz in einer Familie ist; die Gabe zu regieren und zu verwalten hat nicht ein Jeder, während er aber umso größere Gnade haben kann, unter geschehener Anleitung mit großer Treue zum Heile Anderer zu dienen" (Wichern 1958, Band 4/I, S. 284). Hier deutet sich bereits an, dass Wichern Unterscheidungen vornahm hinsichtlich der unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten der Brüder, nämlich zwischen angehenden Hausvätern für die Leitung und den Unterricht und Gehilfen für die unterschiedlichsten Tätigkeiten in den Rettungsanstalten, beispielsweise für die Arbeitserziehung oder für die Erziehung in den Familiengruppen (5).
Die Bedeutung des theoretischen Unterrichts
Zu Beginn eher am Rande stehend gewann der theoretische Unterricht zunehmend mehr an Raum und Bedeutung: So erhielten die damals noch allgemein als Gehilfen bezeichneten Mitarbeiter bereits im Jahr 1837 wöchentlich 15 Unterrichtsstunden, die aber noch vereinzelt in den Tagesablauf eingepasst wurden, um so die notwendige praktische Arbeit der Gehilfen nicht zu unterbrechen. Mit dem Ausbau der Ausbildung in den folgenden Jahren wurde der Stoffplan nach und nach erweitert. Wichern legte 1843 in der "Nachricht über das Gehilfen-Institut" einen ersten und ein Jahr später in der Schrift "Notstände der protestantischen Kirche und die innere Mission" einen zweiten ausgearbeiteten Stoff- und Unterrichtsplan vor (6).
Für Wichern hatte damit die theoretische Wissensvermittlung neben der praktischen Ausbildung an Gewicht gewonnen: "Eine wahre, gesunde Praxis muß mit einer klaren Erkenntnis über das zu Leistende und den Zusammenhang desselben Hand in Hand gehen. Beide müssen einander nicht etwa nur zur Seite stehen, sondern so innig miteinander verwachsen, sich so allseitig durchdringen, wie Licht und Wärme im Sonnenstrahl; sie müssen die vorliegenden Zwecke in der Art gemeinschaftlich zu erreichen trachten, wie Auge und Hand zusammenwirken im täglichen Leben" (Wichern 1958, Band 4/I, S. 287).
Die theoretische Ausbildung nahm nun zwischen 22 bis 24 Stunden wöchentlich ein. In den 40er Jahren standen die theoretische und die praktische Ausbildung damit nahezu gleichwertig nebeneinander. Die Theorie sollte den Brüdern stufenweise vermittelt werden. Da die Vorbildung der Brüder sehr unterschiedlich war, sah die erste Stufe der Ausbildung den "Elementarunterricht" vor, d.h. Üben und Lernen in den Elementarfächern Lesen, Schreiben und Rechnen, des Weiteren Singen und Musizieren. Hierauf aufbauend folgte der "Sprach- und anderer allgemein bildender Unterricht" mit Deutsch, Englisch, Geographie und Geschichte. Auf der dritten Stufe wurde der "Besondere Unterricht in Beziehung auf die christliche Wahrheit" erteilt, in dem die Geschichte der heiligen Schrift und der Kirche, sowie die Auslegung einzelner biblischer Bücher im Mittelpunkt standen (7).
Mit diesem Ausbildungskonzept für das Amt des "Hausvaters" war der auf mehrere Jahre angelegte "Unterrichtskursus" aber zu jener Zeit immer noch mit den Funktionen eines Lehrers eng verbunden und wurde von diesen maßgeblich, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der Ausbildungszeit bestimmt. Hausväter in Rettungshäusern mussten in jedem Fall bei Wichern zugleich Elementarschullehrer sein, was auch von amtlicher Seite eingefordert wurde. So sah das preußische Kultusministerium das Bestehen eines staatlichen Lehrerexamens vor, das allerdings für die Berufspflichten der Hausväter modifiziert war und allein für den Unterricht in Rettungshäusern berechtigte (vgl. Amthor 2003, S. 145ff.).
