Manfred Berger
Das Großheppacher-Mutterhaus, dessen Diakonissinnen noch heute in vielen Feldern der Sozialpädagogik (u.a. in Kindergärten, Kinderhorten und Kinderheimen sowie einer Fachschule für Sozialpädagogik) tätig sind, war das Lebenswerk von Mutter Wilhelmine Canz. Den Keim ihres Schaffens bildete eine 1855 ins Leben gerufene "Kleinkinderpflege" (Kleinkinderschule) in Großheppach, einem Dorf im schwäbischen Remstal. Angeregt dazu wurde sie von Mutter Julie Jolberg, deren Ausbildungsanstalt im badischen Nonnenweiler die 34-jährige Wilhelmine Canz besucht hatte. Schon bald trug der Keim reiche Frucht. Die einstige Kleinkinderschule erblühte zu einem umfangreichen sozial-caritativem Werk. Bereits im Mai 1856 trat die erste Lernschwester des Mutterhauses ein, kurz darauf folgte die zweite. Der Zuwachs war so groß, dass Mutter Canz schon im Spätherbst 1859 ein größeres Haus mieten musste, um die lernwilligen Mädchen und Frauen unterzubringen:
"Im Todesjahr von Wilhelmine Canz zählten sich 349 Schwestern zur Großheppacher Schwesternschaft. 260 Schwestern waren auf sogenannten 'Stationen', also Kindergärten der einzelnen Gemeinden eingesetzt, 14 Schwestern dienten in anderen Einrichtungen, 42 Schwestern waren im Ruhestand, 22 Lernschwestern wohnten in Großheppach, 4 Schwestern waren leidend und sieben beurlaubt" (Großheppacher Schwesternschaft 1991, S. 7).
Für ihr Werk wurde Wilhelmine Canz auf Anraten der württembergischen Königin Olga, Tochter des russischen Zaren Nikolaus I., mit dem "Olga-Orden" geehrt, einer Auszeichnung für soziales Engagement in Kriegs- und Friedenszeiten, die König Karl 1870 gestiftet hatte.
Friederike Wilhelmine Gottliebin Canz wurde am 27. Februar 1815 in Hornberg/Schwarzwald geboren. Ihre Eltern, der Oberamtsarzt Gottlieb Canz und seiner Ehefrau Christine Wilhelmine, geb. Cronmüller, hatten noch einen Sohn sowie eine ältere Tochter aus erster Ehe des Vaters. Die Familie verlor den Vater im Jahre 1824. Trotz der wirtschaftlichen Notlage ließ die Mutter den Kindern eine solide schulische Ausbildung zukommen.
Beeinflusst von ihrem älteren Bruder Karl, einem begeisterten Hegelianer, der sich später zum pietistisch geprägten Theologen entwickelte, befasste sich die junge Wilhelmine mit philosophischen und theologischen Fragen. Frucht dieser Zeit war ihr dreibändiger Roman "Eritis sicut Deus" (Ihr werdet sein wie Gott), den sie anonym im Jahre 1853 veröffentlichte:
"Das Werk ist gespickt mit Erörterungen und Gesprächen über Ästhetik, Moral und Theologie. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte eines Ehepaares: Der Mann ist bekennender Verfechter der Hegelschen Philosophie, die künstlerisch begabte Frau überzeugte Pietistin. In mehreren visionären Erlebnissen, sagte Wilhelmine Canz später, habe sie unmittelbar von Gott den Auftrag erhalten, dieses Buch zu schreiben" (Kölbl 2001, S. 4).
Zugleich verspürte Wilhelmine Canz den immer stärker werdenden Wunsch nach Gründung einer "Kleinkinderpflege", dem Jesus -Wort entsprechend: "Lasset die Kinder zu mit kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes" (Großheppacher Schwesternschaft 1991, S. 5). Sie betrachtete die vorschulische Institution weitgehend als fürsorgerische Einrichtung für Kinder aus benachteiligten sozialen Verhältnissen, um sie vor den Gefahren der Verwahrlosung zu bewahren. Zugleich sollten die Kinder das Gute, das ihnen zuteil wurde, in ihre Familie hineintragen. In Bischoffingen am Kaiserstuhl, wo sie den Pfarrhaushalt ihres Bruders führte, verwirklichte Wilhelmine "in der Revolutionszeit 1848/49 den Plan der Gründung einer Kinderschule ... Wilhelmine Canz sammelte mit ihrer Nichte Amalie Rohde und einer Kinderschwester aus Dinglingen bei Lahr im Hof und in der Scheune des Pfarrhauses die Kinder um sich" (Bautz 1990, Spalte 1917).
Nach dem Tod ihres Bruders 1853 ging sie zu Verwandten in Göppingen. Schließlich fand Wilhelmine Canz in Großheppach ein kleines Haus und errichtete dort eine "Kleinkinderpflege". Der Anstalt folgten bald weitere, so dass in Städten und Dörfern zahlreiche Kinderpflegen gegründet und mit Schwestern aus dem Mutterhaus besetzt wurden.