Schwerpunkte in der theoretischen Berufsausbildung
Dennoch lassen sich bei Wichern mit andersförmigen theoretischen Ausbildungsinhalten Konturen eines neuen, nunmehr sozialen Berufes nachweisen, der sich deutlich abgrenzte von den zeitgenössischen Armenschullehrerausbildungen in der Nachfolge Johann Heinrich Pestalozzis, wie beispielsweise der "freywillige Armen-Schullehrer-Anstalt" in Beuggen des Christian Heinrich Zeller oder auf katholischer Seite von den verschiedenen Instituten für weibliche Orden und Kongregationen.
In einer abschließenden vierten Stufe führte Wichern nämlich in die Arbeitsbereiche der "Inneren Mission" ein, die er als den entscheidenden Teil der Ausbildung verstand: "Dieser Unterrichtszweig gehört uns zu den wichtigsten, indem er den Brüdern Licht über das Ganze der Bestrebungen, denen sie ihre Kräfte zu widmen bereit sind, erteilt und jede Beziehung der hiesigen Arbeit mit jeder Art des künftigen Berufs der Brüder in ein Ganzes zusammenfaßt und im Zusammenhang mit den christlichen und kirchlichen Leben darstellt. Er behandelt im Speziellen die Rettung der der innern Mission angehörenden Jugend ..., die Seelsorge unter armen, verkommenen und verlassenen Gliedern der Kirche etc., speziell die Pflege der Gefangenen in den Gefängnissen und außerhalb derselben etc., in jeder Beziehung zugleich mit aufnehmend das Geschichtliche und Statistische rücksichtlich dieser Bestrebungen etc." (Wichern 1958, Band 4/I, S. 289).
Als besonderer Zweig dieser Ausbildungsstufe sah Wichern eine spezielle praktische Anleitung für diejenigen Brüder vor, welche später ein Rettungshaus leiten wollten, "um sie mit dem Verwaltungswesen derselben und den allgemeinen dabei vorkommenden Beziehungen bekannt zu machen ... und zum Halten von Hausandachten vorzubereiten" (a.a.O.). Von Wichern sind zu diesem Teil der Ausbildung umfangreiche Vorlesungsreihen erhalten, die im Brüderunterricht vorgetragen wurden, so z.B. zur "Pädagogik für das Rauhe Haus" (1841 - 1845), zur "Christlichen Erziehungs- und Unterrichtslehre" (1845/46) und zur "Erziehung zur Arbeit" (1867) sowie ein "Entwurf zum Unterricht über Innere Mission" (1853/54).
Noch deutlicher zeigt sich das Entstehen neuer sozialer Berufe im Rauhen Haus aber zweifellos bei der Gehilfenausbildung, da hier aufgrund der späteren Tätigkeit eine völlige Loslösung vom Lehrerberuf erfolgen konnte. Während Wichern jedoch den Beruf des Hausvaters sehr umfangreich beschrieb, ist zur theoretischen Gehilfenausbildung nur wenig bekannt. In der "Nachricht über das Gehilfen-Institut" aus dem Jahr 1843 unterschied Wichern hinsichtlich der Ausbildung der Zöglinge zwischen einer "ersten Hauptabteilung" für zukünftige "Hausväter" und "Vorsteher" von Rettungsanstalten mit der oben beschriebenen vierjährigen Ausbildung und einer "zweiten Hauptabteilung" für "Gehilfen", die in einer dem Unterrichtskursus zum Hausvater angelehnten, allerdings auf 1½ bis 2 Jahre zeitlich verkürzten, theoretischen und praktischen Berufsausbildung durchgeführt wurde. Der grundlegende Theorieunterricht für angehende Gehilfen, die keinen Unterricht zu erteilen hatten, beschränkte sich Wichern zufolge "auf das Elementarische und das nötige Verständnis über die heilige Schrift und spezielle Anleitung für den seelsorgerischen Umgang mit Kindern" (Wichern 1958, Band 4/I, S. 214).
Männlichen Bewerbern für die Innere Mission standen bis zur Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 weitere Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung: So erschuf Wichern neben Hausvätern und Gehilfen für Rettungshäuser, beispielsweise mit dem "Gefängnisaufseher" und dem "Kolonistenprediger", weitere soziale Berufe. Das Wirken in Hamburg, das sich zunächst auf die Rettungshausbewegung beschränkte, zunehmend aber immer weitere Arbeitsfelder der Inneren Mission umfasste, zog in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten zudem die Gründung weiterer Ausbildungseinrichtungen für Heimerzieher nach sich.
Angemerkt werden sollte zuletzt, dass Wichern mit seinem Rauhe Haus als historische Wurzel nicht nur des Erzieherberufes, sondern darüber hinaus auch der heutigen Ausbildung zum Diplom-Sozialpädagogen bzw. Diplom-Sozialarbeiters gesehen werden darf. So wurde im Rauhen Haus bei Hamburg bereits in der Weimarer Zeit eine Wohlfahrtspflegerschule eingerichtet, deren weitere Entwicklung zur heutigen Evangelische Fachhochschule führte (8). Wichern beeinflusste damit nachhaltig die geschichtliche Entwicklung unseres heutigen Ausbildungssystems für soziale Berufe. Er gilt ohne jeden Zweifel als eine der großen Persönlichkeiten in der Geschichte sozialer Berufe.
Anmerkungen
(1) Vgl. zur Geschichte der Heimerzieher ausführlich Amthor 2003, S. 133ff., 271ff., 371ff. und 426ff.
(2) Zu den Veröffentlichungen von Wichern siehe das von Meinhold 1958ff herausgegebene mehrbändige Werk, hier insbesondere die Bände 4/I und 4/II. Siehe zum Wirken Wichern ferner Hauss 1995, S. 103ff., Röper 1976, S. 185ff., Scherpner 1979, S. 138ff., Beyreuther 1983, S. 88ff., Menck 1993, S. 65ff.
(3) Vgl. Hauss 1995, S. 141f. und Amthor 2003, S. 145ff. Siehe zu den Aufnahmebedingungen auch Hauss 1995, S. 134ff.
(4) Zur Ausbildung im handwerklichen Bereich siehe Hauss 1995, S. 137ff.
(5) Vgl. zu dem Modell der Arbeitsringe ausführlich Wichern 1958, Band 4/I, S. 281ff. sowie Hauss 1995, S. 138ff., zu den Tätigkeitsfeldern von Hausvätern und Gehilfen Wichern 1975, Band 7, S. 450ff., des Weiteren 1958, Band 4/I, S. 248ff.
(6) Vgl. Wichern 1958, Band 4/I, S. 202ff. und 229ff. Siehe ferner Hauss 1995, S. 143.
(7) Vgl. Wichern 1958, Band 4/I, S. 287ff., des Weiteren S. 210ff. sowie Hauss 1995, S. 142ff.
(8) Vgl. zur Berufsgeschichte der Diplom-Sozialpädagogen/Diplom-Sozialarbeiter sowie aller anderen sozialen Berufe der Gegenwart ausführlich Amthor 2003.
Literatur
Amthor, R.C.: Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit. Auf der Suche nach Professionalisierung und Identität. Weinheim 2003.
Beyreuther, E.: Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit. Berlin, 3. Aufl. 1983.
Derschau, D. von: Erzieher/-in. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit. Frankfurt/Main, 5. Aufl. 2002, S. 278-279.
Hauss, G.: Retten, Erziehen, Ausbilden. Frankfurt/Main 1995.
Maier, H. (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg i. Breisgau 1998.
Menck, P.: Geschichte der Erziehung. Donauwörth 1993.
Röper, F.F.: Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Göttingen 1976.
Scherpner, H.: Geschichte der Jugendfürsorge. Göttingen, 2. Aufl. 1979.
Wichern, J. H.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Meinhold, P.. Band 1: Die Kirche und ihr soziales Handeln (Grundsätzliches und Allgemeines) (1962); Band 2: Die Kirche und ihr soziales Handeln (Grundsätzliches und Allgemeines) (1965); Band 3/1: Die Kirche und ihr soziales Handeln (1968); Band 3/II: Die Kirche und ihr soziales Handeln (1969); Band 4//I: Schriften zur Sozialpädagogik (Rauhes Haus und Johannisstift) (1958); Band 4/II: Schriften zur Sozialpädagogik (Rauhes Haus und Johannisstift) (1959). Band 5: Kleinere Aufsätze - Buchbesprechungen. Nachrufe - Nachträge (1971). Band 6: Die Schriften zur Gefängnisreform (1973); Band 7: Die Schriften zur Pädagogik (1975); Band 8: Der Briefwechsel (Zur Brüdergeschichte) (1980); Band 9: Der Briefwechsel mit Externen (1988a); Band 10: Register (1988b). Berlin 1958ff.