Den pädagogischen Schwerpunkt der "Kleinkinderpflege" bildete eindeutig der religiöse Auftrag. Dazu vermerkte Mutter Wilhelmine Canz: "In der Kinderpflege sollte ein Anfang von dem gemacht werden, worauf später Schule und Kirche weiterbauen soll, daß das, was in der Taufe auf die Kinder gelegt wurde, nun auch in sie hineingelegt wird. Das Weiterbauen wird bei redlichem Willen der Geist Gottes besorgen" (zit. n. Großheppacher Schwesternschaft 1991, S. 42).
Die Hausmutter befasste sich auch mit Friedrich Fröbels Werken und Schriften - und das durchaus kritisch, wie ihre Äußerung von 1899 in der damaligen renommierten Fachzeitschrift "Die Christliche Kleinkinderpflege" (die noch heute als "Theorie und Praxis der Sozialpädagogik" existiert) zeigt:
"Ich habe mir später auch das Fröbel-Buch mit der Beschreibung der 'Gaben' und der Beschäftigungen gekauft und die Fröbelkästchen angeschafft, wir nehmen von den Beschäftigungen, was sich bei größerer Kinderzahl brauchen läßt. Aber die philosophischen Voraussetzungen und Schlüsse ließ ich dabei bei Seite. Fröbel hat nur zur ersten Gabe der 6 Bällchen mit den 'Grund- und Mischfarben' nicht weniger als 100 Spielliedchen in einem Extrabändchen zugegeben, ich fand darin nur wenige, die des Auswendiglernens wert waren.
Dekan Kübel ... bat mich einst um meine Fröbelbücher ... Bei der Zurückgabe schrieb er mir, er sei erstaunt über die flache Nüchternheit der Sache, die zwar korrekt beim untersten anfange, aber mager, phantasielos dahin laufe.
Mutter Jolberg erzählte mir, Fr. von Marenholtz sei auch einmal in Nonnenweier gewesen und habe da u.a. gesagt, wie schon das kleine Kind, das in seinem Wägelchen liege, wenn man an den Bogen desselben einen Ball an einer Schnur befestige, nach dem es daran zappelnd langen konnte, in diesem Ball schon die Grundform der Welt vor sich habe u.s.f.
Das Gute wollen wir nehmen, aber die Augen offen halten und die Hauptsache auch als solche auf dem Leuchter halten" (Canz 1899, S. 37).
Die Fröbel-Baukästchen interpretierte Mutter Canz, als einen "richtigen und hübschen Bildungsstoff für Kinder, "natürlicher in ihrem Schnitt als die immerhin auch schöne Formen gebenden Fölsing-Kästchen (die seinerzeit überwiegend in den evangelischen "Kleinkinderpflegen" verbreitet waren; M.B.). Die letzteren reizen zum Nachdenken; aber bei ihnen muß das Bauen gleich von vornherein als Wissenschaft getrieben werden, was doch schon etwas über das Natürliche hinausgeht, während der natürliche Baustein auch dem kleinen Kind bald handlich wird" (zit. n. Großheppacher Schwesternschaft 1991, S. 44).
Neben der pädagogischen Verantwortung für die vielen von den Großheppacher Diakonissinnen geführten Kleinkinderpflegen stand Wilhelmine Canz bis zum Jahre 1896 dem Diakonissen-Mutterhaus vor. Sie hat mit ihrem Lebenswerk maßgebende Impulse gesetzt, die insbesondere die evangelische "Kleinkinderpflege" geprägt haben. Mutter Canz starb nach längerem schweren Leiden am 15. Januar 1901 in Großheppach.
Literatur
Bautz, F. W. (Hrsg.): Canz, Wilhelmine, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 1, Herzberg 1990
Bornhak, H.: Wilhelmine Canz. Die Gründerin des Mutterhauses Großheppach, Reutlingen o. J.
Canz, W.: Ein bedeutsames Urteil über Fröbel, in: Die Christliche Kleinkinderpflege 1899/H. 5
Drehmann, O.V.: Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Mutterhauses für Kleinkinderpflegerinnen in Großheppach zugleich zum Gedächtnis der Gründerin des Hauses, Fräulein Wilhelmine Canz, Stuttgart 1906
Großheppacher Schwesternschaft (Hrsg.): Nach-Denken: 100. Gruß der Großheppacher Schwesternschaft, Stuttgart 1991
Kölbl, A.: Ein Leben für Gott und die Kinder. Vor 100 Jahren starb Wilhelmine Canz, Gründerin der Großheppacher-Schwesternschaft, http://www.zvw.de/aktuell/2001/01/11/canz.htm
Schauer, H.: Frauen entdecken ihren Auftrag. Weibliche Diakonie im Wandel eines Jahrhunderts, Stuttgart 1962
Schäfer, G.: Wilhelmine Canz. Keine Halbheiten im Dienst vor Gott und die Menschen, in: Knorr, B./Wehling, E. (Hrsg.): Frauen im deutschen Südwesten, Stuttgart 1993